Musik, Kultur und Jugendschutz

Bernward Hoffmann

Dr. Bernward Hoffmann ist Professor em. für Medienpädagogik an der FH Münster im Fachbereich „Sozialwesen“ und Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Die Zeitschrift „PuK: Politik und Kultur“ des Deutschen Kulturrates thematisiert in ihrer Ausgabe 12/21–1/22 antisemitische Tendenzen in deutscher Popmusik, vor allem im Gangsta-Rap. In mehreren Beiträgen wird deutlich, dass es nicht allein um Antisemitismus, sondern um ein Bündel von potenziell jugendgefährdenden Inhalten geht. Dem Generalsekretär des Deutschen Musikrates, Prof. Christian Höppner, wird die Forderung nach einer Freiwilligen Selbstkontrolle für die Musikbranche quasi in den Mund gelegt. Er stellt das jedoch in den größeren Zusammenhang eines „Machtmissbrauchs im Kulturbereich“. Dieser Impuls ist Anlass, im Folgenden dem Zusammenhang von Musik(-industrie), Kultur und pädagogischen Intentionen im Jugendschutz nachzugehen.

Printausgabe tv diskurs: 26. Jg., 1/2022 (Ausgabe 99), S. 72-77

Vollständiger Beitrag als:


Welche Musik oder was an Musik kann beeinträchtigend oder gefährdend sein?

Seit populäre Musik über Medien vielseitig verfügbar bis allseits präsent ist, spielt sie im Prozess des Heranwachsens junger Menschen eine wichtige Rolle. Die Funktion der Abgrenzung von Erwachsenen und des Protests gegen alles Mögliche hat sich vom Rock ’n’ Roll und Beat der 1960er-Jahre bislang immer wieder auf neue Musikformen und -stile verlagert. Die eigene Musiksammlung, heute auch in Form von Play- oder Streaminglisten, war und ist eine Art Spiegel der (jugend‑)kulturellen Selbsteinordnung junger Menschen und ein Archiv für ihre emotionale(n) Befindlichkeit(en). Zugehörigkeit und Abgrenzung in Peergroups laufen seit Jahrzehnten auch über Musikstile und Vorlieben ab. Im biografischen Rückblick wird das „Kult“.

Musik kann gefährlich sein, wenn sie zu laut gehört wird und so unsere Ohren schädigt; aber sonst? Unter Aspekten der Entwicklungsbeeinträchtigung oder gar der Jugendgefährdung ist Musik schwer einzuordnen; deshalb geht der prüfende Blick auf die Texte und die begleitenden visuellen Elemente. Mit der Verbreitung populärer Unterhaltungs-(U‑)Musik, ihrer Tonträger und Senderpräsenzen sind einige Musikstile unter Verdacht geraten. Swingtanzen, Tango, Rock ’n’ Roll, „Beatles“ und besonders „Rolling Stones“ und viele mehr – das war einmal; dann kamen Punk, Grunge und Heavy Metal (mit seinen schon vom Namen her bedrohlichen Spielarten Trash-, Black- und Death-Metal) und manch andere mehr. Heute sind Heavy-Metal-Festivals wie das Wacken Open Air „Kult(ur)“. Prediger gegen „Gewaltmusik“ generell gibt es, aber sie sind kaum ernst zu nehmen.1

Zeiten und ihre moralischen Haltungen zu Musikformen ändern sich. Das zeigt folgende kleine Story: Als erster Tonträger wurde 1960 der Gesang einer Münchener Dirne namens Gisela, einer „gebildeten Dame mit unzüchtigem Charakter“, auf Vinylplatte indiziert und beschlagnahmt (vgl. Hajok 2016, S. 75). Gisela schrieb aber mit ihren Chansons und ihrer Kneipe ein Stück Münchener Stadtgeschichte. 2004 erhielt sie die Medaille „München leuchtet“ der Landeshauptstadt und 2008 wurde ihre Biografie mit einem Vorwort des Münchener Oberbürgermeisters veröffentlicht.2

Musik ist für den Jugendmedienschutz kein großes, aber ein schwieriges Thema. Bei der Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM – seit Mai 2021 Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz [BzKJ]) – spielen Tonträger durchaus eine Rolle. Seit Gründung der BPjM bis etwa 2000 betrafen nur etwa 5 % der Indizierungen Tonträger, ab 2000 bis 2016 stieg dieser Anteil aber auf fast 20 % der Indizierungen. Grund dafür waren die CD als Trägermedium und Musikformen wie Rechtsrock, Porno- und Gangsta-Rap etc. (vgl. Hajok 2016).

