Krankheitsbilder

Werner C. Barg

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Prof. Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg für Film und Fernsehen sowie Honorarprofessor im Bereich Medienwissenschaft der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg leitet er den Ergänzungsstudiengang Medienbildung im Zentrum für Lehrer*innenausbildung (ZLB).

Die Darstellung von Krankheit im Film ist äußerst vielfältig, oft auch nur ein Motiv unter mehreren für eine konfliktträchtige Spielfilmhandlung. Der Beitrag gibt einige Einblicke zu einem komplexen Filmthema.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 4/2021 (Ausgabe 98), S. 48-52

Vollständiger Beitrag als:


In vielen Filmen stellt die Darstellung von schwerwiegenden Krankheiten wie Krebs, Gehirntumor oder Demenz ein Grundelement melodramatischer Erzählung dar. Krankheitsbilder im Film erzeugen starke Gefühle. Gefühle von eigener Existenzangst oder die Angst vor dem Verlust geliebter Menschen werden evoziert, aber auch Erinnerungen an tatsächliches Geschehen, an Begegnungen mit Krankheit und Tod im eigenen Erleben oder in der Familie werden massiv geweckt.

In der Zeit des Zweiten Weltkrieges erfüllten Melodramen, die um Krankheit und Verlust kreisten, wie etwa Veit Harlans Opfergang (D 1944), in der NS-Propaganda eine wichtige Funktion als Gefühlskanalisation der von Zerstörung und Trauer gepeinigten Zivilbevölkerung. In friedlichen Zivilgesellschaften erfolgt im Melodram das Durchleben starker negativer Gefühle – ähnlich wie die Erzeugung von Angst durch Thriller- oder Horrorfilm-Spannung – als lustvolle, weil fiktionale, also nicht reale Konfrontation mit der Krankheit. Das Publikum kann aus einer gesicherten Situation, d. h. aus einer Situation in Gesundheit, das filmische Geschehen rezipieren.

Krankheitsbilder im Film ermöglichen den Zusehenden eine spezielle Form von Mood-Management, indem sie die eigenen Gefühle in der Konfrontation mit der dargestellten Krankheit im geschützten Rahmen der filmischen Fiktion „erproben“ können. Da jeder Mensch damit rechnen muss, irgendwann in seinem Leben mit einer schweren Krankheit konfrontiert zu werden, können Krankheitsbilder im Film Menschen in zumeist realistisch erzählten Geschichten Wege aufzeigen, mit der dann realen Situation umzugehen und sie emotional besser zu bewältigen – oder auch zu scheitern. Krankheitsbilder werden so für das Publikum zu Metaphern (vgl. Sontag 1978) eigener möglicher Lebenssituationen.
 

Trailer Halt auf freier Strecke (2011)



Zum einen sind dies Familiensituationen wie in dem Film Halt auf freier Strecke (D/F 2011), in dem Regisseur Andreas Dresen erzählt, wie eine Familie mit der Erkrankung des Vaters an einem bösartigen, nicht operablen Gehirntumor umgeht; zum anderen sind dies Liebesbeziehungen, die von der Erkrankung des Partners oder der Partnerin überschattet werden wie in Josh Boones Das Schicksal ist ein mieser Verräter (USA 2014) oder in Jean-Jacques Beineix’ Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen (F 1986). Das nach seinem Kinostart schnell zum Kultfilm avancierte Melodram schildert, wie die obsessive Liebe von Zorg (Jean-Hugues Anglade) und Betty (Béatrice Dalle) durch Bettys Borderline-Erkrankung überschattet wird und schließlich in einer Katastrophe mündet. In The Father (GB/F 2020), dem preisgekrönten Demenzdrama von Florian Zeller, das aktuell im Kino läuft, wird die Liebesbeziehung von Anne (Olivia Colman) durch die Demenz ihres Vaters Anthony (Anthony Hopkins) belastet. Anne hatte ihren Vater, der zunehmend orientierungslos in einer großen Wohnung in London lebt, jahrelang betreut. Nun gerät sie in einen persönlichen Konflikt, da sie gerne zu ihrem Mann nach Paris ziehen möchte.
 

Trailer The Father (2020)



Persönlichkeitsspaltung als großes Filmthema

Die Darstellung psychischer Erkrankungen steht im Film hoch im Kurs und wird immer wieder genutzt, um den Mythos von „Genie und Wahnsinn“ zu erneuern, der spätestens seit dem Doppelgängermotiv in Robert Louis Stevensons Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1986) durch die Weltliteratur geistert und auch Filmemacher immer wieder aufs Neue fasziniert hat. 

