Medien als Waffe

Gefakte Kriegsdarstellungen aus der Sicht des Medien- und Völkerrechts

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Rolf Schwartmann

Die Gründe, die ein Land vorgibt, um ein anderes militärisch anzugreifen, wurden schon immer so hingebogen, dass man damit zumindest die eigene Bevölkerung mobilisieren und motivieren konnte. Im Zweiten Weltkrieg wurde der angebliche Überfall Polens auf einen deutschen Radiosender als Kriegsgrund vorgeschoben, und aus dem Angriffskrieg wurde ein Verteidigungskrieg. Kriegsparteien versuchen, Medienbilder, Informationen und Positionen so zu manipulieren, dass die eigene Position möglichst positiv wahrgenommen wird. Durch private Posts in sozialen Medien ist nun eine neue Dimension der Informationsbeschaffung hinzugekommen. Nach dem internationalen Völkerrecht und dem Medienrecht der Staaten gibt es für Kriegspropaganda und Aufforderung zur Gewalt rechtliche Grenzen. Was bedeutet das mit Blick auf die staatlich betriebene Kriegspropanda und die sozialen Netzwerke? tv diskurs sprach darüber mit Dr. Rolf Schwartmann, Leiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht, Professor an der Technischen Hochschule Köln und Privatdozent an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit der Venia Legendi im Öffentlichen Recht sowie im Völker- und Europarecht.

Online seit 11.04.2022: https://mediendiskurs.online/beitrag/medien-als-waffe-beitrag-772/

 

 

Der Vietnamkrieg wurde nicht zuletzt beendet, weil Fernsehbilder dessen Grausamkeiten in die Wohnzimmer der USA brachten. Heute wird das mediale Angebot noch um die sozialen Medien erweitert. Was hat das für Konsequenzen?

Durch die Medien gewinnt Propaganda vor allem Reichweite, und Medien können als eine Art Waffe eingesetzt werden. Das Medienumfeld hat sich gewandelt. Neben der journalistischen Berichterstattung in Presse und Rundfunk sind privat verbreitete Inhalte vor allem über soziale Netzwerke hinzugekommen. Völkerrechtlich müssen wir hier zum einen die Ebene der Staaten untereinander betrachten. Die Frage nach Kriegspropaganda stellt sich hier und muss im Rahmen des Völkerrechts nach dessen Maßstäben beantwortet werden. Die Zuordnung von Inhalten, die über soziale Netzwerke verbreitet werden, ist oft schwierig. Das ist für jede rechtliche Einordnung ein Problem. Allgemeine Geschäftsbedingungen der Diensteanbieter, nach denen bestimmte Aussagen herausgefiltert und im Zweifelsfall gesperrt werden können, sind eine Art faktische Parallelrechtsordnung zum Völkerrecht.

Und nach diesen allgemeinen Geschäftsbedingungen hat Facebook russische Propaganda aus dem Angebot eliminiert.

Facebook bewertet die Inhalte insbesondere nach eigenen Kategorien. In deren allgemeinen Geschäftsbedingungen ist zivilvertraglich im Verhältnis zu den Nutzern geregelt, was man unter Berücksichtigung des virtuellen Hausrechts sagen darf und was nicht. Normalerweise geht es da etwa um verbotene Hassbotschaften an der Grenze zur noch zulässigen drastischen Meinungsäußerung. Dazu gibt es Rechtsprechung bis hin zum Bundesgerichtshof und einen Rechtsrahmen, etwa das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und künftig den Digital Services Act der EU. Dem muss sich das „Hausrecht“ unterwerfen, wenn es regelt, was man zulässigerweise verbreiten darf. Wenn Facebook zum Beispiel die Aussage: „Tod den russischen Invasoren“ zulässt, dann ist das ein Gewaltaufruf, der nach den Kategorien des Rechts nicht erlaubt ist: Da kommt auch die Frage ins Spiel, was das Kriegsrecht zulässt und welche Rolle soziale Netzwerke im Krieg haben. Sie können leicht zur Eskalation beitragen und tragen faktisch eine große Verantwortung.