Den einleitend angesprochenen deutschen Gangsta-Rap gibt es auch bereits seit zwei Jahrzehnten. Aber er hat es aktuell wieder an die Spitze geschafft. Der Begriff spielt im Slang-Sprachstil („Gangsta“ statt „Gangster“) auf die soziale Sphäre an, aus der die Musik stammt und in und mit der sie spielt.
 

BAD BUNNY: LA DIFÍCIL (2020)



Hip-Hop umfasst ursprünglich unterschiedliche, anfänglich miteinander verbundene Ausdrucksweisen (Rap, DJing, Beatboxing, Breakdance bzw. Urban Dance, Graffiti). Er entstand in den 1970er-Jahren in einer Freizeitkultur in den Vierteln und Straßen amerikanischer Suburbs. Aber schon bald wurden die Elemente genutzt, um damit die soziale Lebenssituation auszudrücken und zu kritisieren. Zentrale Verhaltensweise ist das Battle rivalisierender Gruppen im Viertel, das sich u.a. im „Dissen“ des Raps als verbales Heruntermachen der Gegner ausdrückt. Das wird in der Szene als Spiel verstanden, in dem gewissermaßen alles erlaubt ist (vgl. Hartmann 2018). Ob dabei alle „Entgleisungen“ erlaubt sind und wie das außerhalb der Szenen wirkt, ist zu diskutieren. Reale gewalttätige Auseinandersetzungen der Gangs wurden damit auf eine quasi symbolische Ebene verlagert, aber niemals aufgehoben.

Diese soziokulturellen Legenden sind wichtig, um das Potenzial der Hip-Hop-Kultur angemessen einordnen zu können. Denn diese Kultur ist wie keine andere „Jugendkultur“ ein weltweites Phänomen geworden. Vor allem der Rap wurde und wird mehr denn je (musik‑)industriell vermarktet. Funktional dient die Musik mit ihren Texten den Menschen in ähnlichen sozialen Lebensverhältnissen als Ausdruck, Ventil und Hoffnungsschimmer, und für etabliert wohlsituierte bürgerliche Jugendliche ist das ein provozierend reizvoller Blick in fremde Welten, aber vielleicht auch eine Form von „Sozialvoyeurismus“.

Im Spektrum des Hip-Hops ist besonders der Gangsta-Rap angesagt. Beim schwedischen Streamingdienst Spotify liegt 2021 weltweit der puerto-ricanische Rapper Bad Bunny auf Platz eins, der aber allenfalls mal einen Gangsta-Rapper mimt. Topkünstler in Deutschland sind von Platz eins bis acht alles Rapper, die mehr oder weniger klar dem Gangsta-Rap zugeordnet werden können: Bonez MC, Luciano, Capital Bra, RAF Camora, Samra, Apache 207, Ufo361, Sido – erst dann folgt Justin Bieber. Unter den Playlists stehen auf Platz zwei die Spotify-Playlist „Modus Mio. Die wichtigste Hip-Hop-Playlist Deutschlands“ und auf Platz drei „Deutschrap – brandneu“. Dieser Trend stabilisiert sich seit etwa 2017.
 

Merkmale beim (deutschen) Gangsta-Rap

Eine klare Definition von Gangsta-Rap ist schwierig. Abgrenzen lässt sich diese Spielart des Raps am besten über die Texte, auch über Visualisierungen und Social-Media-Diskurse (vgl. zur Deutung des deutschen Gangsta-Raps: Seeliger 2021). 

