Sinnsuche

Medien zwischen Vermittlung und Orientierung

Alexander Grau

Dr. Alexander Grau ist freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

Am Anfang der Medienwissenschaft stand die Medienwirkungsforschung. Deren erste systematische Arbeiten stammten von Werbefachleuten, die sich für die Manipulationsmöglichkeiten des Massenpublikums des Industriezeitalters interessierten. Zwar hatten auch die Vordenker moderner Public Relations den Nutzen der Medienrezipienten im Auge, doch mit der eigentlichen Mediennutzung beschäftigten sich Medienwissenschaftler erstmals anhand von Unterhaltungsformaten. Entsprechend kam man zu dem noch im Digitalzeitalter gültigen Ergebnis, dass Menschen Medien nutzen, um sich zu unterhalten, zu informieren, sich sozial zu integrieren oder um sich in andere Welten zu flüchten. Aus einer anthropologischen Perspektive leisten Medien jedoch mehr: Sie konstituieren Sinn und schaffen temporäre Ordnung.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 4/2017 (Ausgabe 82), S. 16-19

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Manchmal ist die Etymologie eines Wortes eben doch hilfreich. Beispielsweise bei dem Begriff „Medien“. Der leitet sich von dem lateinischen Wort „medium“ ab, und das bedeutet bekanntermaßen „Mitte“, „das Mittlere“ oder auch „das Dazwischenliegende“.

Allerdings taucht im klassischen Latein der Begriff „medium“ im genannten Sinne gar nicht auf. Denn streng genommen handelt es sich hier um einen Neologismus, der viele Jahrhunderte später gebildet wurde – nämlich von dem mittelalterlichen Gelehrten Thomas von Aquin (um 1225-1274). Der übersetzte die Schriften des Aristoteles ins Lateinische. Bei der Übertragung der Schrift De anima stand er vor dem nicht geringen Problem, einen adäquaten Ausdruck für den griechischen Ausdruck μεταξύ (metaxu) finden zu müssen. Das bedeutet „zwischen“ – und Aristoteles verwendet ihn dort, wo er die menschliche Wahrnehmung erklären will. Für diese bedarf es nämlich eines Abstandes zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen. Sonst gäbe es weder das eine noch das andere. Und genau diesen Abstand nennt Thomas von Aquin in seiner lateinischen Übersetzung „medium“.

Diese Übersetzung ist jedoch missverständlich, da sie suggeriert, dass es zwischen dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmenden ein „Drittes“ gibt, ein Medium. Also suchte seit dem 13. Jahrhundert das wissenschaftliche Europa nach einem Vermittlungsstoff, einem Äther, der die Wahrnehmung der Welt erst möglich macht. Nebeneffekt dieses Missverständnisses: Der Aquinate schenkte der Welt die Medien und die Medientheorie noch gleich dazu. Denn als sich im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts des 19. Jahrhunderts das ominöse „Dritte“, nach dem abendländische Gelehrte, Alchemisten und Esoteriker über Jahrhunderte gesucht hatten, als Hirngespinst entlarvte, fand eine kommunikationstheoretische Bedeutungstransformation statt. Ein „Medium“ war nun nicht mehr ein unbekannter Stoff mit geheimnisvollen Übertragungseigenschaften, sondern etwas, was kommunikative Inhalte zwischen Menschen vermittelt: ein Buch etwa oder eine Zeitung, später ein Telegraf oder das Radio. Das Ergebnis dieser Bedeutungsverschiebung war die Trennung von übertragenem Inhalt und Übertragungsmedium. Erst Marshall McLuhan wird mit seinem berühmten „the medium is the massage“ diesen Dualismus infrage stellen.

Grundlegend für die Medienwissenschaften, wie sie sich nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in Form von Werbe- und Propagandatheorien etablierten, war aber der aquinatische Medienbegriff in seiner modernen Transformation. Demnach sind Medien Techniken zum Speichern und Übermitteln von Inhalten aller Art. Sie stehen als ein Drittes zwischen Sender und Empfänger.
 

