Krankheitsbilder im Internet: das Tourettesyndrom

Aufmerksamkeit wichtiger als realistische Information?

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Kirsten Müller-Vahl

Wer sich heute über Krankheiten informieren will, schaut gern im Internet nach. Dort klären Fachleute, medizinische Foren oder Selbsthilfegruppen über alle möglichen Krankheiten auf. Nutzt ein Betroffener seine Krankheit, um einen Social-Media-Kanal wie YouTube zu betreiben, besteht die Gefahr, dass die Erzeugung von Aufmerksamkeit wichtiger wird als die realistische Darstellung der Krankheitssymptome. Jan Zimmermann ist mit dem YouTube-Kanal Gewitter im Kopf bekannt geworden, wo er sein Tourettesyndrom mit unkontrollierten Zuckungen und Ausrufen von Schimpfwörtern zeigt. Dr. Kirsten Müller-Vahl, Professorin für Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Diagnose und Therapie von Patientinnen und Patienten mit Tourettesyndrom. Sie sieht in der Darstellung dieser Krankheit durch medizinische Laien eine große Gefahr und plädiert für eine realistische Aufklärung.

Online seit 20.10.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/krankheitsbilder-im-internet-das-tourettesyndrom-beitrag-772/

 

 

 

Seit wann kennt man das Tourettesyndrom und wie verläuft die Krankheit?

Der Name geht auf den französischen Neurologen Georges Gilles de la Tourette zurück, der 1885 zum ersten Mal diese Krankheit beschrieben hat. Das Tourettesyndrom gibt es quasi schon immer. Es ist keine moderne Krankheit, die im Zeitalter von Computern, Medien oder Fernsehen neu aufgetreten ist. Man schätzt weltweit eine Häufigkeit von 0,4 bis 0,7 % in der Bevölkerung. Das Tourettesyndrom ist durch Tics gekennzeichnet, die aber bei vielen Menschen so schwach ausgeprägt sind, dass sie deswegen nie zum Arzt gehen und auch nicht beeinträchtigt sind. Uns geht es vor allem um die Menschen, die stärkere Tics haben und sich wegen ihres Leidensdrucks an den Arzt wenden.

Das Tourettesyndrom gehört zu den sogenannten Entwicklungsstörungen, ähnlich wie ADHS oder die Autismus-Spektrum-Störung. Die Krankheit ist abhängig von der Hirnentwicklung und tritt typischerweise zwischen dem 5. bis 7. Lebensjahr auf, manchmal auch etwas später, etwa bis zum 10. Lebensjahr. Alles, was danach kommt, ist extrem ungewöhnlich. Wir sehen statistisch ein Maximum der Tics zwischen dem 10. bis 12. Lebensjahr, danach kommt es spontan zu einer Reduktion der Tics. Die langfristige Prognose ist für viele Patienten relativ günstig. Die Tics lassen in der Regel nach, bei manchen Patienten gehen sie auch vollständig zurück.

Ist dieses scheinbar fremdbestimmte und unkontrollierbare „Aussprechen“ von Schimpfwörtern, das medial oft im Vordergrund steht, für die Patienten typisch?

Überhaupt nicht, und schon gar nicht zu Beginn der Erkrankung. Typischerweise beginnt das Tourettesyndrom mit Zuckungen, und das typischerweise im Gesicht: also etwa mit Augenblinzeln, Grimassieren, Naserümpfen oder auch mal Kopfschütteln. Die Eltern können meistens nicht sagen, wann das genau angefangen hat. Die Symptome schleichen sich ein. Oft wird dann gedacht, das Kind muss zum Augenarzt, weil es blinzelt. Oder dem Kind müssten mal die Haare geschnitten werden, weil es immer mit dem Kopf schüttelt und vielleicht nichts mehr sieht, weil der Pony so lang gewachsen ist. Typisch ist ein Auf und Ab mit wechselnden Tics: Das Kopfschütteln geht zurück und stattdessen kommt es zu einem Schulterzucken. Durchschnittlich nach zwei bis drei Jahren treten dann erstmals Geräusche auf, sogenannte vokale Tics, typischerweise in Form einfacher vokaler Tics, etwa Räuspern, Schniefen oder Hüsteln.