Es geht um:

1. Soziale Problemviertel und den Aufstieg daraus:

  • Die eigene Herkunft aus solchen Vierteln oder die Selbstinszenierung als Outlaw. Authentische Erfahrungen am eigenen Leib werden zumindest behauptet. Man gibt sich so wie die Menschen dort.
  • Kriminalität wird quasi als normales, weil überlebensnotwendiges Verhalten dargestellt. Es sichert das Überleben, über „abweichendes“ Verhalten zu Geld zu kommen.
  • Alkohol und Drogen in Form von Konsum und Weitergabe sind selbstverständlicher Bestandteil dieser Lebenswelt. Die „dreckige“ Seite der Sucht wird dabei weniger gezeigt.
  • Migration spielt eine Rolle und infolgedessen sind Rassismus und Antisemitismus oft, aber nicht automatisch Thema.


2. Männlichkeits-Posen:

  • Zurschaustellung von Männlichkeit. Man zeigt, was man hat: Körperbau, Muskeln, aber auch Tattoos, Schmuck und materielle Güter.
  • Man zeigt, was man sich leisten kann: schnelle und große Autos, Motorräder, Party-Lifestyle.
  • Homophobie ist nicht selten ein Aspekt überzeichneter Männlichkeit.
  • Nicht selten finden sich auch autoritäre Machtfantasien in den Texten.


3. Gewalt:

  • die ist notwendig und normal, um sich „Respekt“ zu verschaffen. Dazu gehören körperliche Präsenz und Dominanz, aber auch Waffen vom Schlagring über Messer bis zur MP sind normal und gehören wie selbstverständlich zum Alltag.


4. Sex und Misogynie:

  • Sex wird präsentiert als wichtiger Lebensinhalt und Ausdruck von Männlichkeit.
  • Damit einher gehen häufig Besitzansprüche gegenüber Frauen und Abwertungen anderer als der eigenen Frau(en).
  • Die Degradierung der Frau zum Objekt reicht von schönen und möglichst wenig bekleideten Körpern bis zur Titulierung als „Bitch“ oder „Hure“ (nur die eigene Mutter ist da ausgenommen; sie wird verteidigt bis aufs Blut).


Das alles sind in Texten und Visualisierungen oft überzeichnete Klischees, die häufig auch ironisch gebrochen werden. Aber die Unterschiede dazwischen, die feinen Nuancen und Umdeutungen sind schwer zu erkennen. Die widersprüchliche Botschaft zwischen einer kritischen Beschreibung der sozialen Zustände und zugleich einer Glorifizierung der Verhältnisse, aus denen man stammt, wird nicht orientierend aufgelöst, aber Hip-Hop wird als Auf- und Ausstiegschance verkauft. Um das Ziel des materiellen und symbolhaften „Ich hab’s geschafft“ zu erreichen, gelten Kriminalität, Drogen und Gewalt als „normale“ Mittel, die als solche dann auch in den Texten thematisiert und in Videos visualisiert werden.

Wie kaum eine andere Musikform spielt der Gangsta-Rap mit den Mythen und Legenden seiner Herkunft. Die Rapper geben sich authentisch und auch das Marketing gibt sich viel Mühe mit dieser „Realness“. Beim Dissen wird den jeweils anderen Rappern häufig vorgeworfen, sie stammten ja gar nicht aus dem Kiez (Getto, Viertel …) und würden nur eine lügenhafte Scheinwelt aufbauen.

Aus soziologischer Sicht ist das alles „irgendwie“ eine Art Empowerment, Selbstermächtigung innerhalb einer Lebenswelt, die aber kaum als zu verändernde oder veränderbare wahrgenommen wird. Was man erreichen kann: materiellen Wohlstand, wahrgenommen werden, Anerkennung, was dann häufig als „Respekt“ tituliert wird.