Werbung und Propaganda

Im Fokus der ersten Medienwissenschaftler stand das, was wir heute Medienwirkungsforschung nennen. Das hatte zwei Gründe: einen kultur- und einen wirtschaftshistorischen. Insbesondere in Europa wurde die Entwicklung moderner Massenmedien im 19. Jahrhundert begleitet von einer tiefen Skepsis vor allem des Bildungsbürgertums gegenüber der sich formierenden Massengesellschaft. Anknüpfend an liberale Theoretiker wie John Stuart Mill oder Alexis de Tocqueville befürchtete man eine Herrschaft der Massen, einen Terror der durch die neuen Massenmedien manipulierten öffentlichen Meinung und eine damit einhergehende Verflachung der Kultur.

Diese bürgerlichen Vorbehalte gegen die moderne Massengesellschaft kulminierten symbolisch in einem der meistgelesenen Bücher seiner Zeit, der Schrift Psychologie der Massen (1895) des Arztes Gustave Le Bon (1841‑1931). Für Le Bon zeichnet sich die Masse vor allem durch intellektuelle Beschränkung und emotionale Enthemmtheit aus. Die positiven Eigenschaften des Einzelnen würden in ihr ausgeblendet, das Triebhafte, Unbewusste und Emotionale gefördert. Entsprechend sei die Masse leicht durch Vereinfachung und Emotionalisierung zu manipulieren – Vorwürfe, die bis in unsere digitale Gegenwart die Diskussion bestimmen.

Doch die bürgerliche Gesellschaft ist traditionell nicht nur von kulturellen Verfallsfantasien gekennzeichnet, sondern auch von ökonomischen Interessen. Entsprechend waren es die ersten Werbestrategen wie etwa der Kunstmaler, Bühnenbildner und Vordenker moderner Public Relations Hans Domizlaff (1892‑1971), die Strategien und Techniken moderner Massenmanipulation entwarfen (vgl. Grau 2012, S. 74). Mittels eingängiger, erhabener und emotionalisierender Symbole, so Domizlaff, solle die Werbung auf die unbewussten Affekte des Menschen in der modernen Massengesellschaft zielen.

Gleichwohl erkannte Domizlaff als einer der Ersten, dass Werbung und Propaganda nicht allmächtig sind. Zwar ist auch für ihn das moderne Individuum ein triebgesteuertes Herdentier. Dennoch ist der Mensch nicht grenzenlos manipulierbar, da jedes Individuum auch immer seinen eigenen, persönlichen Nutzen verfolgt. Und was nützlich ist, das hängt von sehr unterschiedlichen persönlichen Faktoren und Umständen ab. Das macht Werbung und Propaganda so schwierig und sorgt dafür, dass niemals alle Menschen erreicht werden.

Genau an diesem Punkt setzt zur gleichen Zeit, jedoch auf der anderen Seite des Atlantiks, ein anderer bedeutender Theoretiker der massenmedialen Manipulation an: Edward L. Bernays (1891‑1995). 1928 veröffentlichte er eines der wichtigsten (aber leider wenig bekannten) Bücher des 20. Jahrhunderts: Propaganda.

Darin umreißt er die Bedeutung der Public Relations für moderne Gesellschaften. Gleich der erste Satz lautet unmissverständlich:

Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften.“

Für Bernays ist das wohlgemerkt kein Manko. Im Gegenteil, es ist eine schlichte Notwendigkeit. Der Grund: „Je komplexer unsere Zivilisation wird und je deutlicher sich zeigt, wie nötig die im Hintergrund arbeitenden Führungsinstanzen sind, desto konsequenter werden die technischen Mittel zur Steuerung der öffentlichen Meinung entwickelt und eingesetzt.“

Bernays, Neffe von Sigmund Freud, war in den USA aufgewachsen und hatte daher ein unverkrampftes, demokratisches Verständnis zur Propaganda. Wie Domizlaff war ihm klar, dass Werbung zwar auf die Masse zielt, dabei jedoch den Einzelnen und dessen Interessen im Auge haben muss. Die Mediennutzung des Individuums blendete er jedoch weitgehend aus. Diese wurde erstmals wissenschaftlich von einer Frau in den Blick genommen: Herta Herzog (vgl. Grau 2013).
 

Nutzen und Belohnung

Herzog widmete sich einer einfachen Frage: Weshalb, wie und zu welchem Zweck nutzen Menschen eigentlich Medien?