Also sind Schimpfwörter eher selten?

Diese sogenannten Koprophänomene, also das Aussprechen von Schimpfwörtern oder das Zeigen von obszönen Gesten wie das Mittelfingerzeichen, spielen meistens überhaupt keine Rolle. Statistiken zeigen, dass eine Koprolalie oder Kopropraxie erstmals im Mittel nach fünf bis sechs Jahren auftritt, wenn überhaupt. Insgesamt sind etwa 15 bis 20 % der Tourette-Patienten davon betroffen. Das Symptom steht aber selten im Vordergrund. Und da sind wir auch schon bei der medialen Darstellung: Ich sehe selbst hier in meiner Schwerpunktambulanz ganz selten derartige Koprophänomene, weil die Betroffenen versuchen, diese Symptome zu unterdrücken und zu verbergen. Und selbst während eines einstündigen Gesprächs ist nur ganz selten ein Schimpfwort zu hören, das ist die ganz große Ausnahme. Leider geht die mediale Darstellung, die sich seit vielen Jahren auf die Koprolalie fokussiert, völlig am Kern der Erkrankung vorbei.
 

Leben mit Tourette | Interview mit anderen Betroffenen #1 (Gewitter im Kopf, 06.05.2019)



Über viele Krankheiten oder psychische Probleme wird medial berichtet, sei es in Gesundheitsmagazinen, in Serien oder Spielfilmen. So erhält man eine Grundidee von einer Krankheit und entwickelt Verständnis dafür. Über das Tourettesyndrom habe ich medial zum ersten Mal durch den YouTuber Jan Zimmermann in Gewitter im Kopf gehört. Menschen mit Tourettesyndrom werden vorgestellt, sie kommen einem dadurch näher und wirken sympathischer. Jan Zimmermann hat damit einen Riesenerfolg. Wie bewerten Sie das?

Ich befasse mich ja nun schon lange mit diesem Thema und kenne auch von Beginn an die Selbsthilfegruppen, primär die Tourette-Gesellschaft Deutschland, aber auch den InteressenVerband Tic & Tourette Syndrom, und bin in deren wissenschaftlichem Beirat. Vor 20 bis 25 Jahren waren wir sehr, sehr froh, dass es zunehmend Beiträge über das Tourettesyndrom im Fernsehen gab. Ich wurde als Expertin bei Günther Jauch und Markus Lanz eingeladen. Das fanden wir alle sehr positiv, weil es für Menschen mit Tourettesyndrom einfacher ist, wenn die Symptome der Krankheit in der breiten Öffentlichkeit bekannter werden.

Aber alle Medien haben primär die Personen ausgesucht, die mit 5 % die Spitze des Eisbergs darstellen: die allerschwerst Betroffenen, die dann auch möglichst während der Sendung eine Koprolalie zeigen und zwischendurch mal „Ficken“, „Scheiße“ oder „Arschloch“ rufen. Die Krankheit wird dadurch auf diese Wörter reduziert, die die meisten betroffenen Menschen gar nicht aussprechen. An der realistischen Darstellung der Erkrankten, die ein bisschen Augenblinzeln, Kopfschütteln, Räuspern, Quieken oder so etwas haben, hatten die Medien kein ausreichendes Interesse.

Die Selbsthilfegruppen haben dann zum Teil ihren Mitgliedern empfohlen, nicht mehr in diese Sendungen zu gehen, weil es immer um diese sensationslustige reißerische Darstellung ging. Zwei Kinofilme, Vincent will Meer und Ein Tic anders fand ich einigermaßen angemessen, und sie haben als Unterhaltung und Spielfilme über das Tourettesyndrom informiert. Der Schauspieler und die Schauspielerin haben die Tics gespielt, das fand ich ganz gut gelungen und weit von dem entfernt, was wir jetzt bei Jan Zimmermann sehen.
 