So auch Alfred Hitchcock: Immer, wenn er dunkle Linien auf weißen Flächen sieht, verdunkelt sich der Blick des renommierten Psychiaters Dr. Edwardes (Gregory Peck) und er verwandelt sich in Ich kämpfe um dich (USA 1945) in ein apathisch-dämonisch dreinblickendes Wesen, das – wie ferngesteuert – mit gezücktem Rasiermesser herumläuft und droht, Menschen zu verletzen oder gar zu töten. Im Wachzustand ist Edwardes ein verzweifelter Mensch, der glaubt, gar nicht Edwardes zu sein, sondern ihn getötet und dessen Identität angenommen zu haben. Allerdings kann er sich nicht erinnern, was er genau getan hat und wer er wirklich ist. Mehrfach will er sich zerknirscht und voller Schuldgefühle der Polizei stellen, die ihn als Mörder sucht. Doch dies weiß die junge Psychoanalytikerin Dr. Petersen (Ingrid Bergman) zu verhindern. Sie liebt Edwardes und glaubt an seine Unschuld. Deshalb flieht sie mit ihm. Mithilfe ihres Lehrers Dr. Brulov (Michael Chekhov) kann sie das Trauma aufdecken, das die Erinnerungen von Edwardes blockiert. Hierbei hilft ihr die Deutung eines Traumes von Edwardes, um nicht nur sein persönliches Drama aufzulösen, sondern schließlich auch den Mordfall aufzuklären und den wahren Täter zu stellen.
 

Salvador Dali Dream Sequence from Spellbound (1945)



Wenngleich die Überbetonung psychoanalytischer Traumdeutung aus heutiger Sicht überholt wirkt und auch in der Handlungskonstruktion des Films selbst nicht plausibel ist, bleibt die Traumsequenz doch filmhistorisch legendär. Dies nicht nur, weil der Surrealist Salvador Dalí die Szenenbilder malte und zusammen mit Hitchcock auch zahlreiche Motive des gemeinsam mit Luis Buñuel gestalteten Urfilms des Surrealismus Ein andalusischer Hund (F 1929) einarbeitete, sondern besonders deshalb, weil es Hitchcock durch die Traumsequenz gelingt, erzählerisch raffiniert und filmästhetisch spektakulär das Drama und den Thrill der psychischen Erkrankung seiner Hauptfigur miteinander zu verbinden. Anders als später in Psycho (USA 1960), wo Hitchcock die psychische Erkrankung seiner Figur Norman Bates in erster Linie für Schockmomente eines Thrillers nutzt (Seeßlen 1995, S. 145 f.), versucht der „Meister der Suspence“ in Ich kämpfe um dich, das Krankheitsbild der männlichen Zentralfigur ernst zu nehmen und psychologisch tiefergehend auszuleuchten – soweit dies populärwissenschaftlich in einem publikumswirksamen Hollywoodfilm möglich war.


Schizophrenie im Film als doppelte Fiktionalisierung des Dargestellten

Dass in der Filmgeschichte bei der Darstellung psychischer Krankheiten meistens das „Psycho-Syndrom“ (Seeßlen 1995) überwog, zeigen nicht nur Michael Powells provokanter Psychothriller Peeping Tom (GB 1960), in dem die Morde des wahnsinnigen, durch ein Kindheitserlebnis traumatisierten Täters als bildgewaltiger Thrill dargestellt werden, sondern u.a. auch zwei Hollywoodfilme neueren Datums, Fight Club (D/USA 1999) von David Fincher und A Beautiful Mind: Genie und Wahnsinn (USA 2001) in der Regie von Ron Howard.

Beide Filme gehen von der Grundidee aus, dass schizophrene Menschen in ihren Wahnvorstellungen eigene Welten kreieren. Dieses Grundmotiv der Krankheit kommt dem Filmemachen entgegen, denn im Spielfilm werden immer fiktive Welten erzeugt. In Schizophreniefilmen erfolgt nun eine doppelte Fiktionalisierung des Dargestellten. In die fiktive Grundhandlung des Films wird für das Publikum zunächst unmerklich eine zweite Realitätsebene implantiert, die sich im Laufe oder erst am Ende des Films als die subjektive, wahnhafte Realitätssicht der psychotischen Persönlichkeit herausstellt und „in Wirklichkeit“ auf der Realitätsebene des Films nicht existent ist.