Viele dieser Botschaften erfordern eine breite, oft kontroverse Diskussion. Nehmen wir das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“: Das hat die Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht beschäftigt. Und dann muss ein armer Mitarbeiter von Facebook, der unter Einsatz Künstlicher Intelligenz wahrscheinlich tausende Inhalte herausgefiltert und vorgelegt bekommt, entscheiden, ob das jetzt gesperrt wird oder nicht.

Ja, so ist das. Diese Bundesverfassungsgerichtsentscheidung „Soldaten sind Mörder“ stammt aus dem Jahr 1995 und muss in einem bestimmten Kontext verstanden werden. Da ging es um die Frage, wie Kollektivbeleidigungen vor dem Hintergrund dieses Zitats an der Grenze der Meinungsfreiheit zu sehen sind. Letztlich auf der Grundlage dieser Entscheidung spielen sich auch heute noch Streitigkeiten um die Reichweite der Meinungs- und Kunstfreiheit, etwa zwischen Böhmermann und Erdogan, ab. Ausgangspunkt war das Schmähgedicht Böhmermanns in der ZDF-Sendung Magazin Royal aus dem Jahr 2016, in dem Böhmermann Erdogan unter der Überschrift der Satire mit Pädophilie und Sodomie in Verbindung brachte. Nach einer Klage Erdogans wurden von verschiedenen Gerichten bis hin zum Bundesgerichtshof einige Passagen des Gedichts verboten. Dagegen wehrte sich Böhmermann bis zum Bundesverfassungsgericht. Seine Position wurde mit der Entscheidung vom 10. Februar 2022 nicht zugelassen, weil das zuständige Dreiergremium keine Aussicht auf Erfolg für Böhmermann sah.1

Bei den sozialen Netzwerken haben wir das zusätzliche Problem, dass zunächst nicht Richter entscheiden, sondern die Beschäftigten von Facebook, die letztlich das Hausrecht als eine Art Parallelrechtsordnung administrieren. Und die gerichtliche Überprüfung greift in den allermeisten Fällen nicht, weil sie zu spät oder gar nicht kommt. Lenkt man dabei den Blick auf die Aussagen zu Kriegshandlungen, dann ist das insofern gefährlich, als es sich dabei auch um eine Art von Kriegseingriffen handelt. Hass und Hetze bei Facebook sind auch in friedlichen Zeiten schlimm und können zu sehr viel Unfrieden und Eskalationen führen. Aber in Kriegszeiten kann die Eskalation mit Blick auf die russische Administration durch nicht kalkulierbare Aussagen sehr gefährlich werden.

Es ist ja auch sehr problematisch, wenn sich Private im Rahmen von „Fremdenlegionen“ auf den Weg machen und in den Krieg in der Ukraine eingreifen. Klar ist, dass man gerne helfen möchte. Aber Kriegsverhinderung und Wahrung von Frieden sind in erster Linie eine Staatsangelegenheit. Auch Hacker sollten sich da nicht nach privatem Gutdünken betätigen. Wenn ein Hacker in Russland Ziele angreift und möglicherweise ein Krankenhaus schädigt, in dem auch Zivilisten versorgt werden, hat er eine massive Provokation erzeugt und möglicherweise großen Schaden angerichtet, weil das gegebenenfalls zu einem Gegenschlag führen könnte. Private Hacker sind keine Völkerrechtssubjekte. Ihr Verhalten könnte vielleicht auch Staaten zugerechnet werden. Das setzt sich fort bei der Verbreitung von Hass und Tötungsaufrufen gegenüber Soldaten. Die Rechtsordnung billigt das so nicht.