Ein Tic anders (Kinofilme, 06.07.2011)



Was in diesem YouTube-Kanal geboten wird, würde ich am liebsten als abscheulich bezeichnen. Das meiste, was Sie dort sehen, sind keine Tics und hat mit Tourettesyndrom nichts zu tun. Niemand mit Tourettesyndrom setzt seinem Freund eine Rührschüssel auf den Kopf, spritzt ihm mit einer Zitrone den Saft in den Kragen oder zerschlägt Eier. Auch die Tirade an unsäglichen Schimpfwörtern zum Teil mit antisemitischen Sprüchen, die unter der Behauptung ausgerufen werden: „Ich habe ja Tourette“, und die Vielzahl, Länge und Häufigkeit an Beleidigungen mit eindeutigem situativem Zusammenhang sind für die Erkrankung völlig untypisch.

Der Kanal will unterhalten, das kann man mögen oder auch nicht. Ich sehe als großes Problem, dass sich ein Betroffener selbst zum Experten erklärt. Wenn man eine Sendung über Herzinfarkt konzipieren will, befragt man nicht nur Patienten, wie ein Infarkt entsteht, sondern vor allem Experten. Und Jan Zimmermann hat sich selbst, und das ist ihm gut gelungen, zum ersten Tourette-Experten Deutschlands erklärt.

Von Jan Zimmermann haben wir sehr viele Videos in unserer Arbeitsgruppe sehr sorgfältig analysiert. Man kann wohl sagen: Ja, er hat das Tourettesyndrom. Um das genau zu diagnostizieren, braucht man Fachwissen, das ist für einen Laien nicht erkennbar. Er hat zusätzlich aber sicherlich auch eine funktionelle Störung mit „Tourette-ähnlichen“ Symptomen. In vielen Videos werden meiner Überzeugung nach zusätzlich auch Symptome bewusst vorgespielt. Dabei zeigt er genau das, von dem er weiß: Damit kriege ich die meisten Follower, Klicks und Likes. Aktuell kämpft er mit abnehmenden Nutzungszahlen und versucht deshalb immer wieder, das zu präsentieren, von dem er weiß, dass es die Nutzer besonders mögen. Dazu gibt es eine Merchandising-Kampagne, da kann man T-Shirts mit seinen populärsten Wörtern kaufen: „Bombe“ und „Pommes“ oder „Du bist hässlich“.

Ist es nicht unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Sensibilisierung und Akzeptanz für solche Symptome vielleicht gar nicht so entscheidend, wie genau darüber berichtet wird?

Das sehe ich ganz anders. Auch die Selbsthilfegruppen distanzieren sich klar von dem YouTube-Kanal Gewitter im Kopf, weil dort eine falsche Darstellung der Erkrankung erfolgt. Es werden Symptome gezeigt, die es bei dieser Krankheit gar nicht gibt. Das führt dazu, dass die tatsächlich Betroffenen in der Öffentlichkeit nach dem Motto wahrgenommen werden: Warum stellst du dich denn so an? Du hast ja nur ein bisschen Räuspern, Schniefen und Kopfschütteln. Guck mal, wie toll Jan Zimmermann mit seiner Krankheit umgeht. Der hat ja „richtiges“ Tourettesyndrom und im Vergleich dazu hast du ja nur geringe Symptome.

Und andere Patienten sagen: „Ich habe Tourette, aber ich traue mich gar nicht mehr, das zu sagen, weil ich dann immer gefragt werde, welche Schimpfwörter ich ausrufe oder ob man jetzt die Eier zur Seite räumen muss.“ Einige Betroffene sagen stattdessen lieber: „Ich habe eine Tic-Störung“, um das Wort „Tourette“ zu vermeiden, weil das diese völlig falschen Assoziationen hervorruft. Deshalb halte ich diese Art der Aufklärung nicht für hilfreich.
 