Folgt man dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (Falkai/Wittchen 2015, S. 399), so leidet die Hauptfigur, die in Fight Club namenlos bleibt bzw. von unterschiedlichen Figuren immer wieder mit neuen Namen benannt wird und sich selbst im Offkommentar ab und zu in der dritten Person selbst als „Jack“ anspricht, unter einer dissoziativen Identitätsstörung. Für eine tiefenpsychologische Ausleuchtung dieses Krankheitsbildes interessiert sich Regisseur Fincher allerdings kaum. Die Schizophrenie seiner Hauptfigur bildet vielmehr den erzählerischen Rahmen, der es dem Regisseur erlaubt, erst ein zynisch-ironisches Bild von Selbsthilfegruppen als Mittel zur Heilung von Krankheiten zu zeichnen, um dann – mit dem Auftritt seines „anderen Ichs“, des Terroristen Tyler Durden (Brad Pitt) – die seelische Erkrankung seiner Hauptfigur als grelle und effektvolle Metapher gegen Konsumismus und die Routine bürgerlichen Lebens zu entfalten.
 

Trailer Fight Club (1999)



Demgegenüber nimmt Regisseur Ron Howard das Thema der Schizophrenie in seinem Film A Beautiful Mind: Genie und Wahnsinn deutlich ernster. Howard zeichnet die authentische Lebensgeschichte des Mathematikprofessors Dr. John Forbes Nash (Russell Crowe) nach. Nach anfänglichen Schwierigkeiten im Umgang mit seinen Kommilitonen, die maßgeblich auf die mangelnde soziale Kompetenz von Nash als Ausdruck seiner beginnenden Erkrankung zurückzuführen sind, entwickelt Nash eine überaus wirksame ökonomische Formel und wird in Princeton als Mathe-Genie gehandelt. Der zunehmende Druck, innovativ sein zu sollen, treibt den Professor in die Wahnvorstellung, für eine Geheimorganisation der Regierung zu arbeiten und einen Anschlag mit Atombomben auf US-Boden verhindern zu müssen. Seine psychische Störung bedroht seine harmonische Ehe mit Alicia (Jennifer Connelly) und führt schließlich zu einer Einweisung in die Psychiatrie. Mit Alicias Hilfe kämpft sich Nash zurück ins Leben und lernt allmählich, mit den Gespenstern seiner übersteigerten Einbildungskraft zu leben. 1994 erhält er den Nobelpreis für Wirtschaft. Seine Rede vor dem Nobelkomitee, der bewegende Höhepunkt des Films, wird auch zu einer Abrechnung mit den Schimären seiner geistigen Erkrankung.
 

Trailer A Beautiful Mind: Genie und Wahnsinn (2001)



Krankheit als „Thrill“, Frauen als Opfer

In klassischen Genres wie Film noir, Thriller oder auch im Horrorfilm werden Frauen sehr oft als Opfer männlicher Gewalt dargestellt. In seinem Film-noir-Klassiker Du lebst noch 105 Minuten (USA 1948) nutzt Regisseur Anatole Litvak die psychologisch raffiniert erzählte Krankheitsgeschichte seiner weiblichen Hauptfigur als Thrill-Effekt seines Krimidramas und zur Modifizierung des genretypischen Femme-fatale-Klischees: Leona (Barbara Stanwyck) ist aufgrund eines Herzleidens ans Bett gefesselt. Zufällig hört sie am Telefon von dem Plan, dass eine Frau ermordet werden soll. Durch prägnante Telefon-Dialog-Szenen und eine raffinierte Rückblendenstruktur rollt Litvak die Vorgeschichte Leonas auf, die mehr und mehr zu der Erkenntnis kommt, dass sie selbst das Opfer des Mordplans ist.

Litvak zeigt Leonas Krankheit, die keine physische, sondern eine seelische Erkrankung, eine Herzneurose ist, als Resultat einer überstarken Bindung an den herrischen Vater (Ed Begley), wodurch später eine melodramatische Verkettung von Abhängigkeitsverhältnissen, u.a. zu ihrem Mann Henry (Burt Lancaster), entsteht. Diese Abhängigkeiten führen zu einer Umkehrung klassischer Rollenmuster, wodurch – so zeigt es Litvaks Film – schließlich eine grausame Gewaltspirale in Gang gesetzt wird.

In der Tradition von Terence Youngs Thriller Warte, bis es dunkel ist (USA 1967), in dem sich Audrey Hepburn als blinde Frau eines brutalen psychopathischen Gangsters erwehren muss, entfaltet Regisseur und Autor Bruce Robinson in seinem Thrillerdrama Jennifer Eight (K/USA/GB 1992) gleichfalls ein raffiniertes Katz-und-Maus-Spiel zwischen einem Serienmörder, der blinde Frauen tötet, der blinden Zeugin Helena (Uma Thurman) und dem Polizisten John (Andy García), der sich in die Zeugin verliebt und vom wahren Täter selbst in Mordverdacht gebracht wird. Die Blindheit und damit verbundene Orientierungslosigkeit des potenziellen Opfers schaffen die Grundlage für die düstere und spannungsgeladene Atmosphäre des Films. Sie wird nur in jenen Momenten unterbrochen, in denen sich Helena und John während Helenas Cellospiel näherkommen.


