Shakespeare lässt grüßen

Zur Faszination der Serie GAME OF THRONES

Werner C. Barg

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Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.

Game of Thrones ist im April 2019 in die achte und finale Staffel gegangen. Die Serie hat sich zu einer der erfolgreichsten Serien weltweit entwickelt. Wie ist dieser Erfolg zu erklären? Worin liegt die Faszination an der Welt aus Feuer und Eis, die der Fantasy-Autor George R.R. Martin erfand und die von HBO als aufwendige Qualityserie verfilmt wurde?

Online seit 16.04.2019: https://mediendiskurs.online/beitrag/shakespeare-laesst-gruessen/

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Die Potenziale der Horizontale voll ausgenutzt

Der Begriff „Qualitätsserie“ ist eng mit dem Namen HBO (Home Box Office) verbunden. Der US-Bezahlsender hat seit Ende der 1990er-Jahre das Konzept der Fernsehserie durch das konsequente Ausloten der erzählerischen Potenziale der sogenannten horizontalen Erzählweise erneuert und revolutioniert. Im Unterschied zur vertikal erzählten Serie, in der die Handlung jeder Episode abgeschlossen ist, wird in der horizontalen Erzählweise die Geschichte von Folge zu Folge forterzählt, die Handlung über die ganze Staffel, schließlich über die gesamte Serie fortgesetzt.

Seit 2011 ist Game of Thrones (GoT) im Abonnements- und Privatfernsehen auf Sendung. In den bislang sieben Staffeln der Serie haben die Autoren David Benioff und D.B. Weiss mit einem Team aus weiteren sieben Autorinnen und Autoren ein ganzes Universum an Figuren, Nebenfiguren, Handlungssträngen und Nebenplots entwickelt und diese in sehr unterschiedlichen Fantasiewelten auf dem fiktiven Kontinent Westeros spielen lassen. Es gibt Könige, Lords, Ritter, unheimliche Schneewesen, Untote, rebellische Wildlinge, schließlich sogar feuerspeiende Drachen. Ursprünglich ausgedacht hat sich die Mittelaltersaga der US-Fantasy-Autor George Raymond Richard Martin in seiner Romanreihe Das Lied von Eis und Feuer, die in bislang fünf Bänden (in der Originalfassung) erschienen ist.

Kaum eine andere Serie hat so viel Personal präsentiert wie Game of Thrones. Es braucht schon die Rezeption von vier bis fünf Episoden der ersten Staffel, um in die ferne mittelalterliche Welt der Serie richtig einzutauchen und zu verstehen, wie die Figuren in den unterschiedlichen Herrscherfamilien zusammenhängen, die da um die Macht des Eisenthrones kämpfen.

So nutzt Game of Thrones nicht nur in der Fülle mehr oder minder expliziter Sexszenen, die oft auch mit Gewalt einhergehen, die Potenziale der Horizontale mehr denn je in einem Serienformat aus, sondern löst so radikal wie selten die gängige Mittelpunktdramaturgie auf, die sich auf die Entwicklung einer oder weniger Hauptfiguren konzentriert. Die Serie kann, anders als Fantasy-Kinoformate, schon aufgrund des langen Atems ihrer Erzählung eine ganze Welt mit vielen, sehr unterschiedlichen Charakteren fiktional aufbauen.
 


