Neunte Kunst

Vom Schund-Image der Comics zur künstlerischen Anerkennung der Graphic Novels

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Selbst in Amerika, dem Mutterland des Cartoons, wurden Comics noch vor 60 Jahren als jugend­gefährdend eingestuft. Hierzulande hat es im Unterschied zu Frankreich oder Belgien ohnehin nie eine Tradition gegeben, die die lange als „Schund“ gebrandmarkte Kunstform über den Status des jugendlichen Zeitvertreibs erhoben hätte. Das hat sich längst geändert. Dank der Graphic Novels genießen Comics mittlerweile hohes Ansehen; selbst wenn die großen Umsatzbringer aufgrund der vielen Kinofilme die Superhelden-Hefte sind.

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Es ist schon ungewöhnlich, dass eine der ältesten Kunstformen der Menschheitsgeschichte bis weit in die Neuzeit nicht ernst genommen wurde; jedenfalls nicht in Deutschland. Die frühesten Vorläufer der Comics lassen sich bis in die Steinzeit zurückverfolgen, aber hierzulande galten sie anders als in Frankreich oder den USA lange als Kinderkram. Davon kann längst keine Rede mehr sein. Die aufwändig gestalteten Bilderromane („Grapic Novels“) aus dem Hamburger Carlsen-Verlag zum Beispiel kosten um die 20 Euro und zielen eindeutig auf ein erwachsenes Publikum. Auch die Lustigen Taschenbücher haben viele Fans, die die Abenteuer von Micky Maus und Donald Duck schon seit Jahrzehnten verfolgen; die Hälfte der Käufer sind laut Egmont Ehapa Media (Berlin) Erwachsene. Bei den Superhelden aus dem Stuttgarter Panini-Verlag verhält es sich ähnlich; Sonderbände können mit bis zu 30 Euro auch mal ganz schön teuer werden. Dennoch richten sich natürlich gerade die regelmäßigen Heftausgaben vor allem an Kinder und Jugendliche. Das gilt erst recht für jene Magazine, die Eltern ihrem Nachwuchs im Supermarkt mitunter in erster Linie wegen der „Extras“ (billiges Spielzeug oder Schminkutensilien) kaufen müssen.
 

Konkurrenz durch neue Medien

In den Sechzigern und Siebzigern, als Comics hierzulande auch dank der Arbeiten von Hansrudi Wäscher (Falk, Sigurd, Tibor) ihre erste Blütezeit erlebten, waren sie praktisch konkurrenzlos; mit Ausnahme von Jugendzeitschriften wie „Bravo“ gab es keine anderen Medien speziell für diese Zielgruppe. Das ist heutzutage völlig anders. Laut der kürzlich unter anderem von Panini und Egmont Ehapa in Auftrag gegebenen Kinder-Medien-Studie haben 84 % der 10- bis 13‑Jährigen ein Smartphone; einigen wird das für die Freizeitgestaltung vollauf genügen. Wer dann noch einen eigenen Laptop mit Internetzugang besitzt, hat neben YouTube und den diversen sozialen Netzwerken im Grunde kaum noch Muße für weitere Aktivitäten. Der Markt für Kinder- und Jugendmagazine stehe jedoch nicht allein wegen des Internets unter Druck, sagt Peter Höpfner, Editorial Director bei Egmont Ehapa Media: „Es gibt weniger Geld in den Haushalten, weniger Kinder – und ein immer größer werdendes Angebot.“ 1997 hätten die drei Ehapa-Titel Micky Maus Magazin, Lustiges Taschenbuch (LTB) und Wendy 75 % des Comic-Marktes ausgemacht, „heute bedarf es dazu mehr als 65 Objekte.“ Andererseits dominiert Egmont Ehapa nach eigenen Angaben das Geschäft mit den großformatigen Alben; Western-Held Lucky Luke ist seit Jahrzehnten ein zuverlässiger Umsatzbringer, und das neue Asterix-Abenteuer Asterix in Italien (Band 37) erscheint demnächst gar mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren.
 

