Public Value

Gemeinwohl als Zielgröße im Medienmanagement

Timo Meynhardt, Eduard Frantz

Medienorganisationen – insbesondere öffentlich-rechtliche – haben eine hervorgehobene gesellschaftliche Funktion zu erfüllen. Wir stellen hier eine bedürfnisorientierte Public Value-Theorie vor (Meynhardt 2008; 2009), die den Public Value einer Organisation als ihren Beitrag zum Gemeinwohl versteht und auf Basis menschlicher Grundbedürfnisse definiert. Damit ließe sich der gesellschaftliche Wertbeitrag als eine Ziel- und Steuerungsgröße integrieren.1

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 25-28

Vollständiger Beitrag als:

 

Public Value – Aufgabe und Chance für mehr Relevanz

Immer häufiger und immer vehementer wird Public Value als Legitimationsgrund und Unterscheidungskriterium (Neumüller/Gonser 2013) für eine bevorzugte Behandlung von Medienangeboten herangezogen. Zuletzt wird dies in der Diskussion über die privilegierte Auffindbarkeit von Inhalten auf Benutzeroberflächen von (Medien‑)Plattformen und Endgeräten („Medienstaatsvertrag“ 20202) deutlich. Der Public Value-Gedanke verspricht einen zeitgemäßen und ordnenden Zugang zu Rolle und Aufgaben der Medien. Das gilt nicht länger nur für die Öffentlich-Rechtlichen. Auch für private Anbieter bieten sich darin Chancen – übrigens nicht nur im Mediensektor.

Damit treten immer stärker auch die Forderungen nach einer Public Value-orientierten Führung und Steuerung und die Fragen in den Vordergrund: Was macht einen gesellschaftlichen Wertbeitrag aus und wie kann er gemessen werden?

Im Medienmanagement gilt das von Mark H. Moore (1995) als normative Theorie des strategischen Managements im öffentlichen Sektor entwickelte Public Value-Konzept als maßgeblich (Gonser/Gundlach 2020). Als Pendant zum Shareholder Value-Ansatz gibt es dem Management im öffentlichen Sektor Managementprinzipien an die Hand, die statt an individualistischen Interessen an einem Wert für die Öffentlichkeit ausgerichtet sind. Damit ist aus strategischer Perspektive der Public Value fest im Blick. Aus gesellschaftlicher Sicht muss jedoch gefragt werden, worin der Wert für die Öffentlichkeit besteht.

Die bedürfnisorientierte Public Value-Theorie (Meynhardt 2008; 2009) versteht den Public Value einer Organisation als ihren Beitrag zum Gemeinwohl, der sich wiederum an menschlichen Grundbedürfnissen bemisst. Der Wert für die Öffentlichkeit wird als Beitrag zum Gemeinwohl erfasst, weil sich erst daran – ganz in der europäischen Tradition zur Rechtfertigung staatlichen Handelns – erweist, was dem größeren Ganzen dient. Die Qualität des Öffentlichen ist eine Gemeinwohlqualität.
 

Was verstehen wir unter Gemeinwohl und einem gesellschaftlichen Wertbeitrag?


Public Value als Ergebnis gesellschaftlicher Beziehungsprozesse

„Public Value is what the public values“ (Talbot 2011, S. 28). Was für die Gesellschaft (oder die Öffentlichkeit) wertvoll ist, kann nur aus ihrer Sicht bestimmt werden. Eine normative, ex ante Bestimmung dessen, was öffentlichen oder gesellschaftlichen Wert hat, verbietet sich in einer demokratischen Gesellschaft bzw. kann nur für verfassungsmäßig kodifizierte Werte und Staatsziele fixiert werden. Es widerspräche auch den kollektiven Willensbildungsprozessen in einem demokratisch organisierten Gemeinwesen.