Diese Skizzen gelten übrigens nur für einen Mainstream männlicher Rapper. Es gibt Aussteiger, Andersdenkende und anders Agierende und vor allem auch so etwas wie eine Frauenbewegung unter den Gangsta-Rapper*innen.3

Ein Paradebeispiel für ein solches Narrativ ist Bushido (bürgerlich: Anis Mohamed Ferchichi). Seine Story kann man im Netz u.a. auf Wikipedia ausführlich nachlesen: Mehrfach Platin auf der einen Seite, ebenso viele Indizierungen auf der anderen Seite, meist aufgrund der Texte.4 Sein zeitweises Eigenlabel – mit gefährlicher Unterstützung des arabischen Clanchefs Arafat Abou-Chaker – hat den netten Namen „ersguterjunge“. Schon 2008 wird seine Autobiografie zum Buchbestseller und 2010 verfilmt;5 die Biografie wird 2022 erweitert neu erscheinen. Reale Gewaltaktionen und Auseinandersetzungen in der Szene haben Bushido mehrfach vor Gericht gebracht. Sein Freund-Feind Fler disst Bushido 2019 mit dem Titel Noname. Per Gerichtsentscheid muss Fler den Text ändern, weil er Bushidos Kinder erwähnt; die Frau muss sich die Beleidigungen gefallen lassen. Nicht nur in der Presse, sondern vor allem in den sozialen Netzwerken werden diese Storys breitgetreten und so zu einem komplexen Narrativ.

Ein anderes aktuelles Beispiel sind die im Verbund „187 Strassenbande“ vereinten Rapper, die als besonders authentisch gelten. Gzuz (Akronym für „Ghetto-Zeug unzensiert“) als einer der „Bande“ wurde gerade vom Hamburger Gericht zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt.  Auch diese Form der „Realness“ ist unablösbar verstrickt in das Gemenge aus Kunstfiguren, realer Personen, sozialer Herkunft und derzeitiger Lebenswelten und -weisen.

Diese Skizze sollte vor allem eines deutlich machen: Es sind nicht einzelne Songs und deren Texte, die Gangsta-Rap problematisch werden lassen. Es ist das von der Vermarktung und den Diskursen in sozialen Netzwerken mitbestimmte gesamte „Narrativ“ um die Person und soziale Sphäre des Rappers und des Gangsta-Raps insgesamt, das man bei der Frage von Wirkungen und potenzieller Jugendgefährdung berücksichtigen muss. Altersfreigaben und Indizierungen reichen da nicht. Letztere spielen sogar eine teils kalkulierte und kontraproduktiv Publicity erzeugende Rolle.
 

187 Strassenbande: Mit den Jungs (2017)



Jugendgefährdung, Jugend(-medien-)schutz

Art. 5 unseres Grundgesetzes schreibt Informations- und Meinungsfreiheit sowie Freiheit der Kunst ohne jede Vorzensur fest, aber erlaubt gesetzlichen Jugendschutz. Die bekannten Altersfreigaben sind seit dem Gesetz zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG) 1957 unverändert und wurden auch per Staatsvertrag für den Rundfunk übernommen, weil der ja Ländersache ist.

Radio, Musik-Trägermedien und heute Musikstreaming waren kaum im jugendschützerischen Blick. Beispielsweise kommen in der aktuellen Neufassung des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) vom April 2021 die Begriffe Musik, Tonträger, Audiomedien nicht explizit vor. Aber Musikmedien sind natürlich impliziert, wenn von Medien allgemein die Rede ist.

Jugendschutz gegenüber Musik, so er denn nötig sein sollte, wird bislang einzig der nachgehenden Möglichkeit einer Indizierung überlassen (vgl. Hajok 2016). Die BzKJ, die im Mai 2021 neu geschaffen und in die die bisherige BPjM integriert wurde, kann – dem Verbot einer Zensur folgend – erst nach einer Veröffentlichung tätig werden. So wird die durch eine Indizierung angestrebte Zugangsbeschränkung oft erst wirksam, wenn sich bereits viele Jugendliche den Inhalt angeeignet haben.

In den Narrativen des Gangsta-Raps spielen Indizierungen durchaus eine Rolle, auch wenn die Index-Listen zwar öffentlich, aber zugleich keine Werbung für Interessenten sein sollen.6 Die Indizierung ist also einerseits ein stumpfes, andererseits ein zweischneidiges Schwert des Jugendschutzes.
 