Stabile Fangemeinde

Laut Klaus Schikowski, Programmleiter der Carlsen-Sparte Comic und Graphic Novel, sei die Warengruppe Comic zudem „eines der wenigen Segmente im Buchhandel, das jährliches Wachstum aufweisen kann. Und wenn man Comics mag, spielt die Konkurrenz auf dem Unterhaltungsmarkt ohnehin nur eine untergeordnete Rolle“. Aus Sicht von Steffen Volkmer, Pressesprecher und Senior Editor bei Panini, verdankt der Comic-Markt den anderen Medien „sogar positive Impulse, weil sie auf die Comics aufmerksam machen“. Die deutsche Comic-Fangemeinde sei „sehr stabil und gewinnt eher hinzu. Das Medium profitiert davon, dass das Lesevergnügen eine sehr haptische Komponente hat und der Sammelaspekt bei vielen Fans immer noch eine Rolle spielt.“ Schikowski sagt zwar, die Umsätze seien „insgesamt etwas nach unten gegangen“, aber er geht davon aus, dass 2017 speziell für Carlsen „ein sehr erfolgreiches Jahr“ wird. Der Verlag, 1953 als reiner Kinderbuchverlag gegründet, hätte somit doppelten Grund für ein Fest: Vor 50 Jahren ist dort mit dem ewig jungen Klassiker Tim und Struppi der erste Comic-Band erschienen. Auch die Mitbewerber feiern Jubiläen: Die Lustigen Taschenbücher gibt es ebenfalls seit 1967, und Panini-Comics wird 20 Jahre alt.
 

Die Superhelden-Verlage

Der ursprünglich als Sammelbildverlag gestartete Stuttgarter Panini-Verlag hat im Jahr 2003 den Comic-Verlag Dino Entertainment übernommen und profitierte am stärksten von einem Trend, der nun schon geraume Zeit anhält: Jahr für Jahr gehören Comic-Verfilmungen zu den stärksten Umsatzbringern an den Kinokassen, und Panini hat zumindest in Deutschland das Superhelden-Monopol. In den USA sind die Verlage Marvel (Spider-Man, X-Men, Avengers, Thor) und DC (Superman, Batman, Wonder Woman) erbitterte Konkurrenten, bei Panini sitzen sie in einem Boot. Durch die Kontinuität der Filme habe sich, so Volkmer, ähnlich wie bei den Star Wars-Comics „ein positiver Dauereffekt eingestellt“; die Superhelden seien derzeit „so beliebt wie selten zuvor“. Die aktuell erfolgreichsten Panini-Serien sind Spider-Man, Avengers, Deadpool, Guardians of the Galaxy (Marvel) sowie Batman, Suicide Squad, Harley Quinn, Superman und Justice League (DC). Dank der gleichnamigen britischen TV-Serie hat sich auch der hierzulande früher nur speziellen Fans bekannte Dr. Who etabliert.

Der Boom der Comic-Verfilmungen hat laut Volkmer zudem „zunächst kaum bemerkbar, dann aber immer schneller“ auch das Interesse an Sammlerprodukten wie etwa Spielfiguren „auf ein neues, höheres und noch immer zunehmendes Level gebracht“. Panini verzeichne seit vielen Jahren einen kontinuierlichen Aufwärtstrend, „der circa seit 2010 noch einmal zusätzlich an Fahrt aufgenommen hat. Die Auflagen der Toptitel haben sich dabei gar nicht so enorm verändert, aber die Menge der publizierten Titel und Serien ging nach oben.“ Panini biete derzeit so viele Superhelden am Kiosk und im Fachhandel an, wie das in Deutschland niemals zuvor der Fall gewesen sei – „und nahezu alle verkaufen auf einem guten Niveau“. Laut Volkmer ist Panini zumindest gemessen an der Anzahl der Veröffentlichungen der größte Comic-Verlag Europas, „vermutlich auch nach Umsatzzahlen“, was natürlich mit der Menge der Titel verbunden sei. Kommt ein neuer Asterix-Band auf den Markt, dürfte Egmont Ehapa bei den Umsätzen jedoch nur schwer zu schlagen sein.
 