Die Staaten haben sich verpflichtet, Kriegspropaganda gesetzlich zu verbieten. Aber in Ländern wie Russland, in Belarus und im Iran werden Journalisten verhaftet, oppositionelle Politiker werden nicht zu Wahlen zugelassen. Es werden nur Medien und Meinungen verbreitet, die der Staatsmeinung entsprechen. In Russland war das seit Langem absehbar, denken wir daran, wie Putin mit Nawalny umgegangen war. Ist es nicht ein bisschen naiv zu glauben, dass beispielsweise in Russland das Verbot von Propaganda von irgendjemandem angezeigt oder verfolgt wird? Was bringt da das Recht?

Das müssen wir auf zwei Ebenen betrachten. Die erste, juristisch sehr wichtige Frage ist: Was ist überhaupt Kriegspropaganda? Der internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte legt fest, was Sie gesagt haben: Die Staaten verpflichten sich, Kriegspropaganda zu verbieten. Aber was ist Kriegspropaganda? Das ist nicht definiert. Putin verdreht die Fakten auf eine Weise, dass in Russland noch nicht mal von Krieg die Rede ist, sondern von einer militärischen Operation. Aus meiner persönlichen Sicht ist das Kriegspropaganda. Aber das ist letztlich meine Wertung.

In diesem Pakt über internationale bürgerliche und politische Rechte hat man auf eine Definition der Kriegspropaganda verzichtet, weil man sich darauf ohnehin nicht hätte einigen können. Dass der ukrainische Präsident Selenskyj die Welt um Hilfe bittet und sagt: Das, was die Russen da gerade bei uns tun, ist grausam und wir brauchen Hilfe, ist aus meiner Sicht keine Kriegspropaganda, obwohl er damit in die Angelegenheiten Russlands eingreift. Nach der offenkundigen Intervention ist das die Wahrnehmung eines Verteidigungsrechts, das er nach dem Völkerrecht hat. Aber all diese Fragen sind am Ende Wertungsfragen und werden in Russland und in Ländern, die den Russen näherstehen als die westlichen Staaten, anders beantwortet als von mir und westlichen Kolleginnen und Kollegen. Dazu muss man nüchtern sagen, dass das Völkerrecht oft keine präzisen Definitionen kennt, weil man sich darauf nicht hätte einigen können. Das Völkerrecht hat ohnehin eine ganz andere Struktur als nationales Recht. Es ist häufig wie ein neutraler Beobachter.

Das führt zur nächsten Frage: Wie bewerten wir es, wenn ein Staat in seinem Hoheitsbereich nur die Informationen zulässt, die ihm genehm sind? Wir sind im Westen verwurzelt in dem Gedanken des Free Flow of Information: Informationen dürfen frei verbreitet und empfangen werden, abgesehen von wenigen engen Schranken. Außerdem gilt die Staatsfreiheit der Medien, die ist in der DNA unseres Grundgesetzes und in Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention angelegt. Aber das sind nur die westlichen Werte. Jetzt kann man nicht sagen, dass die Werte, die wir zugrunde legen, den anderen Werten auf der Welt grundsätzlich überlegen und allein richtig wären, sondern sie sind nur aus unserer Sicht richtig. Das andere Prinzip, das dem gegenübersteht, kennt man im Völkerrecht als Prior Consent: Die Staaten entscheiden selbst, welche Informationen in und von ihrem Territorium verbreitet werden dürfen. Das kennen wir aus China und Russland traditionell. Für Russland bestand die Besonderheit, dass es sich als Mitglied des Europarates in der Europäischen Menschenrechtskonvention auf den Free Flow of Information verpflichtet hat. Aber Russland ist dort nicht mehr Mitglied. Das Land ist deshalb völkerrechtlich frei, diesen Grundsatz des Free Flow of Information nicht mehr anzuerkennen. Das Völkerrecht kennt hier keine feste Wertung nach dem Motto: Das eine Prinzip ist Recht und das andere ist Unrecht. Das eine gibt es, aber das andere gibt es auch, ohne eine rechtliche Bewertung aus völkerrechtlicher Sicht.