Kunst(-vorbehalt) und kulturelle Bewertung

Das Grundgesetz räumt mit Art. 5 auch der Kunst einen Vorrang vor dem Jugendschutz ein. Entsprechend steht auch im aktuellen JuSchG (§ 18 Abs. 3), dass ein Medium nicht indiziert werden darf, wenn es der Kunst dient. Bei der Abwägung hat die Bundesprüfstelle einen gewissen Entscheidungsspielraum. „Kunst“ und Musik gehen aber nicht per se Hand in Hand. So hat sich schon mancher Rapper auf den Kunstvorbehalt berufen – und im Streitfall wird das vor bzw. vom Gericht entschieden. Es gibt keine Instanz in Deutschland, die ein Werk rechtsverbindlich und allgemein akzeptiert als Kunst einordnet. Auch wenn der Kunstbegriff sehr schillernd ist, lohnt die Frage, worauf sich eine analytische Bewertung von Gangsta-Rap als „Kunst“ beziehen kann und müsste.

  1. Musik: Sind rhythmischer Groove, eventuell Elemente von Harmonik und Melodik und Sprechstil des Rappers „kunstvoll“?
  2. Text: Sind Wortwahl, Sprache, Reime etc. „kunstvoll“?
  3. Bei einem Musikvideo käme die Bildsprache und filmische Erzählweise hinzu. Auch Plattencover und Fotos im Booklet, da sie bei der Indizierung mehrfach eine Rolle spielten, können Beachtung verdienen.
  4. Der Marktwert ist noch am leichtesten zu taxieren. Er wiegt viel, aber taugt wenig als Kriterium für Kunst.
  5. Die Bedeutung eines Werkes im historischen Kontext einer kulturellen Szene, der Entwicklung eines Stils eines Musikstücks im Vergleich zu anderen etc. ist ein wichtiges Kriterium für Kunst, aber zeigt sich oft erst in zeitlichem Abstand.

Eine Bewertung des Produkts „Gangsta-Rap-Song“ als „Kunst“, das dürfte aus diesen kurzen Andeutungen klar sein, ist extrem schwierig.

Wenn bei Entscheidungen des Jugendschutzes die Frage des ideellen und kulturellen Wertes eine Rolle spielen soll, dann müsste man den kulturellen Wert im jeweiligen historischen und sozialen Kontext betrachten – also Punkt 5 der kleinen Kriterienliste im Sinne offener Cultural Studies. Dann spielt auch die Rezeptionsseite eine Rolle. Einfach gesagt: Was macht das mit den Menschen – und was machen die Menschen damit? Gibt es z.B. mögliche Zusammenhänge zwischen der sehr direkten bis beleidigenden Sprache im Rap und der Zunahme von Hate Speech unter Jugendlichen? Der Künstler kann in der Regel nicht verantwortlich dafür gemacht werden, was Menschen mit und aus seinem Werk machen. Aber wenn bestimmte Umgangsweisen bereits in das Produktions- und Vermarktungskalkül einbezogen werden, dann liegt die Verantwortung durchaus beim Schöpfer und bei der Musikindustrie.
 

Die Gretchenfrage der Wirkung

Die Prüfungen des Jugendmedienschutzes beziehen sich auf Prüfobjekte und argumentieren mit Wirkungsvermutungen, die im guten Fall eine Basis in relativ gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen haben. Aber das meiste, was wir über Musik sagen, sagen wir nicht über die Musik selbst, sondern darüber, wie wir auf Musik reagieren, also über ihre Wirkungen auf uns.7 Solche Wirkungen werden intentional und professionell genutzt – von Werbung über Militär und Filmmusik bis hin zur Musiktherapie. Reaktionen auf Musik, also „Wirkungen“, lassen sich körperlich messen: von der Ausschüttung des Glückshormons Dopamin über die Erfahrung und Beschreibung von Gefühlen bis hin zu Zuständen von Trance und Ekstase u.a. durch Hautwiderstand, Veränderung von Blutdruck und Herzschlag, Ausschüttung von Adrenalin – alles drin, in der Musik und im Menschen.
 


Das meiste, was wir über Musik sagen, sagen wir nicht über die Musik selbst, sondern darüber, wie wir auf Musik reagieren, also über ihre Wirkungen auf uns.