Werbung um Verständnis für Krankheiten

Auch in Der Duft der Frauen (USA 1992) von Martin Brest steht ein blinder Protagonist im Zentrum der Handlung. Und auch in diesem Film spielt die Musik eine bedeutende Rolle: Al Pacino verkörpert den US-Lieutenant Colonel Frank Slade, der – immer schon ein Zyniker – nach seiner Erblindung tyrannisch und mit seinen verletzenden Sprüchen für seine Umgebung unausstehlich geworden ist. Doch hinter Franks Bissigkeit lauern tiefe Frustration, Lebensangst und Depression ob seines Lebens in Dunkelheit. Dies bekommt der junge Charlie Simms (Chris O’Donnell), den Franks Nichte Karen (Sally Murphy) für das Thanksgiving-Wochenende als Franks Betreuer anheuert, schnell zu spüren. Gemeinsam reist der Junge aus armen Verhältnissen, der nur dank eines Stipendiums an einem Eliteinternat studieren kann, mit Frank nach New York. Hier verfolgt der Blinde einen fatalistischen Plan: Nach einem kurzen Leben in Saus und Braus im Luxushotel mit teurem Essen, Ferrari-Fahren und gekauftem Sex will Frank sich im Hotelzimmer erschießen. Charlie kann das verhindern, weil er Frank an den Moment erinnert, an dem der sich trotz seiner Erblindung lebendig gefühlt hat: als er mit einer jungen Frau in der Hotelbar Tango tanzte.
 

Tangoszene in Der Duft der Frauen (1992)



Die Szene wurde legendär wegen Pacinos Spiel, aber auch deshalb, weil sie als Schlüsselszene im Erzählkontext der Handlung Charlie hilft, Frank klarzumachen, was das Leben lebenswert macht. Zurück im Leben, kann nun auch Frank Charlie bei einer Misere in der Eliteschule aus der Patsche helfen.Brests Film wirbt mit hollywoodtypischer Bravour um Verständnis für den Kranken, zeigt in der Entwicklung des Antihelden zum Helden aber auch, wie er lernen kann, seine Krankheit anzunehmen und nicht an ihr zu verzweifeln. Auch in Caroline Links Jenseits der Stille (D 1996) und in der Tragikomödie Verstehen Sie die Béliers? (F/B 2014) bildet der Einsatz von Musik ein wichtiges Story-Element: Beide Filme werben um Verständnis für gehörlose Menschen und stellen die gesunden Töchter gehörloser Eltern in das Zentrum der Handlung. Die Töchter möchten Musik studieren und müssen deshalb die Eltern verlassen. Dies führt zu einem Familienkonflikt, der aber in beiden Filmen versöhnlich gelöst wird, wobei die Musik zu einer Brücke der Verständigung zwischen Kranken und Gesunden wird.
 

Melodram schafft Erfolg

Dass es schließlich immer wieder solche melodramatischen Erzählkonstruktionen von Familien- und Beziehungskonflikten sind, die Filme, in denen Krankheitsbilder im Mittelpunkt stehen, an der Kinokasse erfolgreich werden lassen, zeigt u.a. Gottes vergessene Kinder (USA 1986). In dem Drama zeigt Regisseurin Randa Haines, mit welchen Problemen der hörende James und die gehörlose Sarah, die der Lehrer an einer Gehörlosen-Schule kennenlernt, in ihrer Liebesbeziehung zu kämpfen haben. Die Annäherung der beiden und die Überwindung aller Schwierigkeiten werden über starkes Gefühlskino erzählt und schaffen so beim Publikum ein großes Verständnis für das Drama gehörloser Menschen.
 

Trailer Gottes vergessene Kinder (1986)



Gottes vergessene Kinder spielte das Dreifache seines Budgets ein. Und so kam auch beim weltweiten Publikum die melodramatische Verknüpfung von Schizophrenie-Story und Ehegeschichte in A Beautiful Mind deutlich besser an als die Darstellung des Themas in dem kühl-intellektuellen Thriller Fight Club. Spielte Finchers Film mit 101 Mio. US-Dollar knapp das Doppelte seines Budgets ein, konnte A Beautiful Mind mit 320 Mio. US-Dollar mehr als das Fünffache seines Budgets an der Kinokasse einfahren.

 

Literatur:

Falkai, P./Wittchen, H.-U. (Hrsg.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. Göttingen 2015

Seeßlen, G.: Thriller: Kino der Angst. Grundlagen des populären Films. Marburg 1995

Sontag, S.: Krankheit als Metapher. München 1978