My Tourette … (NJ Center for Tourette Syndrome, 28.09.2021)



Viele Laien glauben aktuell tatsächlich, „Tourette“ ist das, was Jan Zimmermann hat. Tourette-Betroffene beschimpfen Polizistinnen und Polizisten aber nicht mit dem Wort „Bullenfotze“ und beleidigen nicht ständig andere Personen oder tun Dinge, die in unserer Gesellschaft als unangemessen gelten.

Hier sehen wir aktuell ein weiteres Problem: Jugendliche oder junge Erwachsene „infizieren“ sich bei Jan Zimmermann, so unsere Hypothese, indem sie unbewusst diese Symptome übernehmen, im Sinne einer funktionellen Störung. Die Eltern glauben fälschlicherweise dann, dass dies Tourettesyndrom sei und sie nichts dagegen tun können. In Wirklichkeit ist es aber nicht das Tourettesyndrom, sondern eine funktionelle Störung. Die Eltern müssten daher klare Grenzen setzen, damit diese Verhaltensweisen schnell wieder aufhören.

Was man in den Medien vermittelt bekommt, benutzt man als Ausrede für plötzliche vulgäre Aussprüche?

So würde ich das nicht verstehen. Es handelt sich um sogenannte funktionelle Symptome oder funktionelle Störungen. Man kann das auch psychogene, dissoziative oder Konversionsstörungen nennen. Menschen haben ein Symptom, für das es psychische, aber keine körperlichen Ursachen gibt. Am bekanntesten sind wahrscheinlich psychogene Anfälle: Die Menschen kippen um, für den Laien sieht es aus wie Epilepsie, aber in Wirklichkeit ist es psychisch bedingt. So etwas gibt es bei Bewegungsstörungen und auch im Bereich von Tic-ähnlichen Symptomen. In meiner Sprechstunde sehe ich immer mal wieder Menschen, die sich mit Tic- und Tourette-ähnlichen Symptomen vorstellen, bei denen aber kein Tourettesyndrom besteht und auch keine körperliche, organische Ursache vorhanden ist. Die Symptome müssen daher auch psychotherapeutisch und nicht medikamentös behandelt werden.

Wie können Sie das so genau erkennen?

Wenn wir die Diagnose „Tourettesyndrom“ stellen, dann ist es eine klinische Diagnose. Wenn ein Patient das erste Mal zu mir kommt, nehme ich mir 60 Minuten Zeit, um ihn ausführlich zu untersuchen. Ich erhebe eine sorgfältige Anamnese und frage im Detail: Wann und wie hat das begonnen? Welche Symptome waren zuerst da? Was kam dann? Kannst du das unterdrücken? Hast du ein Vorgefühl? Was verbessert die Symptome? Was macht sie schlechter? Wann bist du symptomfrei? Wie ist es im Verlauf gewesen? Was für Behandlungen hattest du? Haben die geholfen? Und dann kann man, von ganz seltenen Ausnahmefällen abgesehen, eindeutig diagnostizieren, ob es ein Tourettesyndrom ist oder ob es sich um eine funktionelle Störung handelt.

Wenn die Symptome erst im Alter von 20 Jahren angefangen haben, handelt es sich eindeutig nicht um ein Tourettesyndrom. Wenn jemand sagt, es sei exakt am 13. Mai losgegangen, passt das auch nicht zu der Erkrankung. Und wenn rudernde Armbewegungen und Ausrufe wie „Bullenfotze“ überwiegen, wissen wir, dass es so etwas beim Tourettesyndrom nicht gibt.