Diese Vielfalt möglicher positiver wie riskanter Wirkungen kann ein jugendschützerischer Blick gar nicht erfassen. Aber präventiver Jugendschutz müsste individuelle Rezeptionssituationen und Wirkungen sowie Kontextualisierungen mit in den Blick nehmen.

Die Wirkungsfrage in Bezug auf Rap beginnt bei der Verständlichkeit von Sprache; bei englischen Rap-Songs sind es ohnehin meist nur bestimmte Phrasen, die verstanden werden. Subtilere Anspielungen gehen für die meisten deutschen Hörer vermutlich verloren. Auch beim Deutschrap sind die Texte nur teilweise gut zu verstehen. Vokabular und Sprachhülsen entstammen bestimmten Szenen und sind auf diesem Hintergrund oft erklärbar „harmlos“. Aber, so fragte Claudia Mikat in einem Beitrag aus dem Jahr 2018: „Lässt sich aus einer szenesprachlichen Bedeutungsverschiebung ein entsprechendes Verständnis bei allen Jugendlichen und sogar bei Kindern schlussfolgern?“ (Mikat 2018).

Zur Wirkungsfrage ist die exemplarische Fallanalyse von Nadine Jünger (2011) interessant. Sie untermauert die These, dass soziales Umfeld und Biografie der User die Aneignung und Wirkung steuern, nicht umgekehrt. Jugendliche trennen eher zwischen dem Kunstprodukt des Porno-Raps und dem realen Leben und sind zu einer kritisch distanzierenden Rezeption in der Lage. Im Kontrast zeigt sie auch ein Fallbeispiel, bei dem ein Jugendlicher Textinhalte und Elemente der Videos als Versatzstücke für die eigene Identitätsarbeit nutzt. Das gibt zu denken.

Und im Kontext der anfangs zitierten „PuK“-Debatte wird auf eine aktuelle Studie an der Universität Bielefeld zu Antisemitismus im Gangsta-Rap verwiesen, die verlässlich mit einem Mix aus quantitativen und qualitativen Methoden arbeitet.8 Darin wird ein Zusammenhang zwischen Gangsta-Rap-Konsum und antisemitischen wie frauenfeindlichen Haltungen belegt. Über die Richtung der Korrelation, ob Einstellung eine Folge des Musikkonsums ist oder umgekehrt, kann allerdings keine klare Aussage gemacht werden. Jugendliche seien nur bedingt in der Lage, Antisemitismus in den Texten zu erkennen, und sie seien insgesamt unsicher in der Deutung der Inhalte, die Rapper in ihren Songs und über die Social-Media-Kanäle verbreiten. Die Selbstinszenierung der Rapper werde von Jugendlichen oft ernst genommen. Die Wirkungszusammenhänge seien offensichtlich, aber komplex.
 

N.W.A.: Straight Outta Compton (2009)



Kurzes Fazit aus pädagogischer Sicht

Der analytische und bewertende Blick auf Songtexte greift bei Musikrezeption und -wirkung zu kurz. Da Musik besonders Emotionen anspricht, müssen Präventionsmaßnahmen andere Wege als kognitive Aufklärung finden.

Bei der Bewertung der Texte und auch der visuellen Ausdrucksformen ist ein zentrales Problem, dass szeneübliche Codes von Wortbedeutungen, Sprachformen und Symbolik von (jungen) Menschen außerhalb – und das sind auch Akteure des Jugendschutzes – kaum angemessen entschlüsselt werden können. Aber Nichtverstehen bedeutet keineswegs wirkungslos, das zeigen die genannten Studien zumindest in Ansätzen. Hier sind weitere vor allem qualitative Forschungen und Einsichten dringend nötig.

Ein sozialpädagogischer wie jugendschützerischer Blick auf besondere Zielgruppen, z.B. sogenannte „gefährdungsgeneigte“ Jugendliche, beinhaltet eine problematische Stigmatisierung. Wenn man allerdings den angesprochenen Zusammenhang von sozialem Umfeld und persönlicher Biografie mit dem Rezeptionsverhalten ernst nimmt, dann ist das Problem möglicher Wirkungen sehr differenziert zu betrachten. Qualitative Studien in Weiterführung der erwähnten müssten viel mehr Aufschluss über solche Zusammenhänge geben.

