Nur im Ansatz ein großer Wurf

Das reformierte Jugendschutzgesetz lässt viel zu viele Fragen offen

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Ab 1. Mai 2021 gilt das neue Jugendschutzgesetz. Wichtigster Fortschritt: Kinder und Jugendliche sollen besser vor Interaktionsrisiken im Internet bewahrt werden. Allerdings gibt es auch viel Kritik: Eltern und Kinderschutzorganisationen geht die Reform nicht weit genug, die Medienpolitik warnt vor Doppelstrukturen, und aus Sicht der Filmwirtschaft ist die Chance vertan worden, auch die Altersfreigaben für Kinobesuche zu reformieren.

Online seit 08.04.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/nur-im-ansatz-ein-grosser-wurf/

 

 

 

Reformen finden nur selten ungeteilten Beifall; den einen gehen sie zu weit, den anderen nicht weit genug. Das gilt auch für die von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) initiierte Novellierung des Jugendschutzgesetzes (JuSchG), die zum 1. Mai 2021 in Kraft treten wird. Es gibt eine ganze Reihe von Kritikpunkten, die mehr als nur das übliche Kompetenzgerangel sind.

In der Medienpolitik sieht man den größten Klärungsbedarf bei der zukünftigen Rolle der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM). Bislang sorgt die Bonner Einrichtung dafür, dass indizierte Bücher, Zeitschriften oder Filme nur noch für Erwachsene zugänglich sind. Sie soll nun zu einer Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz ausgebaut werden und die Einhaltung des neuen gesetzlichen Rahmens überwachen.

Die Länder monieren, dass es zu Kompetenzüberschneidungen mit der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) kommen werde. Rundfunk und Kultur sind Ländersache, die KJM ist eine gemeinsame Einrichtung der Landesmedienanstalten, die wiederum schon vor Inkrafttreten des Gesetzes verfassungsrechtliche Bedenken vorgetragen haben.
 


Der Bund macht strukturelle Vorgaben, die Länder übernehmen die inhaltsbezogene Aufsicht.



In der FDP wird befürchtet, dass die bewährten Strukturen in Zukunft schlechter funktionieren würden; man könne ohnehin nicht nachvollziehen, warum Giffey mit einer zusätzlichen Bundesbehörde „in die gut funktionierende Selbstkontrolle auf Landesebene eingreifen“ wolle, hieß es in einem Redebeitrag während der entsprechenden Debatte im Bundestag.

Aus Sicht der Ministerin bleiben die Zuständigkeiten dagegen nach wie vor klar geregelt: Der Bund macht strukturelle Vorgaben, die Länder übernehmen die inhaltsbezogene Aufsicht. Eine konkrete Regelung enthält das reformierte Gesetz allerdings nicht.
 

Theorie und Praxis

Theorie und Praxis klaffen auch in einem weiteren Punkt auseinander: Das novellierte JuSchG sieht eine Vereinheitlichung der Alterskennzeichnungen für Filme, Serien und Spiele auf allen Ebenen vor. Menschen, die nicht beruflich mit dem Jugendmedienschutz zu tun haben, war sowieso schwer begreiflich zu machen, warum der Gesetzgeber zwischen Trägermedien und Telemedien differenziert. In Zukunft ist es egal, ob ein audiovisuelles Produkt physisch (also etwa als DVD) oder digital (zum Beispiel über Fernsehen oder Internet) verbreitet wird: Die Alterseinstufung soll immer die gleiche sein.

Die Freigabe, begründet Giffey diesen Teil der Reform, solle vom Inhalt abhängen, aber nicht davon, wo ein Film oder ein Spiel gekauft würden. Das klingt erst mal vernünftig. Claudia Mikat, Geschäftsführerin der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF), kritisiert jedoch, „dass für unsere Mitglieder nun zwei Gesetze gelten – für den Onlinebereich und für den klassischen Rundfunk –, und diese beiden Regelwerke nicht hinreichend aufeinander abgestimmt sind. De facto gibt es also den einheitlichen Medienbegriff nicht, wie im JuSchG behauptet wird.“ Außerdem gebe es nach wie vor keine echte wechselseitige Durchwirkung von Entscheidungen nach dem JuSchG und dem Jugendmedienschutzstaatsvertrag: Ein Prüfergebnis der unter anderem für die Kinofilme zuständigen Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) gelte automatisch auch für den Rundfunkbereich, ein Prüfergebnis der FSF gelte jedoch erst nach Bestätigung durch die KJM auch für die Auswertung auf DVD.
 