Durch Jan Zimmermann haben wir jetzt eine neue Form einer Massenhysterie gesehen. Massenhysterien kennen wir schon seit dem Mittelalter: Wenn eine Person eine bestimmte Symptomatik hat, stecken sich andere davon quasi an. Typische Massenhysterien treten in der Neuzeit auf, wenn zum Beispiel Schulkinder zusammen in einer Klasse sitzen und ein Mädchen sagt: „Es riecht hier aber komisch.“ Und dann sagt die Nachbarin: „Ja, da draußen wird ja auch an irgendwelchen Leitungen gearbeitet.“ Danach sagt die Nächste: „Ich habe Kopfschmerzen.“ Und ein weiteres Kind sagt: „Mir wird ganz übel.“ Dann fährt die Erste ins Krankenhaus und die Eltern machen sich große Sorgen. Ganz viele Kinder entwickeln ähnliche Symptome mit unspezifischen Beschwerden wie Schwindel, Übelkeit oder Benommenheit, und bis sich klärt, dass da gar nichts ist und trotz der Bauarbeiten kein Gift oder Gas ausströmt, „infizieren“ sich immer mehr Mädchen. Erst wenn man genau weiß, dass keine organische Ursache vorliegt, endet die Hysterie schnell und die Symptome verschwinden.

Bei Jan Zimmermann handelt es sich um ein vergleichbares Phänomen, was sich aber in Bewegungen und Wörtern äußert, die Tics und Symptomen des Tourettesyndroms ähneln. Neu ist, dass die Betroffenen sich aber nicht wie in einer Klasse persönlich kennen und über die Symptome sprechen, sondern dass das stellvertretend durch die sozialen Medien erfolgt, weil auch dort ein enger, emotionaler Kontakt entsteht, so dass sich die Zuschauer auch auf diesem „indirekten“ Weg mit Tic-ähnlichen Symptomen „infizieren“ können, ohne Jan Zimmermann – oder andere Betroffene – jemals persönlich getroffen zu haben. Voraussetzung für eine solche „Infektion“ ist aber vermutlich eine gewisse Vulnerabilität etwa in Form von Ängsten oder einer Depression.

Ist das eine funktionelle Störung, die man selbst nicht als Imitation wahrnimmt oder wird hier ein Verhalten nachgemacht, das die Nutzenden attraktiv finden?

Nach unserem Verständnis ist das in der Tat eine funktionelle Störung und kein absichtliches Imitieren. Es ist ja das Typische und das Wesen von funktionellen Störungen, dass sie unterbewusst ablaufen und die Menschen es nicht einfach abstellen können. Aber es ist eindeutig kein Tourettesyndrom. Wir haben jetzt über 30 Patientinnen und Patienten gesehen, die Symptome von Gewitter im Kopf zeigen und sich quasi „angesteckt“ haben. Wir können das so genau eingrenzen, weil sie die gleichen Symptome haben, die auch bei Jan Zimmermann bestehen und zuvor zum Teil noch nie beobachtet wurden. Die Betroffenen rufen etwa Wörter wie „Pommes“, „fliegende Haie“ und „Bombe“, Begriffe, die auch Jan Zimmermann benutzt. Wir haben diese Personen befragt, alle kennen Gewitter im Kopf. Man kann Jan Zimmermann nicht zum Vorwurf machen, dass sich Menschen bei ihm „infizieren“. Er weiß mittlerweile aber auch um dieses Problem, da verschiedene Journalisten ihn bereits um eine Stellungnahme gebeten haben.

Ist ihm bewusst, dass er übertreibt, um das Ganze spannender zu machen und möglichst viele Zuschauer zu erreichen? Oder will er durch Übertreibungen einen höheren Unterhaltungswert erzeugen?

Ich denke ja. Jan Zimmermann ist ein YouTube-Star. Durch Interviews mit anderen Influencern oder etwa Kai Pflaume wird offenbar versucht, gegenseitig voneinander zu profitieren und den eigenen Marktwert zu steigern. Wenn Sie seriösere Interviews mit ihm sehen, dann hat er ganz andere Symptome als in seinem YouTube-Kanal. Es gibt Videos, in denen er minutenlang tatsächlich nur Tics wie Augenblinzeln oder Grimassieren hat. Dies sind sicherlich „echte“ Tics. Die Symptome, die er überwiegend in seinem YouTube-Kanal darbietet, sind keine Tics.
 