Das Lied von Leben und Tod

Wenn in Folge 9 der ersten Staffel Ned Stark, rechte Hand des Königs und nach dessen Tod Interimskönig, einer Intrige am Hofe in Königsmund zum Opfer fällt und schließlich hingerichtet wird, dann mag dies der kundige Seriengucker noch als schockierenden Cliffhanger hinnehmen. Doch wenn dann in den folgenden Staffeln in immer kürzeren Intervallen positiv wie negativ besetzte Figuren den Serientod sterben – bislang an die 20 Zentralfiguren in sieben Staffeln –, dann führt das schon zu einer großen Verunsicherung bei den Zuschauerinnen und Zuschauern, an welche Figur sie Emotionen anlagern oder eben nicht. Aber da zum Leben nun einmal auch der Tod gehört, unterstreichen die Serientode so vieler geliebter oder ungeliebter Figuren nur den Realismus des Lebensentwurfs, den die Handlung von Game of Thrones liefert. Auch im echten Leben könnte der Tod jederzeit eintreffen, das Leben hat zwangsläufig einen tödlichen Ausgang. Die Unsicherheit der Serienrezeption schließt sich hier also kurz mit der Unsicherheit, mit der jeder Mensch zu leben lernen muss. Die Lust des Autors George R.R. Martin, die fiktiven Figuren in seinem erfundenen Universum an- und auszuknipsen wie Lampen, macht seine Bücher und die Serie fürs Publikum aber auch deshalb attraktiv, weil sie Spannung und Aufmerksamkeit erzeugt.
 

Ambivalente Figuren, komplexe Welt

Hinzu kommt, dass die Figuren in diesem angeblich so fernen Universum sich doch sehr zeitgemäß verhalten. Loyalität ist für die meisten ein Fremdwort. Das eigene Ich steht im Zentrum. Um sich einen Vorteil zu verschaffen, sind fast alle Figuren bereit, sofort die Seiten zu wechseln. So können die unglaublich vielen Protagonistinnen und Protagonisten in den Traditionen einer ständischen mittelalterlichen Gesellschaft doch sehr komplexe Facetten einer Persönlichkeit entwickeln und werden dadurch sehr moderne Figuren im mittelalterlichen Ambiente. Keiner ist sicher, jede und jeder kann jederzeit alles verlieren. Damit trifft die Serie ganz sicher ein Lebensgefühl unserer Zeit, besonders auch der jungen „Generation Praktikum“. Aber das Gefühl gesellschaftlicher Verunsicherung und sozialer Entwurzelung, das viele Figuren auf dem Kontinent Westeros plagt, können auch viele Menschen in vermeintlich abgesicherten Mittelstandsgesellschaften in Zeiten des globalen Turbokapitalismus immer mehr und besser nachvollziehen. „Auch wir bewegen uns in einer Zeit, in der keiner mehr einen Masterplan hat. Seit dem Ende der großen Blöcke 1989/90 leben wir in einer totalen Umbruchphase und es ist nicht klar, wie die Entwicklung weitergeht. Genau das spiegelt die Serie wider“, erläutert GoT-Forscher Markus May. „Die Protagonisten in Game of Thrones stehen vor ganz ähnlichen Problemen“ (May 2018). Auch die Themen, die in diesem komplexen Erzähluniversum verhandelt werden, sind universell: Liebe. Tod, Rache, Eifersucht, Verrat, Gier, Suche nach Glück, Harmonie, Streben nach Macht. Shakespeares Königsdramen lassen grüßen!
 

Hommage an Shakespeares Königsdramen

Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man die US-Serie Game of Thrones im Original schaut und überrascht feststellt, dass alle Figuren in einem etwas altmodisch klingenden, doch lupenreinen britischen Bühnenenglisch sprechen. Unwillkürlich fühlt man sich an die Königsdramen William Shakespeares erinnert. Die ausgefeilten, oft minutenlangen Dialogszenen, in denen Vergangenes und Zukünftiges, Geträumtes und Verdrängtes, Gelebtes und Erfundenes verhandelt werden, zeichnen die erzählerische Qualität der Serie aus und rekurrieren auf die Sprechweisen in den Dramen Shakespeares.

In Game of Thrones werden die universellen Themen der Menschheit nun aber ganz zeitgemäß gewendet. Der Kampf um die Herrschaft in den Sieben Königslanden auf Westeros vermutet Fantasyforscher Nathanael Busch passt „zur Weltlage … seit dem 11. September 2001: Es herrscht eine starke Bedrohungslage, Herrschaftsfragen sind unklar, es gibt komplizierte Intrigen, ungeliebte Verbündete und merkwürdige moralische Grundsätze“ (Busch 2016).
 