De facto gibt es […] den einheitlichen Medienbegriff nicht, wie im JuSchG behauptet wird.“



Wenig Verständnis hat Mikat zudem für die von den Privatsendern seit Jahren kritisierte Sonderregelung für ARD und ZDF: Überall müssten Filme mit Alterskennzeichen versehen werden, nur für die öffentlich-rechtlichen Mediatheken gebe es eine Ausnahme: „Mit Jugendschutzargumenten lässt sich das nicht begründen, schließlich ist das Wirkungsrisiko eines Films auf der einen Plattform so hoch wie auf der anderen.“ Zudem würden Koproduktionen von Streamingdiensten, privaten und öffentlich-rechtlichen Anbietern immer mehr zur Regel. In Zukunft müsse also eine Serie wie beispielsweise Babylon Berlin, gemeinsam von der ARD und Sky produziert, auf Sky Q mit Alterskennzeichen und Piktogrammen gekennzeichnet sein, in der ARD-Mediathek dagegen nicht – „wie will man das den Zuschauerinnen und Zuschauern erklären?“
 

Kritik auch aus der Filmwirtschaft

Auch aus der Filmwirtschaft gibt es Kritik. Der Verband der Filmverleiher (VdF) hatte gehofft, dass im Zuge der JuSchG-Reform auch die sogenannte PG-Regelung modernisiert wird, wie VdF-Geschäftsführer Johannes Klingsporn in einem Beitrag für die Fachzeitschrift „Blickpunkt:Film“ schreibt. Bislang gilt „Parental Guidance“ nur für FSK 12: Werden Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren „von einer personensorgeberechtigen Person begleitet“ – in der Regel ein Elternteil oder andere Erziehungsberechtigte (nach der Reform auch Erziehungsbeauftragte) –, dürfen sie Vorstellungen besuchen, die erst ab zwölf Jahren freigegeben sind. Der VdF hätte sich gewünscht, dass diese Ausnahmeregelung auch auf FSK 6 und FSK 16 ausgeweitet werde „und sich dabei an einem zeitgemäßen Menschenbild orientiert, dass den Eltern und Erziehungsberechtigten den Willen, die Fähigkeit und das Selbstverständnis zutraut, für das Wohl ihrer Kinder das Bestmögliche anzustreben“. Tatsächlich ist nicht recht nachzuvollziehen, dass Eltern zu Hause autonom entscheiden können, welche Filme ihre Kinder über welches Medium konsumieren können, während ihnen diese Entscheidung beim Besuch im Kino nicht zugetraut wird.
 


Tatsächlich ist nicht recht nachzuvollziehen, dass Eltern zu Hause autonom entscheiden können, welche Filme ihre Kinder über welches Medium konsumieren können, während ihnen diese Entscheidung beim Besuch im Kino nicht zugetraut wird.



Ein zweiter Kritikpunkt des VdF dürfte aus Elternsicht zwar eher zweitrangig sein, aber auch dieser Aspekt zeigt, dass einige Details der Reform nicht zu Ende gedacht worden sind: Trailer dürfen im Kino fortan nur für Filme gezeigt werden, die die gleiche Altersfreigabe wie der jeweilige Hauptfilm haben. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass durch die Werbung zum Beispiel für einen erst ab 16 Jahren freigegebenen Action- oder Horrorfilm bei Zwölfjährigen Begehrlichkeiten geweckt werden. Das klingt zwar nach Bewahrpädagogik, ist aber immerhin nachvollziehbar. Einen Haken hat die Sache trotzdem, wie Klingsporn anmerkt: Offenbar habe der Gesetzgeber verkannt, dass die Altersfreigabe eines Films nichts mit der Frage zu tun habe, ob er für Kinder und Jugendliche geeignet sei. Tatsächlich sind zum Beispiel viele Dokumentarfilme ohne Altersbeschränkung freigegeben, ohne sich jedoch an Kinder und Jugendliche zu richten. Die Bewerbung oder Ankündigung von Filmen mit einer Altersfreigabe, schreibt Klingsporn, „wären vor solchen Filmen nicht mehr möglich, obwohl keine Kinder im Kinosaal sitzen oder nicht sitzen dürfen, weil die Vorstellung erst um 22.00 Uhr beginnt.“ Die FSK prüft ohnehin sämtliche in den Kinos gezeigten Trailer unter dem Gesichtspunkt der Kinder- und Jugendbeeinträchtigung und versieht sie mit einer entsprechenden Altersfreigabe; und die kann in der Tat von der Freigabe für den eigentlichen Film abweichen.
 

Schutz vor Interaktionsrisiken

Keine Kritik gibt es dagegen am wohl wichtigsten Motiv der Ministerin. Giffey will Kinder und Jugendliche im Internet vor allem vor jenen Interaktionsrisiken schützen, für die sich zumindest in der Fachwelt englische Begriffe eingebürgert haben: Cybermobbing, also gezielter Psychoterror in Form entwürdigender Fotos oder Filme, begleitet von entsprechenden Kommentaren; Cybergrooming, die Anbahnung sexualisierter Übergriffe; Hatespeech, die gezielte Verunglimpfung einzelner Personen oder ganzer Gruppen; Challenges, die Aufforderung zu riskantem Verhalten etwa in Form gefährlicher Mutproben; außerdem Kostenfallen durch Apps und Onlinespiele. Das zielt vor allem auf die Masche in vielen Computerspielen, eine Lootbox anzubieten (gern auch „Beutebox“ genannt). Die virtuellen Behälter enthalten Waffen und andere Gegenstände oder bestimmte Fähigkeiten, mit denen sich die Aufgaben des Spiels leichter lösen lassen. Diese Hilfestellungen lassen sich die Hersteller gern bezahlen. Solche finanziellen Interaktionsrisiken könnten ebenso wie „glückspielsimulierende Elemente“ dazu führen, dass die Altersfreigaben für Spiele in Zukunft strenger ausfallen. Bislang bezogen sich die Freigaben in erster Linie auf eine mögliche Entwicklungsbeeinträchtigung durch inhaltliche Wirkungen (etwa Gewaltdarstellungen), nun sollen auch Nutzungsumstände in die Bewertung mit einfließen.