Putin behauptet zur Begründung des Krieges, in der Ukraine seien Nazis und Drogenabhängige an der Macht, die im Nordosten an den dort lebenden Russen massenhaft Völkermord begangen hätten. Es gab dort wohl viele Tötungen, aber es ist nicht geklärt, wer dahintersteckt. Kann man so etwas einfach behaupten, ohne es zumindest ansatzweise zu belegen?

Was es damit auf sich hat, ob ein Tatsachenkern vorhanden ist, bis zu der Frage, ob die ukrainische Regierung gegebenenfalls davon wusste, kann ich nicht sagen. Zu Putins Argumenten kann man nach meiner Einschätzung bezüglich einer Einordnung als Kriegspropaganda nur sagen: Das Maß ist voll und an vielen Stellen hat er die Grenze zur Kriegspropaganda überschritten. Aber diese Bewertung hat sich bei mir als eine Art Negativwertung durchgesetzt: Wenn das, was die russische Administration verbreitet, keine Kriegspropaganda ist, dann weiß ich nicht, wo die Grenze überschritten sein soll. Wenn man das ohne Beweise behauptet, muss man völkerrechtliche Gegenreaktion akzeptieren. Diese liegt etwa im Aussperren russischer Medien aus der EU, was man vor dem Hintergrund des Free Flow of Information natürlich auch kritisch sehen kann.

Journalistenorganisationen sehen die Sperrung der russischen Staatsmedien RT und Sputnik kritisch:2 Die Demokratie muss aushalten, dass solche Propaganda hier gesehen werden kann, so die Position. Ein praktisches Beispiel: Jemand lebt in Deutschland und hat Verwandte in Russland – er kann die Medien, die in Russland gesendet werden, nicht bewerten, weil sie in Deutschland ausgesperrt sind. Es ist eine völkerrechtlich vertretbare Position zu sagen: Wir verstehen das, was Putin macht, als Kriegspropaganda und darauf können wir völkerrechtlich reagieren. Die politische Entscheidung besteht darin, dass man hier nicht sieht, was in Russland gesagt wird.

Es ist für mich schwer, hier eine Position zu beziehen, von der ich sagen kann, dass sie unanfechtbar ist. Denken Sie an den dem westlichen Werten verpflichteten Donald Trump, der am Ende seiner Amtszeit Twitter verbieten wollte, aus Gründen seiner Selbsterhaltung. Kommunikationswege zu beherrschen, ist nicht nur ein Thema in Russland oder China.

Russia Today gibt es seit 2005 ohne Lizenz in Deutschland. Und plötzlich, kurz bevor der Ukrainekrieg begann, kam die Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg und sagte: Ihr müsst abschalten, weil ihr keine Sendelizenz habt. Das wissen wir seit vier Jahren und haben nichts unternommen. Sieht das nicht ein bisschen wie ein Akt der Zensur aus? Gibt man Putin dadurch nicht das Argument: Seht mal, die machen das doch auch?

Wann ist es geschickt, Zwang auszuüben gegen die Freiheit unter Gleichen? Jetzt kann man sagen, Putin macht das ständig, da geschieht es ihm recht, wenn wir das auch mal mit ihm machen. Zugleich muss man sich fragen: Muss ich, wenn einer einen Stein wirft, einen Stein zurückwerfen und wie soll man das tun? Zumindest gab es eine Rechtsgrundlage für die Reaktion der EU.

Kann RT-Deutschland im Konzert mit all den freien und kritischen Medien in Deutschland oder in Europa nicht ausgehalten werden?