Die bedürfnisorientierte Public Value-Theorie (Meynhardt 2008) verfolgt einen wertrelati­vistischen Ansatz. Werte sind nach diesem Ansatz relativ, weil sie in Beziehungen (Relationen) entstehen und jeweils ausgehandelt werden müssen. Werte haften nicht per se einem Objekt an und entspringen auch nicht allein der subjektiven Bewertung. Sie sind das Resultat einer Subjekt-Objekt-Beziehung und entstehen im Erleben und Bewerten eines Objekts durch ein Subjekt. Werte beschreiben demnach eine Beziehungsqualität (Heyde 1926; Meynhardt 2004; 2009). Was wertvoll für die Gesellschaft ist, kann demzufolge nicht a priori definiert sein, sondern muss gemeinsam bestimmt werden. Allerdings variiert es auch nicht einfach in Abhängigkeit von divergierenden Werthaltungen. Public Value und Gemeinwohl wären substanzlose Worthülsen und hätten keine regulatorische Kraft. Ein weithin gültiger und gleichzeitig wirksamer Gemeinwohlbegriff bedarf einer gewissen Freiheit im kulturell unterschiedlich geprägten Wertverständnis, gleichzeitig aber auch einer Grundlinie, die eine Wertbeliebigkeit auffängt.


Menschliche Grundbedürfnisse als Bewertungsgrundlage für Public Value

Hierfür bietet die psychologische Forschung wichtige Anhaltspunkte. Insbesondere die in der Cognitive-Experiential-Self-Theory (Epstein 1993) identifizierten interkulturell gültigen Grundbedürfnisse bilden einen stabilen Bezugsrahmen für individuell und kollektiv variierende Wertungen (Meynhardt 2004; 2009). Epstein verdichtet die in unterschiedlichsten Motivationstheorien benannten Grundbedürfnisse in vier Bereiche: 1. dem Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, 2. dem Grundbedürfnis nach Selbstwerterhalt und Selbstwertsteigerung, 3. dem Grundbedürfnis nach positiven sozialen Beziehungen und 4. dem Grundbedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung (Epstein 1993).


Gemeinwohl durch Erfüllung sozialer Bedürfnisse

Zusammen bilden die Grundbedürfnisse kulturübergreifend die basalen Bewertungsdimensionen, mittels derer implizit menschliche Bewertungsprozesse inhaltlich analysiert werden können. Der Schritt zum bedürfnistheoretisch hergeleiteten Public Value-Ansatz liegt dann nahe: Public Value wird immer dann registriert, wenn die Erfahrung mit Organisationen effektiv zu veränderten Wahrnehmungen dieser Bedürfnisse führt (Meynhardt 2008; 2009). Public Value ist Ausdruck einer Beziehungsqualität zu einer Organisation. Findet der Einzelne dort – z.B. über Produkte und Dienstleistungen – die eigenen Werte wieder oder wird dazu angeregt, sich dazu zu positionieren, wirkt dies auf seine Gemeinwohlwahrnehmung. Eine Organisation schafft oder zerstört Gemeinwohl, indem sie dazu beiträgt, jene Wahrnehmungen zu verändern, die das Gemeinwesen als solches definieren.


Gemeinwohl ist ein Beziehungsbegriff

Die benannten Grundbedürfnisse bilden den substanziellen Gehalt des hier vertretenen Gemeinwohlbegriffs, der dann in sozialen Aushandlungsprozessen konkrete Gestalt und Form annimmt. Als eine quasiontologische, normative Setzung für den Public Value-Ansatz ermöglichen und begrenzen die Grundbedürfnisse das Spektrum möglicher Public Value-Aspekte (Meynhardt/Gomez 2016). Die damit einhergehende Offenheit gegenüber sich verändernden kulturellen und politischen Kontexten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass gesellschaftliche Errungenschaften, die sich im Laufe der Zeit institutionalisiert haben und mithin als normative, Gemeinwohl konstituierende Elemente gelten, wichtige Bedingungen für die individuelle Gemeinwohlerfahrung sind. Vor dem Hintergrund der vier Bedürfnisdimensionen können sie als komplexe Reaktionen auf basale Bedürfnisse in unserer Gesellschaft begriffen werden (ebd.). So sind z.B. demokratische Werte, Vielfalt, Unabhängigkeit und freie Meinungsbildung nicht normative Grundvoraussetzungen des Gemeinwohls, sondern – ebenso wie etwa der mediale Auftrag zur Sicherstellung der freien Meinungsbildung im Medienstaatsvertrag – Mittel zur Erfüllung bestimmter Bedürfnisse unserer Gesellschaft.
 

Wie lässt sich Public Value operationalisieren?