Pädagogische Konsequenzen daraus werden weniger verbietender Art sein, weil man nicht (Musik‑)Medien nur für bestimmte Gruppen von Jugendlichen unzugänglich machen kann. Zu Recht gibt es bis heute kein anderes Distinktionsmerkmal des Jugendschutzes als das Alter.

Wieder einmal steht die Förderung kritischer Medienkompetenz obenan. Aber sie muss auch Emotionen erreichen. Wenn man mit Jugendlichen zusammen ihre Rap-Songs anhört, Texte genauer liest, Videos analysiert, dann ist das eine sensible pädagogische Aktion zwischen Ernstnehmen von „emotionalen“ Vorlieben und kritischer Aufklärung.9 Am besten ist es, wenn Jugendliche selbst die Kritik formulieren. Das rückt in die Nähe der Ansätze von Peer-Education, um möglicherweise riskante Rezeptionsweisen junger Menschen aufzubrechen.

Die Diskussion um frauenverachtende, gewaltverherrlichende, antisemitische, homophobe etc. Texte und Visualisierungen – auch über verschlüsselte Andeutungen, ironische Wendungen und entsprechende Social-Media-Inhalte in diese Richtungen – muss gesellschaftlich auch mit den Künstlern, den Verantwortlichen der Musikindustrie und den Streamingplattformen geführt werden. Diese Ebene von Verantwortung ist vermutlich gemeint, wenn der Generalsekretär des Deutschen Musikrates von „Machtmissbrauch“ spricht. An dieser Stelle könnte eine Freiwillige Selbstkontrolle für den Bereich der Musikwirtschaft hilfreich sein, um in einen Dialog auf Augenhöhe zu kommen.10
 

SHIRIN DAVID: Ich darf das (2021)



Anmerkungen:

1) Ein promovierter Musikwissenschaftler und praktizierender klassischer Musiker mit Namen Klaus Miehling verschickt seit 2007 regelmäßige Mailinginfos unter dem Titel „Gewaltmusik-Nachrichtenbrief“ (bis heute 720 an der Zahl). Für ihn fördert jede Art von Popmusik Aggression und Gewalt (abrufbar unter: https://klausmiehling.hpage.com ). Nicht nur sachlich, sondern auch durch seine Verknüpfungen mit diversesten Verschwörungstheorien disqualifiziert sich Miehling als ernst zu nehmender Gesprächspartner.

2) Vgl. die Internetseite www.schwabinger-gisela.de – hier kann man ihre Lieder anklingen lassen. Einen Wikipedia-Eintrag zur Schwabinger Gisela gibt es auch.

3) Jenni Zylka schreibt unter dem Titel Sie dürfen das (2021) über die Selbstermächtigung junger Rapperinnen, die Begriffe wie „Hure“ oder „Bitch“ umgedeutet auf sich beziehen und in Sachen Körperlichkeit und Darstellung die männlich dominierten Normen neu interpretieren und sich entsprechend verhalten. Aber können sie auch den männlich-voyeuristischen Blick darauf umdrehen? – Die #MeToo-Debatte scheint bei der (nach wie vor männlich dominierten) Produktion von Musikbildern keine Veränderung bei klischeehaften Frauenbildern erbracht zu haben, das zeigt eine Analyse von Patrick Rössler (2020).

4) 2018 hat Bushido auf dem Rechtsweg eine Listenstreichung seines 2014 indizierten Albums Sonny Black (Bushidos Pseudonym) erreicht. Die Indizierung wurde damit begründet, dass die Texte einen kriminellen Lebensstil und Drogenhandel verherrlichen sowie Frauen und homosexuelle Menschen diskriminieren. Die Klage beruft sich auf die Kunstfreiheit, argumentiert aber letztlich mit einem Verfahrensfehler: Im Beurteilungsspielraum zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit hatte die BPjM es versäumt, den Textern und Komponisten Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben. Die öffentliche Berichterstattung diente dem Profit des Labels und des Rappers.