Sie brechen eine Lanze für den Gedanken des Pluralismus und die Vielfalt. Das durchzieht auch unser Medienrechtssystem und ist dort eine tragende Säule. Wenn jeder eine Stimme haben darf und das mit wirtschaftlich vernünftigen Mitteln verbreitet werden kann, dann muss das Konzert aller Stimmen insgesamt dazu führen, dass sich jeder seine Meinung bilden kann. Und dafür ist es eben auch erforderlich, dass jede Stimme zu Wort kommt. Und dann, so die Hoffnung, ist der mündige Rezipient in der Lage, die Informationen einzuordnen. Und in einem freiheitlichen System muss man eben schwierige Stimmen aushalten können, die dann letztlich im Kontext aller Meinungen entlarvt werden und sich dann auch nicht durchsetzen. Aber wenn Sie nicht den Mut haben, bei einem anderen Menschen auszuhalten, dass er in Freiheit eben Dinge tut oder Meinungen verbreitet, die Sie nicht schätzen, dann müssen Sie sich immer fragen: Welche Möglichkeit habe ich, dem etwas entgegenzusetzen? Und gerade im Völkerrecht haben wir anders als im innerstaatlichen Recht keine Durchsetzungsmöglichkeit. Wir haben hier keinen Gerichtsvollzieher, der ein Urteil vollstrecken kann. Wir haben im Völkerrecht eine Rechtsordnung unter Gleichen, die auf Akzeptanz und Freiwilligkeit angelegt ist. Unter Gleichen richtet niemand über einen anderen.

Biden hat bei seinem Besuch in Polen gesagt, er könne sich nicht vorstellen, dass Putin weiterhin Präsident Russlands bleibt. Das Weiße Haus hat dann sofort dementiert, einen Systemsturz herbeiführen zu wollen. Viele Menschen denken: Gott sei Dank spricht das mal jemand aus. Man kann sich schwer vorstellen, mit Putin über einen Waffenstillstand zu verhandeln, zumal man ihm nichts glauben kann. Aber ist das geschickt?

Ein Risiko ist es definitiv. Was ist ein probates Mittel der Kommunikation in solchen Krisensituationen? Da gibt es die Administration der Vereinigten Staaten, die auf Diplomatie angewiesen ist. Der Präsident hat natürlich die Möglichkeit, jederzeit und überall alles zu sagen. Er hat aber damit auch die Möglichkeit, den Diplomaten in seiner Administration das Leben schwerzumachen. Die Frage ist: Hat er sich das gut überlegt und kann er die Verantwortung übernehmen? Dieser Satz stand wohl nicht im Protokoll und war nicht vorgesehen. Diese Meinung Bidens halten viele in der westlichen Welt für richtig. Eine andere Frage ist, ob es nicht als unzulässige Intervention gedeutet werden kann, wenn der amerikanische Präsident sagt: Wir werden mit dir nicht weiterarbeiten. Heißt das im Umkehrschluss: Wir werden dich entmachten, wir entfernen dich aus dem Amt. Das kann man ja, wenn man das zuspitzen will, als eine Kriegserklärung deuten, nach dem Motto: Wir entmachten dich. Wir verhandeln nicht mehr mit dir und du hast auch auf dem Posten nichts mehr zu suchen. Jetzt kann man sich die Frage stellen: Ist das zulässig oder nicht, ist das diplomatisch oder nicht? Auf jeden Fall ist die Äußerung riskant.

In der medialen Selbstdarstellung geht es um Staaten und deren Präsidenten, die sich untereinander eine Propagandaschlacht liefern: Hier geht es um Putin versus Selenskyj. Kann man nicht sagen, dass Selenskyj den Medienkrieg bisher schon eindeutig gewonnen hat? Zumindest im Westen?