Wie schon Domizlaff und Bernays hebt Herzog dabei vor allem auf den Nutzen der jeweiligen Medienrezipienten ab. Anhand von Untersuchungen zu den Hörern von Radio-Soaps kommt sie Anfang der 1940er-Jahre zu dem Ergebnis, dass diese vor allem ihren weiblichen Hörern emotionale Entlastung bieten, die Flucht aus der Wirklichkeit ermöglichen und einen ideologischen Rahmen zur Verfügung stellen, der den Umgang mit der Realität erleichtert. Der Uses-and-Gratifications-Ansatz war geboren.

Ideologisch beeinflusst war das Analysevokabular Herzogs vom Denken der Emigranten der Frankfurter Schule, namentlich von Theodor W. Adorno, der bis 1941 an besagtem Radioprojekt mitarbeitete: Die Daily Soaps böten ihren Hörerinnen demnach eine Pseudokatharsis, ermöglichten das Finden eines Sündenbocks für die eigene missliche Situation und eine Flucht aus der Wirklichkeit. Herzog hat diesen kulturpessimistischen Unterton in ihren späteren Arbeiten z.T. revidiert.

Einige Ungereimtheiten auch späterer Uses-and-Gratifications-Ansätze ergeben sich aus der nicht immer klaren Unterscheidung zwischen Gründen und Motiven. Denn Gründe liegen in der Vergangenheit und sind, folgt man dem Wortsinn, tatsächlich bewusst begründbar, also rational. Motive hingegen liegen eher in der Zukunft, sie bezeichnen ein Ziel, das dem Betroffenen nicht immer begrifflich klar vor Augen stehen muss. Herzogs Interesse galt also eher den Motiven als den Gründen für die jeweilige Mediennutzung.

Dennoch bleibt es das Verdienst von Herta Herzog, erstmals dezidiert die unterschiedlichen Motive für die Nutzung spezifischer Medienformate untersucht zu haben und den Rezipienten nicht als hilflosen Konsumenten und manipuliertes Opfer medialer Allmacht aufzufassen. Zugleich verwundert es nicht, dass die von ihr und späteren Wissenschaftlern (wie etwa Elihu Katz und David Foulkes) herausgearbeiteten Gründe und Motive der Mediennutzung vergleichsweise trivial erscheinen: Unterhaltung, Information, emotionale Kompensation und soziale Interaktion.

Denn zu welchem anderen Zweck als den genannten Gründen sollten Menschen Medien nutzen? Noch der kürzlich verstorbene Medienwissenschaftler Denis McQuail (1935‑2017) arbeitete mehr oder minder mit diesen Motiven.

Insbesondere der Aspekt der emotionalen Kompensation – McQuail nennt es Bedürfnis nach persönlicher Identität – ist zudem anfällig für Unterstellung und intellektuelle Herabwürdigung, da er ein menschliches Manko markiert. Sich zu unterhalten, sich zu informieren oder popkulturell gesprächskompetent zu sein, sind gesellschaftlich anerkannte Ziele, die die allermeisten Menschen bewusst oder unbewusst verfolgen. Doch die Suche nach persönlicher Identität, nach Orientierung oder gar das Hinträumen in eine Scheinwelt klingt defizitär. Menschen, die Medien zu diesen Zwecken nutzen, sind im Kern unterentwickelte, nicht gereifte Persönlichkeiten, die – so die Unterstellung – die Medien benötigen, um sich in Traumwelten zu flüchten und ihre eigene, mediokre Existenz zu übertünchen.

Das mag, auch in dieser Drastik, mitunter zutreffen. Doch diese eskapistische Mediennutzung darf nicht den Blick dafür verstellen, dass Medien ganz grundlegend Halt und Orientierung bieten oder zumindest vermitteln.
 

Orientierung und Sinnstiftung

Medien sind ein Teil unserer Kultur. Manche würden vielleicht sogar sagen: Sie sind unsere Kultur. Denn nicht nur Medien sind Medien, sondern ein Medium ist alles, was Menschen dazu benutzen, um Kontakt mit ihrer Umwelt aufzunehmen, sie zu ergründen, zu verstehen oder zu verändern. In diesem umfassenden Sinne ist auch schon ein Faustkeil, ist jedes Artefakt zunächst ein Medium, das zwischen dem Menschen und der Welt oder auch anderen Menschen in irgendeiner Weise vermittelt.