Alle Organisationen wirken positiv oder negativ auf die Gesellschaft

Alle Organisationen agieren in einem gesellschaftlichen Umfeld und sind damit Teil eines komplexen Public Value-Geschehens. Ihre Angebote und Leistungen wirken sich auf das gesellschaftliche Zusammenleben aus – positiv wie negativ. Entsprechend stiften sie Werte für die Gesellschaft. Je nachdem, wie investigativ, sachlich oder ausgewogen Informationen recherchiert und wie nachvollziehbar sie dargeboten werden, können Medienangebote z.B. Orientierung bieten – oder nicht. Sie können moralischen Ansprüchen entsprechen und damit selbstwerterhaltend wirken – oder nicht. Genauso können sie Ansprüchen an gute Unterhaltung genügen und positive Erlebnisse schaffen – oder nicht. Ferner fließt die gesamte Wahrnehmung einer Organisation, die ein Individuum auf Grundlage des Erlebens der Organisation im persönlichen oder gesellschaftlichen Kontext gewinnt, in die Bewertung ein. Somit sind nicht nur die Programmangebote und Medieninhalte sowie deren Qualität für die Bewertung eines Gemeinwohlbeitrags von Medienorganisationen relevant, sondern auch weitere Aspekte wie etwa Wirtschafts- und Finanzierungsmodelle oder die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit ihrer Angebote.


Der Gemeinwohlbeitrag in vier Dimensionen

Operationalisiert man die vier Bedürfnisdimensionen, lässt sich der Public Value (Gemeinwohlbeitrag) von Organisationen aus Sicht der Gesellschaft messen, wie es regelmäßig im GemeinwohlAtlas geschieht. Die vier abgefragten Public Value-Dimensionen sind:3


1. Aufgabenerfüllung – Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

Ausgehend von dem Bedürfnis, unsere Lebenswelt und ihre Wirkungszusammenhänge zu verstehen, sich darin zu orientieren, zielgerichtet auf sie einwirken zu können und Handlungsoptionen zu erhöhen, werden eine Organisation und ihr Verhalten dahin gehend bewertet, wie nützlich sie für die Erreichung eines Zieles sind. Der Fokus liegt hier auf dem unmittelbaren inhaltlichen oder sachlich-funktionalen Nutzen einer Organisation und ihrer Produkte und Dienstleistungen. Bewertungsparameter können beispielsweise die Qualität, Funktionalität, Aktualität, Sachlichkeit, Klarheit, Relevanz oder der Innovationswert sein. Eine Organisation stiftet in dieser Dimension Public Value, wenn sie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung in ihrem Kerngeschäft gute Arbeit leistet und ihre Aufgabe erfüllt.


2. Moral – Grundbedürfnis nach Selbstwerterhalt und -steigerung

Wir wollen geschätzt und fair behandelt werden und streben nach einem positiven Selbstbild und einem starken Selbstwertgefühl. Bewertungen in dieser Dimension haben moralisch-ethischen Charakter, weil Organisationen ihre Entscheidungen und Handlungen daraufhin beurteilen, ob sie zu mehr Gleichheit oder Ungleichheit führen bzw. ob etwas für alle Menschen (in einem selbst definierten Rahmen) gilt oder nicht. In jedem Fall erfolgt diese Wertung immer mit Bezug auf das Selbstverständnis als Person. In dieser auf das Individuum fokussierten Dimension schaffen Organisationen Wert, wenn sie sich im Auge des Betrachters moralisch wertvoll und damit anständig verhalten und so dem Individuum ein positives Selbstwertgefühl ermöglichen.


3. Zusammenhalt – Grundbedürfnis nach positiven Beziehungen

Individuen streben nach Anerkennung und Zusammenhalt in einem sozialen Kollektiv. Sie suchen nach einem Zugehörigkeitsgefühl und nach Gruppenidentität, gleichzeitig aber auch nach einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Nähe und Distanz. Bewertungen in dieser Dimension sind politisch-sozial und thematisieren Werte wie Solidarität, Kooperation, aber auch Macht, Statusgefühl und Gruppenidentität. Zu dieser Wertdimension tragen Organisationen bei, wenn durch ihr Handeln und Auftreten im Auge des Betrachters der Zusammenhalt in einem Gemeinwesen gefördert wird.


4. Lebensqualität – Grundbedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

Wir streben nach positiven emotionalen Erfahrungen und nach der Vermeidung von Schmerz. Dieses Bedürfnis ist auf das Überleben und die Existenzsicherung des Organismus gerichtet und entwickelt sich bis hin zu Genussbedürfnissen und dem Bedürfnis nach ästhetischen Erfahrungen. Damit liegen dieser Bewertungsdimension hedonistisch-ästhetische Werte wie etwa Schönheit, Spaß, Freude oder ganz allgemein Wohlbefinden und Glückserfahrungen zugrunde, die auch auf kollektiver Ebene vielfältigen Ausdruck finden. Organisationen tragen zu dieser Wertdimension bei, indem sie im Auge des Betrachters zur Lebensqualität beitragen und uns als Individuen damit positive Erfahrungen ermöglichen.