Was nach einem großen Wurf klingt, der auf breite Zustimmung stoßen sollte, entpuppt sich bei näherem Hinsehen jedoch als halbherzig und inkonsequent: Um Kinder vor besagten Interaktionsrisiken zu schützen, werden die Betreiber dazu verpflichtet, auf ihren Angeboten entsprechende technische Voreinstellungen vorzunehmen. Weigern sie sich zu kooperieren, drohen ihnen Bußgelder in Höhe von bis zu 50 Mio. Euro. Die Auflage gilt jedoch nur für Plattformen mit mehr als einer Million Nutzerinnen und Nutzern. Das Gesetz betrifft also in erster Linie Digitalgiganten wie Facebook, Instagram, YouTube, Netflix und Amazon Prime sowie Messenger-Dienste wie WhatsApp. Claudia Mikat fragt sich, ob es überhaupt gelingen könnte, diese Unternehmen zu integrieren, schließlich hätten sie ihren Sitz nicht in Deutschland und könnten sich mit Verweis auf das Herkunftslandprinzip den Kennzeichnungspflichten und Vorsorgemaßnahmen entziehen.
 


Das Gesetz betrifft also in erster Linie Digitalgiganten wie Facebook, Instagram, YouTube, Netflix und Amazon Prime sowie Messenger-Dienste wie WhatsApp.



Beim Deutschen Kinderhilfswerk hat man keinerlei Verständnis dafür, dass die Regelung nicht alle Betreiber betrifft: Dass Anbieter mit niedrigeren Nutzungszahlen „aus wirtschaftlichen Erwägungen keine Alterskennzeichnung vorzunehmen oder keine jugendmedienschutzrelevanten Vorkehrungen zu treffen haben, erscheint aus kinderrechtlicher Sicht nicht tragbar.“ Unklar ist auch der Bezugsrahmen für die eine Million, denn das Gesetz vermerkt in diesem Zusammenhang weder einen Zeitraum noch andere Größenordnungen (etwa die Zahl der registrierten Nutzerinnen und Nutzer). In der Medienpolitik wird daher befürchtet, dass kleine Unternehmen keine Probleme haben dürften, ihre Zahlen so kreativ zu gestalten, dass sie in jedem Fall unter der Millionengrenze bleiben.
 

Negative Erfahrung im Netz

Trotzdem ist Mikats Fazit nicht negativ: „Das Gesetz ist gut gemeint und legt den Finger in die richtigen Wunden.“ Wie dringend der Handlungsbedarf war, verdeutlichen einige vom Familienministerium verbreitete Zahlen. Laut einer Übersicht hat fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und 18 Jahren bereits negative Erfahrungen im Internet gemacht. 800.000 Mitglieder dieser Altersgruppe wurden im Netz beleidigt oder gemobbt. 250.000 Kinder wurden von Erwachsenen mit dem Ziel sexuellen Missbrauchs kontaktiert.

Laut den Ergebnissen einer vom Deutschen Kinderhilfswerk veröffentlichten Umfrage möchten 88 % der Befragten, dass ausnahmslos alle Anbieter von Internetseiten – also nicht nur die großen Plattformbetreiber – dazu verpflichtet werden, strenge Schutzeinstellungen für Kinder und Jugendliche einzurichten. Auch bei der einheitlichen Alterseinstufung für Filme und Spiele entspricht das neue Jugendschutzgesetz den Wünschen der meisten Befragten (90 %).
 


Die Menschen wollen nicht einfach nur eine Altersbeschränkung, sie hätten auch gern eine Begründung.



In einem Punkt allerdings gehen die Erwartungen über die Reform hinaus: Die Menschen wollen nicht einfach nur eine Altersbeschränkung, sie hätten auch gern eine Begründung. Ginge es nach den im Jugendmedienschutz Aktiven, gäbe es längst eine Art Ampel, die auf einen Blick erkennen lässt, ob Filme, Serien oder Video- und Computerspiele sexuelle oder gewalthaltige Darstellungen enthalten. Mikat betrachtet die Reformierung des Gesetzestextes ohnehin nur als ersten Schritt, denn mit der stringenten Umsetzung stehe die eigentliche Aufgabe noch bevor: „Kohärente und praxistaugliche Regelungen müssen erst noch gefunden werden.“