Putin setzt die Medien ein. Er kann dabei allerdings nur seine eigenen Medien instrumentalisieren. Die freie Welt bietet dagegen Selenskyj eine Bühne, aber auch der mutigen Journalistin Marina Ovsyannikova, die in den Nachrichten ein Schild gegen den Krieg und die russische Propaganda hochgehalten hat. China hält sich eher zurück. Hat Selenskyj diesen Medienkrieg gewonnen? Ich weiß nicht genau, ob man von Gewinnen oder Verlieren reden kann. Beide Seiten setzen Medien als eine Art Waffe ein. Und aus meiner Sicht ist es so, dass Selenskyj nach dieser Intervention sein Land auch mithilfe der Medien verteidigt. Das ist eine Art Verteidigung durch die Ukraine. Aber hat er den Krieg gewonnen? Der Medienkrieg ist ja keine militärische Kategorie. Er setzt die Medien geschickt, gut und sinnvoll ein. Wenn er allerdings weltweit dazu aufruft, Flugverbotszonen über der Ukraine zu errichten oder komplett auf russisches Öl und Gas zu verzichten, verlangt er viel. Das ist auch schwierig, weil es letztlich in einer Eskalation des Kriegsgeschehens münden kann. Der Wirtschaftsminister hat es ja mit Blick auf Wirtschaftssanktionen pointiert gesagt: Wir sind so gesehen Kriegspartei.

Das weiß Selenskyj ja auch. Und ich glaube, er meint das mehr symbolisch. Er will uns ein schlechtes Gewissen machen und uns so motivieren, auf anderer Ebene mehr zu tun, beispielsweise bei Waffenlieferungen, was ja vor dem Krieg völlig unmöglich gewesen wäre. In seinen Videoauftritten im Bundestag, im britischen Unterhaus und im US-Kongress hat er mehr Einsatz gefordert, sich aber gleichzeitig auch für die Hilfe bedankt. Und er hat schon viel bekommen. Aber er kam glaubhaft und sympathisch rüber und wurde in manchen Medien wie ein Held gefeiert.

Das ist richtig. Die Welt schaut hin und er hat die Bühne. Die Sympathien und auch das Recht sind eindeutig auf seiner Seite. Dass in der Situation die westliche Welt jede Form von Beistand leistet, die möglich ist, ist wichtig und richtig. Auch die Klitschkos machen das auf ihre Weise geschickt. Sie sind auch Medienprofis. Zudem gibt es die Kriegsberichterstattung. Klar ist, dass es sehr gefährlich ist, aus den Kriegsgebieten zu berichten.

Das Darknet ist in Deutschland eher als ein kriminelles Element bekannt, in dem sich Menschen tummeln, die Drogen verkaufen oder Waffen erwerben wollen. Nun will Twitter in Russland wohl das Darknet nutzen.

Das Darknet ist für sich betrachtet neutral und „unschuldig“. Man darf da nur nichts Böses tun. Das darf man aber auf dem Bahnhofsvorplatz unter aller Augen auch nicht, das Recht gilt hier und dort. Das Darknet zu verteufeln, ist für meine Begriffe nicht richtig, problematisch ist oft, was im Darknet geschieht. Es gibt gute Gründe, warum jemand unter Verschleierung seiner Identität im Netz unterwegs sein will. Und es gibt auch gute Gründe, warum der Staat das oft nicht akzeptieren möchte. Was im Darknet geschieht, sind aber nicht per se verbotene Handlungen. Jetzt hat das Darknet den Ruf, dass alles, was dort geschieht, automatisch böse ist. Das stimmt aber nicht. Und man sieht jetzt gerade an dieser Debatte, nachdem man sich eingeschossen hat auf die Formel „dunkle Machenschaften gleich Darknet“, dass das so nicht stimmt. Auch der Tor Browser wird für meine Begriffe zu Unrecht gescholten. Für mich ist es begrüßenswert, dass Twitter, ohne auf Inhalte einzugehen, den Nutzern in Russland die Möglichkeit verschafft, den Dienst über den Tor Browser zu nutzen und der Freiheit eine Tür aufzumachen.

Es gibt im Journalismus verschiedene Diskussionen darüber, wie man die Berichterstattung unabhängiger von Redaktionen, von Kommerz und Konzernen, aber auch von politischer Einflussnahme machen kann. Einer diese Ansätze ist, dass man ein Web 3 aufbauen will, das wie Kryptowährung über Blockchains funktioniert. Und die Rechenleistung wird nicht mehr über die Großrechner der Konzerne geleistet, sondern dezentral bei den Nutzenden, die daran teilnehmen. So will man den Einfluss von außen minimieren. Würde das auch in der gegenwärtigen Situation in Russland helfen?