Genau kalkuliertes Produzentenkonzept

George R.R. Martin hat seine Romanserie schon in den 1990er-Jahren begonnen. Erst in den 2000er-Jahren hat HBO den Stoff aufgekauft und einen Serienweltbestseller daraus gemacht. Game of Thrones liegt ein Produktionskonzept zugrunde, das HBO schon zuvor erfolgreich bei anderen Serienformaten, etwa bei The Sopranos oder True Blood, erprobt hat: Man nehme ein populäres Genre, z. B. den Mafia-Gangsterfilm bei The Sopranos oder den Vampirfilm bei True Blood, übertrage es ins horizontale Serienerzählen und verbinde es mit Elementen aus anderen Genres, in True Blood etwa mit dem Melodram, dem Liebesfilm, aber auch mit dem Thriller, der Mystery sowie der Satire und der Gesellschaftskomödie. Genauso funktioniert der Genremix in Game of Thrones auch: Fantasy, seit Peter Jacksons Herr der Ringe-Verfilmung am Beginn des Jahrtausends höchst populär, mischt sich mit dem Abenteuer- und Ritterfilm, mit Drama, mit Mystery und Zombiefilm. Die Verbindung von grandiosen archaischen Landschaften und alten Städten, die die GoT-Macher in Irland und Schottland, aber auch in Spanien und in Kroatien fanden, mit Spezialeffekten, die für ein Serienformat ungewöhnlich aufwendig sind, runden das Serienkonzept ab. Mit sechs bis zehn Millionen Dollar Produktionskosten pro Folge war die Serie für HBO ein enormes finanzielles Risiko. Doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Die HBO-Macher haben die Zeitstimmung offenbar richtig eingeschätzt.
 

Die Vision der Brexiteers und Trumps dieser Welt wird skeptisch hinterfragt

Das Eintauchen in diese sich über jede Staffel weiter und neu entfaltende Welt ist faszinierend, die Rezeption trägt aber auch stark eskapistische Züge: „Hier wird das große Bedürfnis nach einer anderen Lebenswirklichkeit kommerzialisiert“, konstatiert der Mediävist Benedikt Klein im Gespräch mit dem „Welt“-Journalisten Louis Kittelmann.

Für diesen Eskapismus bietet sich das Mittelalter eben besonders an. Dabei ist nicht nur die große Sehnsucht nach einer überschaubaren identitätsstiftenden Lebenswelt ein Symptom, sondern vor allem die Vermarktung davon“ (Klein in Kittelmann 2018).

Das Raffinement der Erzählweise von Game of Thrones ist es nun aber, dass der Eskapismus nicht einfach nur vermarktet wird, vielmehr wird er kritisch hinterfragt. Die rückwärtsgewandte Sehnsucht von Teilen des Publikums, der global vernetzten Wirklichkeit von heute, die komplex ist und auch verwirrend, in eine mittelalterliche Welt mit klaren Regeln zu entfliehen, wird nur vordergründig bedient.

Auf den ersten Blick mag die Welt, die in Game of Thrones erschaffen wird, einer historischen Ausgabe jener Vision der Brexiteers und aller Extremnationalisten von heute ähneln: ein starkes Königreich, durch eine hohe Eismauer einerseits und durch schwarze Meere andererseits abgeschottet vom Rest der Welt, beherrscht von Lords, die von Herrschaft und nationaler Stärke träumen und darum kämpfen, absolut unkontrolliert und ohne Widerspruch regieren zu können. So wie Ned Stark: köpfen und geköpft werden.