Die vier Public Value-Dimensionen werden jeweils mit einer Frage erhoben:

  • Aufgabenerfüllung: Leistet die Organisation im Kerngeschäft gute Arbeit?
  • Moral: Verhält sich die Organisation anständig?
  • Zusammenhalt: Trägt die Organisation zum Zusammenhalt bei?
  • Lebensqualität: Trägt die Organisation zur Lebensqualität bei?

Überführt man dieses Konzept in eine Public Value Scorecard (Meynhardt 2015), kann es den managementstrategischen Instrumentarien wie der Balanced Scorecard (Kaplan/Norton 1992) hinzugestellt werden. Es bietet insbesondere in öffentlich-rechtlichen Einrichtungen (aber nicht nur) entscheidende Kriterien für die Public Value-orientierte Führung und Steuerung (vgl. Meynhardt/Frantz 2021).
 

Anmerkungen:

1) Dieser Artikel erschien erstmalig in leicht geänderter Fassung unter: Meynhardt, T./Frantz, E.: Medialer Public Value als Beitrag zum Gemeinwohl. Ergebnisse aus dem GemeinwohlAtlas 2019. In: Media Perspektiven, 10/2019, S. 444 – 451

2) Der Medienstaatsvertrag (MStV) ist abrufbar unter: https://www.die-medienanstalten.de (letzter Zugriff: 25.05.2021)

3) Vgl. GemeinwohlAtlas. Abrufbar unter: www.gemeinwohlatlas.de (letzter Zugriff: 25.05.2021)


Literatur:

Epstein, S.: Emotion and self-theory. In: M. Lewis/J. M. Haviland (Hrsg.): Handbook of emotions. New York 1993, S. 313 – 326

Gonser, N./Gundlach, H.: Public value. In: J. Krone/T. Pellegrini (Hrsg.): Handbuch Medienökonomie. Wiesbaden 2020, S. 1.563 – 1.589

Heyde, J. E.: Wert. Eine philosophische Grundlegung. Erfurt 1926

Kaplan, R. S./Norton, D. P.: The balanced scorecard: measures that drive performance. In: Harvard business review, 1/1992/70, S. 71 – 79

Meynhardt, T.: Wertwissen: Was Organisationen wirklich bewegt. Münster/München/Berlin 2004

Meynhardt, T.: Public Value: Oder was heißt Wertschöpfung zum Gemeinwohl?. In: Der moderne Staat, 2/2008, S. 457 – 468

Meynhardt, T.: Public Value Inside: What is Public Value Creation?. In: International Journal of Public Administration, 3–4/2009/32, S. 192 – 219

Meynhardt, T.: Public Value – Turning a Conceptual Framework into a Scorecard. In: J. M. Bryson/B. C. Crosby/L. Bloomberg (Hrsg.): Public Value and Public Administration. Washington D. C. 2015, S. 147 – 169

Meynhardt, T./Frantz, E.: Purpose Controlling: Public Value in die Balanced Scorecard integrieren – Wie das Controlling näher an die Gesellschaft rückt. In: Controlling: Zeitschrift für erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung, Sommer 2021, S. 78 – 81

Meynhardt, T./Gomez, P.: Building Blocks for Alternative Four-Dimensional Pyramids of Corporate Social Responsibilities. In: Business & Society, 2016, S. 1 – 35

Moore, M. H.: Creating public value: Strategic management in government. Cambridge 1995

Neumüller, M./Gonser, N.: Alles anders? – Unterscheidbarkeit als Kriterium für Public Value. In: N. Gonser (Hrsg.): Die multimediale Zukunft des Qualitätsjournalismus. Public Value und die Aufgaben von Medien. Wiesbaden 2013, S. 15 – 34

Talbot, C.: Paradoxes and prospects of ‚public value‘. In: Public Money & Management, 1/2011/31, S. 27 – 34
 

Dr. Timo Meynhardt ist Psychologe und Professor für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig Graduate School of Management.

Eduard Frantz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig Graduate School of Management und promoviert zum Thema der gemeinwohlorientierten Führung und Steuerung.