Dauerbrenner Tim und Struppi

Einen zusätzlichen Schub bekam der Markt vor rund 20 Jahren durch die hierzulande bis dahin kaum bekannten Mangas. Carlsen machte die Comics aus Japan mit Dragon Ball salonfähig; das Segment bescherte den Verlagen jahrelang stetig wachsende Umsatzzahlen. Zu den heutigen Carlsen-Bestsellern gehören laut Programmleiter Schikowski jedoch vor allem traditionelle franko-belgische Serien. Neue Bände aus den ReihenSpirou und Fantasio, Marsupilamioder Blake und Mortimer erscheinen mit Startauflagen im höheren vierstelligen Bereich. Für Valerian & Veronique gilt das erst recht; der Kinostart von Luc Bessons Science-Fiction-Epos Valerian – Die Stadt der tausend Planeten dürfte den Erfolg der Reihe zusätzlich verstärkt haben. Für ein „Longseller“-Phänomen sorgt Jahr für Jahr Hergés Klassiker Tim und Struppi: Die Serie gehört regelmäßig zu den bestverkauften Reihen, obwohl es schon lange keine neuen Abenteuer mehr gibt.
 

Sind Graphic Novels die neunte Kunst?

Einen besonderen Stellenwert nehmen bei Carlsen die Graphic Novels ein. Die Comic-Romane verkaufen sich laut Schikowski „großartig und rufen eine große Resonanz hervor“. Er nennt unter anderem zwei Bände von Reinhard Kleist: die Johnny-Cash-Biografie Cash – I See A Darkness (Max-und-Moritz-Preis) sowie Der Traum von Olympia (Katholischer Kinder- und Jugendbuchpreis, Gustav-Heinemann-Friedenspreis); rund um Olympia bietet Carlsen ein kostenloses Unterrichtsmodell für zwei bis drei Schulstunden an, das in die Welt der Graphic Novels einführen soll. Außerdem erwähnt Schikowski Der nasse Fisch von Arne Jysch, eine im Berlin der 1920er-Jahre angesiedelte Krimigeschichte von Volker Kutscher. Ein besonderes Werk ist auch Die Leichtigkeit. In dem Buch verarbeitet Catherine Meurisse melancholisch-witzig Weise den Terroranschlag auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ im Januar 2015. Die Zeichnerin hat die Morde nur deshalb überlebt, weil sie am entsprechenden Morgen zu spät zur Redaktionssitzung kam.

Werke dieser Art haben ihren Teil dazu beigetragen, Comics auch hierzulande vom Klischee des Groschenhefts zu befreien. Die Bezeichnung „Neunte Kunst“ fände Schikowski „vielleicht ein wenig übertrieben“, doch die Verlagsarbeit sei zunehmend anspruchsvoller geworden, was letzten Endes auch zu besseren Arbeiten der einheimischen Künstler geführt habe. Jysch zum Beispiel habe sich grafisch weiterentwickelt, und auch Kleist habe mit Nick Cave (über den Musiker Nick Cave) dank der expressiven Grafik und des spannenden Ansatzes hinzugewonnen. Schikowski ist überzeugt, dass deutsche Graphic Novels in den nächsten Jahren noch an Bedeutung gewinnen werden. Auch Superhelden-Verlag Panini hat laut Volkmer „immer wieder sehr gut verkaufte Graphic Novels im Programm“. Er nennt exemplarisch Daniela Schreiters Schattenspringer-Bände; die Künstlerin beschreibt in ihren amüsanten autobiografischen Bildergeschichten, wie es ist, als Kind „anders“ zu sein; Schreiter hat das Asperger-Syndrom. Grapic Novels wie diese haben dazu geführt, dass Comics längst nicht mehr nur im Fachhandel und an Kiosken verkauft werden, sondern auch im Buchhandel eine immer größere Rolle spielen. Der Stellenwert und die Anerkennung dieser Kunstform, sagt Volkmer, „sind enorm gewachsen. Ebenso auch die deutsche Kreativszene. Trotzdem sind wir noch nicht annähernd auf einem Level mit den großen Comic-Nationen.“