Tourette: BOMBE rufen am Flughafen?! (Auf Klo, 25.04.2019)



Er übertreibt, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Kann man das so sagen?

Er bestreitet damit seinen Lebensunterhalt und macht das, wofür er am meisten Geld bekommt. Dadurch hat dieser Kanal wenig mit Krankheitsaufklärung zu tun. Wenn Sie aktuell bei Google „Tourette“ eingeben, landen Sie bei Gewitter im Kopf. Die Tourette-Selbsthilfegruppen haben in den letzten 20 Jahre gute Aufklärungsarbeit geleistet, und jetzt beherrschen Gewitter im Kopf und ähnliche Videos das Informationsangebot. Dort wird das Tourettesyndrom mit Fantasie-Symptomen dargestellt. Im PUR+-Kanal lässt sich ein Redakteur von einer Frau mit Senf bespritzen und mit Gurken bewerfen. Solche Symptome gibt es beim Tourettesyndrom nicht. Das ist nicht nur eine überspitzte Darstellung der Krankheit, sondern eine Falschdarstellung. Warum lässt ein Moderator so etwas mit sich machen? Unabhängig von einer Krankheit würde ich mich nie mit Senf bespritzen lassen. Und die einzige Erklärung ist tatsächlich, dass er dadurch mehr Zuschauer gewinnt.

Unsere Fähigkeit, länger differenzierten Darstellungen zu folgen, ist begrenzt. Das führt zu Übertreibungen, damit die Nutzenden dranbleiben.

Aber gibt das einem das Recht, Falschdarstellungen zu machen? Man darf Dinge auch pointieren, man muss dann aber auch sagen, dass das nur sehr selten vorkommt. Aber Dinge falsch darzustellen, die mit der zu besprechenden Krankheit gar nichts zu tun haben, richtet viel Schaden an. Wenn ein Moderator sich mit Senf bespritzen lässt oder in einem anderen Beitrag dem Kameramann die Hose ausgezogen oder der Redakteurin die Bluse aufgeknöpft wird, ist das reine Unterhaltung, das hat mit Tourettesyndrom nichts zu tun.
 

Tourette - Immer fall’ ich auf! Sie zucken, schreien oder beleidigen, obwohl sie es gar nicht wollen. Eric trifft junge Menschen mit Tourette-Syndrom. (PUR+, 26.10.2020)



Die Informationen in den Medien oder im Netz sind also nicht immer an den Fakten orientiert …

Man kann wahrscheinlich oft auch via Internet und „Doktor Google“ zum richtigen Ergebnis kommen. Aber manche Diagnosen sind schwerer zu stellen, und dazu gehört sicherlich auch unser Fachgebiet der Psychiatrie, weil es hier keine objektiven Messparameter gibt. Wir stellen Diagnosen rein klinisch. Dafür benötigt man Fachwissen und klinische Erfahrung. Wie bereits erwähnt, haben wir mittlerweile viele Patientinnen und Patienten gesehen, die mit „Jan-Zimmermann-Symptomen“ in die Sprechstunde kamen. Bei allen wurde von Kolleginnen und Kollegen zuvor fälschlicherweise die Diagnose eines Tourettesyndroms gestellt. Wir müssen daher auch unsere Kolleginnen und Kollegen informieren, wie Tourettesyndrom tatsächlich aussieht, um Fehldiagnosen zu vermeiden. Je früher die richtige Diagnose einer funktionellen Störung gestellt wird, desto erfolgreicher ist die Behandlung. Einige unserer Patientinnen und Patienten mit einer funktionellen Störung wurden bereits fälschlicherweise mit Psychopharmaka behandelt. Jan Zimmermanns falsche Darstellung des Tourettesyndroms beeinflusst leider nicht nur Laien, sondern auch manche Fachleute.

Dr. Kirsten Müller-Vahl ist Professorin für Psychiatrie an der Medizinischen Hochschule Hannover und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Diagnose und Therapie von Patientinnen und Patienten mit Tourettesyndrom.

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur von tv diskurs.