Ein solches System müsste ja vom Staat unterstützt und von den privaten Interessengruppen akzeptiert werden. Die russische Administration wird natürlich alles unterbinden, was die Instrumentalisierung und Steuerung der Informationen in ihrem Herrschaftsbereich stört.

Nach dem Völkerrecht ist es verboten, auf Zivilisten zu schießen. In der Ukraine wird das aber gemacht, soweit wir das beurteilen können. Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten wurden angegriffen, in Butscha wurden Zivilisten grausam ermordet, offenbar gab es massenweise Vergewaltigungen. All das ist völkerrechtlich verboten. Wenn das Recht verfolgt und durchgesetzt würde, hätten wir viele dieser Gräueltaten wahrscheinlich nicht, da die Täter mit Strafen rechnen müssten. Wir hatten Ähnliches ja auch schon in Grosny, in Aleppo oder in Georgien. Und die Weltgemeinschaft hat nicht wirklich aufgeschrien. Was nützt ein solches Recht, wenn es keine Möglichkeit gibt, es durchzusetzen? Müssen wir nicht darauf hinarbeiten, durch eine internationale Rechtsprechung und ein internationales Gericht solche Rechtsbrüche notfalls militärisch zu ahnden? Der internationale Strafgerichtshof konnte beispielsweise Milošević und Karadžić nur verurteilen, weil die Nato den Krieg gewonnen und die beiden festgenommen hatte.Nach den massiven Menschenrechtsverletzungen durch die russischen Truppen in Butscha soll der Menschenrechtsrat der UN nun mit der Beweisaufnahme beginnen. Der BND hat russische Funkgespräche abgehört, die nahelegen, dass es sich um eine militärische Strategie3 und nicht um die Verbrechen einzelner Soldaten handelt. Nun wird gefordert, dass Russland aus dem Rat ausgeschlossen wird4. Dazu braucht man aber eine Dreiviertelmehrheit.

Das erste, was man im Völkerrecht lernt, ist Demut. Es gibt in den Vereinten Nationen den Sicherheitsrat, dessen ständige Mitglieder sind China, die USA, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Russland. Jeder muss einer Maßnahme zustimmen, damit sie durchgesetzt werden kann. Jeder hat ein Vetorecht. Weil aber wie beim Ukrainekrieg immer eine Partei aus diesem Block dabei ist, die an einem Konflikt beteiligt ist, werden Sie in der Regel eine solche Zustimmung nicht bekommen. Ist das gut oder schlecht? Das hat uns zumindest global betrachtet, seit es die Vereinten Nationen gibt, weltweit vergleichsweise friedliche Verhältnisse beschert. Der Völkerbund war zuvor gescheitert, weil die USA ihn zwar initiiert, aber am Ende abgelehnt haben.5 Die UNO sichert den Weltfrieden grundsätzlich erfolgreich. Das heißt nicht, dass es nicht ganz entsetzliche Konflikte gibt und gab, aber es gab immerhin keinen Weltkrieg mehr. Ist das ein gutes oder schlechtes System? Gleiche haben es hier mit Gleichen zu tun und die richten nicht übereinander. Wenn Sie den Russen sagen: Ihr müsst euch jetzt einer Rechtsordnung unterwerfen, dann werden Sie dort ebenso auf Ablehnung stoßen wie umgekehrt. An der Stelle haben Sie das Problem des Völkerrechtlers. Dann können Sie sich entweder nur einigen oder trennen und im schlimmsten Fall gibt es Krieg. Da fragt man sich vielleicht zu Recht: Was bringt so ein Recht?