5) Der Film Zeiten ändern dich wurde 2010 von der Kritik heftig verrissen, zeigt aber auf platte Weise das typische Narrativ eines Gangster-Rappers. Sehr viel authentischer und typischer ist die Filmstory (2015) der Westcoast-Rapper von N.W.A. (= „Niggaz with Attitude”) mit dem Titel Straight Outta Compton des gleichnamigen Albums von 1988. Die Netflix-Serie Hip-Hop Evolution zeigt von den Anfängen in den 1970er-Jahren über den Aufstieg des Gangsta-Raps in den 1980er-Jahren bis zur Jahrtausendwende drei Jahrzehnte amerikanischer Hip-Hop-Geschichte.

6) Auf entsprechenden Internetseiten werden Musikindizierungen aufgelistet (z.B. in einer Wikipedia-Liste oder unter www.schnittberichte.com). Außerdem sind bei den bekannten Streamingdiensten die Titel indizierter Alben problemlos anzuhören. Oft war der Anlass für die Indizierung ja „nur“ ein Song oder das Cover bzw. Bilder im Booklet. Und die Texte der entsprechenden Songs sind mit dem Zusatz „Lyrics“ meist problemlos im Netz zu finden. Aber nachhaltig an Information Interessierte gehören eher nicht zur Gefährdungsgruppe, auch wenn sie jugendlich sind (das ist eine unbelegte Diskussionsthese).

7) Diese Aussage ist eine leichte Abschwächung eines Zitats aus einem Interview des Dirigenten Daniel Barenboim (2002): „Alles, was wir über die Musik sagen, sagen wir nicht über die Musik selbst – sondern darüber, wie wir auf Musik reagieren.“

8) Vgl. Grimm (2020). Eine kurze Zusammenfassung geben Grimm/Baier (2021/2022)

9) Ein Beispiel zum Thema „Misogynie“ wäre Shirin Davids Video Ich darf das. Abrufbar unter: https://www.youtube.com. Aber das in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe von Jugendlichen im Pubertätsalter aufzugreifen, ist sicher kein leichtes Unterfangen.

10) Die Onlineversion dieses Beitrags ist geringfügig ausführlicher als die Printversion (= PDF-Download).
 

Literatur:

Barenboim, D.: „Musik ist gefährlich“. Gespräch zwischen Daniel Barenboim und Ralph Bollmann: In: taz, 20.03.2002. Abrufbar unter: taz.de

Deutscher Kulturrat: Politik & Kultur. Zeitung des Deutschen Kulturrates. 12/21–1/22. Abrufbar unter: www.kulturrat.de

Grimm, M.: Die Suszeptibilität von Jugendlichen für Antisemitismus im Gangsta Rap und Möglichkeiten der Prävention. Bielefeld 2020. Abrufbar unter: https://www.uni-bielefeld.de

Grimm, M./Baier, J.: Antisemitismus im deutschsprachigen Hip-Hop. In: Politik & Kultur, 12/21–1/22, S. 5

Hajok, D.: Musik auf dem Index. Zahlen und Argumentationen zur Indizierung von Tonträgern. In: tv diskurs, Ausgabe 77, 3/2016, S. 72–77

Hartmann, A.: Battle-Rap als neuer Mainstream. In: tv diskurs, Ausgabe 85, 3/2018, S. 60–65

Jünger, N.: Porno-Rap: Identifikation mit Inhalten oder Musik? Eine Fallanalyse zur sexuellen Sozialisation. In: tv diskurs, Ausgabe 57, 3/2011, S. 20–25

Mikat, C.: Unfassbar nice!? Tabubrüche im Battle-Rap und Jugendschutzaspekte. In: tv diskurs, Ausgabe 85, 3/2018, S. 66–67

Rössler, P.: #ThemToo? Weibliche Rollenbilder in internationalen Musikvideos. In: tv diskurs, Ausgabe 91, 1/2020, S. 72–78

Seeliger, M.: Soziologie des Gangstarap. Popkultur als Ausdruck sozialer Konflikte. Weinheim/Basel 2021

Zylka, J.: Sie dürfen das. In: tv diskurs, Ausgabe 98, 4/2021, S. 6–9