Mit Medien in diesem allerweitesten Sinne ordnet der Mensch seine Welt. Umgeben von Chaos und absoluter Kontingenz ist jedes Artefakt, auch wenn es zunächst einem rein pragmatischen Zweck dient, immer auch ein Ausdruck des Versuchs, Ordnung und Übersicht zu schaffen. Jedes Kulturprodukt, jedes Medium hat neben seinem Nutzwert einen metaphysischen Mehrwert. Es ist Ausdruck dessen, was Albert Camus die „metaphysische Revolte“ genannt hat: also der Versuch des Menschen, der amorphen Sinnlosigkeit der Welt eine sinnstiftende Struktur einzugravieren. Jeder Wolkenkratzer, jeder Park, jede Straße ist Zeugnis dieses menschlichen Bedürfnisses.

Das Tragische an diesem Unterfangen liegt darin, dass dieser Versuch zumindest partieller und temporärer Sinngebung und Ordnung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Es ist eine grandiose Selbsttäuschung. Denn der Versuch, der Welt mittels menschlicher Manipulation Sinn und Ordnung abzupressen, ist allzu offensichtlich menschlich und damit Illusion.

Doch der Schein ist erträglicher als die nackte Wahrheit. Niemand hat das klarer auf den Punkt gebracht als – natürlich – Friedrich Nietzsche, der in einem nachgelassenen Fragment notierte:

Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, ‚metaphysischer‘ als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: Die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz.“

Also klammert sich der Mensch an seine Sinngebungskonstruktionen, wohl wissend, dass sie Trug sind. Das ist die Tragödie der Moderne. Denn Illusionen tragen nur, solange keiner weiß, dass sie Illusionen sind. So entsteht in der aufgeklärten Moderne eine Kluft zwischen Sinngebungswillen und erkannter Sinnlosigkeit. In diese Lücke springen die Medien im engeren Sinne, also Techniken zum Speichern und Übermitteln von Inhalten, die es ermöglichen, Sinngebungsangebote in der Endlosschleife zu rezipieren, zu reflektieren und so qua Dauermeditation über menschliche Befindlichkeiten eine letzte Form von quasi metaphysischer Sinngebung zumindest zu simulieren.

Anders formuliert: Die Welt des Medialen, die Produkte der globalen Medienindustrie generieren ein Orientierungsangebot für den Menschen der Moderne, der im Innersten sehr wohl weiß, dass es eine letzte Orientierung nicht gibt. Auch deshalb verlief der Aufstieg der Massenmedien zeitgleich mit der Zerstörung traditioneller Orientierungsangebote, der Säkularisierung der europäischen Gesellschaften und deren weitgehender Dechristianisierung.

Das zeitgenössische Medienrauschen ist so gesehen ein Sinnderivat einer spätmodernen Kultur, die an keinen Sinn mehr glaubt, sich dafür aber ein umso intensiveres Sinnplacebo in Form einer digitalen Medienwelt geschaffen hat. Wenn es nichts Sinnstiftendes mehr gibt, über das der Mensch kommunizieren könnte, dann wird die Kommunikation selbst zur Sinnstiftung und die Kommunikation über Kommunikation zum Orientierungsangebot. Man liegt daher sicher nicht falsch, wenn man die digitale Dauerkommunikation als das Gebet des modernen Menschen begreift und das Smartphone als sein Gebetsbuch.

Weder versteht man die Anatomie moderner Medien richtig noch ihre Nutzung durch den Menschen, wenn man aus dem Auge verliert, dass sie bei allen vorgeschobenen Gründen und Nützlichkeiten auch immer Orientierungspraktiken sind. Mit anderen Worten: Transzendenzersatz.
 

Literatur:

Grau, A.: Massen in Zahlen fassen. Paul F. Lazarsfeld und die Anfänge moderner Wirkungsforschung. In: tv diskurs, Ausgabe 61, 3/2012, S. 72-75

Grau, A.: Lohn und Nutzen. Herta Herzog und die Grundlagen der Gratifikationsforschung. In: tv diskurs, Ausgabe 65, 3/2013, S. 60-63