Ein anderes Beispiel ist das Folterverbot. Es gilt universell für alle Völker als verbindliches Recht. Niemand wird das bestreiten. Das Folterverbot besagt: Ein Staat darf nicht unter Androhung von körperlicher oder psychischer Gewalt Menschen zu Aussagen drängen. Es gibt gute Gründe zu behaupten, die USA hätten das Verbot in Guantánamo verletzt. Immerhin müssen sich Staaten aber für Handlungen rechtfertigen. Auch wenn sie behaupten, nicht gegen ein Recht zu verstoßen, belegt die Rechtfertigung die Existenz und Akzeptanz des Rechtssatzes. Man erhält so das Recht und den Druck, es zu wahren. Das ist ein Wert. Der Austritt Russlands aus dem Europarat und damit die Entpflichtung von den Werten der Europäischen Menschenrechtskonvention zeigt die Alternative auf. Der Europarat ist eine friedenstiftende Vereinigung von europäischen Staaten und anders als in der EU war neben der Türkei auch Russland dabei. Es gab immer Konflikte zwischen der Mehrheit der Staaten im Europarat und Russland. Es gibt sie auch mit der Türkei. Das liegt an unterschiedlichen Werten, die man einander oft nicht vorwerfen kann. Wenn Sie zum Beispiel die Frage anschauen, wie man in Russland zur Frage Genderpolitik und zum Umgang mit Homosexualität steht, dann kommen Sie nicht überein. Diesbezüglich hat Russland eine ganz andere Betrachtung als westliche Demokratien. Man kann sagen: Mir gefällt die westliche Haltung besser, und das unterschreibe ich sofort. Wir haben aber weder das Recht noch die reelle Chance, anderen Staaten unser Recht und unsere Werte aufzudrängen. Der Austritt Russlands aus dem Europarat hat sich gewissermaßen angekündigt.

Betrachten wir es nüchtern: Wenn man unterschiedliche Werte hat, dann hat man es in einem gemeinsamen Wertebündnis schwer. Denn: Je offener das Wertebündnis für Mitglieder mit unterschiedlichen Werten ist, desto offener und unspezifischer müssen die Werte sein. Diese Realität akzeptiert das Völkerrecht und sichert das durch ein Interventionsverbot ab. Ich glaube, im Völkerrecht gibt es keine andere Möglichkeit. Mit Bedacht und den Mitteln des Völkerrechts klare Kante gegen Russland zu zeigen und klarzumachen, so geht das nicht, ist der Weg, den man mit Maßnahmen auf Basis des Rechts beschreiten sollte. Das meine ich, wenn ich sage: Im Völkerrecht lernt man Demut vor der Realität.
 

Anmerkungen

1) Vgl. Rolf Schwartmann: Böhmermann und Künast – Kein neuer Rechtsrahmen für Satire. In: Web.de, 11.02.2022. Abrufbar unter web.de

2) Vgl. Reporter ohne Grenzen: RSF sieht EU-Verbot von RT und Sputnik kritisch. Pressemitteilung vom 28.02.2022. In: Reporter ohne Grenzen, abrufbar unter: www.reporter-ohne-grenzen.de

3) Vgl. ntv: BND: Butscha-Morde als Strategie. Soldaten besprachen Tötung von Zivilisten per Funk. In: ntv, 07.04.2022. Abrufbar unter: www.n-tv.de

4) Vgl. Antja Passenheim: Schmeißt Russland endlich raus! In: tagesschau, 06.04.2022. Abrufbar unter: www.tagesschau.de

5) Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung: Vor 100 Jahren: Gründung des Völkerbundes. In: bpb, 17.12.2019. Abrufbar unter www.bpb.de

Dr Rolf Schwartmann ist Professor an der Technischen Hochschule Köln. Dort leitet er die Forschungsstelle für Medienrecht. Außerdem ist er Privatdozent an der Johannes Gutenberg Universität Mainz mit der Venia Legendi im Öffentlichen Recht sowie im Völker- und Europarecht.

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der Fachzeitschrift TV DISKURS.