Doch was bedeutet dieser extreme Nationalismus, diese Welt mit vermeintlich einfachen und überschaubaren Regeln, in der „oben“ und „unten“ klar geregelt zu sein scheinen? Die Autoren beantworten genau diese Fragen in jeder Staffel aufs Neue, indem sie vorführen, was für eine grausame Welt dies wäre: Herrscher, die unkontrolliert bleiben, sich untereinander mit Intrigen überziehen, und Beherrschte, die der Willkür und Gewalt der Herrschenden ausgesetzt sind. Fasziniert anschauen mag man diese Welt vielleicht schon, doch in ihr leben?

Auch was von der freien Meinung in solch einer Welt übrig bliebe, zeigt Game of Thrones eindrucksvoll. In einer der ersten Folgen gibt es einen Dialog zwischen Cersei Lannister, der Königsgattin, und dem Prinzen Joffrey Baratheon. Die beiden sprechen darüber, wie es wäre, wenn Joffrey dann einst selbst König sein wird. Cersei sagt ihm: „Eines Tages sitzt du auf dem Thron, dann erschaffst du deine eigene Wahrheit.“ Was in der Episode von 2011 heute als erstaunliche Prophezeiung der Trump-Präsidentschaft erscheinen mag, ist letztlich das Ergebnis der scharfen Analyse der GoT-Autoren, wie autoritär gesinnte politische Führer ihre Macht ausüben.
 

Fazit

Der US-amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell (1999) hat schon 1949 in seinem Buch Der Heros in tausend Gestalten den Nachweis zu führen versucht, dass in den alten Geschichten, in Märchen, Mythen etc. überall auf der Welt immer wieder ähnliche Figuren und Erzählmuster auftauchen: der jugendliche Held, der eine Schwäche hat, wie etwa Held Siegfried mit dem Lindenblatt, die weise Frau oder der weise Mann mit dem Zaubertrank, die intrigante Giftmörderin, der Verräter usw.

Campbell und nach ihm Storyanalysten wie Christopher Vogler (2018) sind dabei auch durch die Tiefenpsychologie C. G. Jungs (2017) inspiriert, der in unseren Träumen auch diese urmythologischen Figuren als Archetypen aufgehoben sah.

Game of Thrones – das wurde hier zu zeigen versucht – kann auf diese Urmythen und -figuren aufgrund seiner ausschweifenden horizontalen Erzählweise extrem zugreifen und modernisiert sie vor historischer Fantasykulisse.

Wenn Erfolgsserien wie Breaking Bad oder The Sopranos in der Tradition des psychologischen Romans des 20. Jahrhunderts stehen, so rekurriert Game of Thrones stark auf die Königsdramen William Shakespeares – ja, der englische Dichterfürst würde heute vermutlich für Game of Thrones schreiben.
 


Quellen:

Busch, Nathanael: „Game of Thrones“: Warum Mittelalter-Fantasy so fasziniert. In: www.wp.de, 03.04.2016 (letzter Zugriff: 15.04.2019)
Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt a.M. 19996
Jung, Carl Gustav: Die Archetypen und das kollektive Unbewußte. Gesammelte Werke 1 – 20.Ostfildern 20187
Kittelmann, Louis: Ein Mediävist erklärt uns „Game of Thrones“. In: www.welt.de, 15.10.2018 (letzter Zugriff: 15.04.2019)
May, Markus: „Die Serie trifft in besonderem Maße den Zeitgeist“. Wissenschaftler Markus May erklärt, wieso die Mittelaltersaga „Game of Thrones“ Millionen von Menschen fasziniert. In: www.donaukurier.de, 03.12.2018 (letzter Zugriff: 15.04.2019)
Vogler, Christopher: Die Odyssee der Drehbuchschreiber, Romanautoren und Dramatiker. Mythologische Grundmuster für Schriftsteller. Berlin 2018
 

Hinweis:

Im Blog der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) finden sich unter dem Schlagwort Game Of Thrones weitere Beiträge zum Thema.