Kolumne: Trash-TV-Liebe

Anja Rützel

Anja Rützel lebt als freie Autorin in Berlin und schreibt für den „Spiegel“ über Fernsehen, außerdem für „Die Zeit“, das „SZ-Magazin“ und weitere Medien.

Wenn Menschen erzählen, dass sie gerne Trash-TV-Formate sehen, klingt das gelegentlich wie eine Beichte, mindestens aber wie ein erklärungsbedürftiges Geständnis. Warum eigentlich? Auch das Dschungelcamp und das Sommerhaus der Stars können schamfrei unterhalten, wenn man mit geschärftem Blick hinsieht.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 55-59

Vollständiger Beitrag als:

 

Manchmal sprechen Menschen über Fernsehen, als seien sie Ulricke Jokiel. Jene Hobby-Tennisspielerin also, die in der „Yogurette“-Werbung der 1980er-Jahre tadelnd gefragt wird, ob sie es sich als „moderne, sportliche Frau“ überhaupt leisten könne, sich Süßkram reinzustopfen. „Ich heiße Ulricke Jokiel und esse unheimlich gern Schokolade“, antwortet daraufhin die Werbefrau mit leicht ertappter Bekenner-Attitüde. Und ganz ähnlich klingt es, wenn mir gelegentlich besagte Menschen, halb entschuldigend, halb stolz auf so viel regelbrechende Craziness gestehen, dass sie gerne Trash-TV schauen. Wenn Jokiel in ihrem Schoko-Spot dann noch einen draufsetzt und erklärt, sie stehe sogar manchmal nachts auf, um noch mal nachzusnacken, erklären die Trash-Bekenner entsprechend, sie hätten nicht etwa gelegentliche Zapp-Ausrutscher, sondern seien so tief im Trash-Thema drin, dass sie sogar wüssten, wer der Mann Aurelio sei, und dass sie sämtliche Folgen von Promis unter Palmen und dem Sommerhaus der Stars durchgehalten hätten, obwohl das im vergangenen Jahr ja besonders schlimm gewesen sei. Ein bisschen peinlich sei ihnen diese Vorliebe schon, aber es mache eben zu viel Spaß, um wegzuschalten.
 

TV NOW: Aurelio schockt die Promis | Like Me – I’m Famous (2020)



Variationen in schlimm

Eigentlich ist die Idee des Guilty Pleasures im Kern ein tieftrauriges Konzept: sich schlecht fühlen, weil man Spaß hat – wie soll diese paradoxe Unkigkeit zusammengehen? Zumal eine auch nur kurzzeitige Flucht in eine vergnügliche Ablenkung zurzeit von vielen Menschen dringlicher benötigt wird als je zuvor. Womöglich erklären sich die guten Quoten für die letztjährige Staffel des Sommerhauses nämlich nicht nur damit, dass die erstaunlichen Vorgänge dieses ja schon naturgemäß krawalligen Formats nie so grell und drastisch waren wie im letzten Jahr –, sondern eben auch damit, dass Menschen, die sich selbst in quarantäneartigen Umständen befanden, es tröstlich erlebten, anderen containierten Menschen beim Weggesperrtsein zuzusehen: Variationen in schlimm, die von der eigenen Last ablenkten. Trash-TV liefert auch darum passende Formate für die Coronazeit, weil sie der übergroßen, furchterregend unüberschaubaren Welt da draußen radikale Reduktion entgegensetzen – nicht nur, was die inhaltliche und dramaturgische Komplexität angeht, sondern auch ganz wörtlich und rein räumlich gesehen. Wenn die ganze Welt brennt, kann es tröstlich wirken, zur Abwechslung kurz einem vergleichsweise kleinen Feuerchen zuzuschauen, das sich spätestens zum Formatfinale ganz von selbst wieder löscht. Wer sich im vergangenen ersten Coronajahr vom Sommerhaus ablenken ließ, floh ganz biedermeierlich in eine ländliche, personell überschaubare, klar strukturierte und zugegebenermaßen reichlich dysfunktionale Familiensimulation.
 

Das Sommerhaus als Mobbing-Schulung

Scham wäre dafür nur angebracht, wenn man durch sein Vergnügen andere Menschen schädigte. Tatsächlich schien, um beim Sommerhaus-Beispiel zu bleiben, dieses Mal die sonst zumindest für einen bestimmten Teil des Trash-Genres universell gültige Absolution nicht zu greifen: dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die ja zumindest bei Formaten wie eben dem Sommerhaus, Promi Big Brother, Promis unter Palmen oder dem Dschungelcamp mediengeschulte Menschen seien, wüssten, worauf sie sich einließen. So drastisch schienen aber dieses Mal die zwischenmenschlichen Ausfälle und Anwerfungen, dass es sich mitunter falsch anfühlte, dabei zuzusehen.

Aber haben Mobbing und Grobheiten im Trash-TV tatsächlich eine neue, noch niedrigere Qualität erreicht? Oder ist inzwischen nicht eher der Blick darauf geschärft? – Weil heute über derlei Themen ausführlicher und dringlicher öffentlich diskutiert wird als noch vor Jahren, als Sarah Knappik bei Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! systematisch von fast allen anderen Campern „gegaslightet“ oder Larissa Marolt – ebenfalls im Dschungelcamp – von der ganzen Gruppe hart angegangen wurde. Mittlerweile, da viele Menschen sensibilisierter auf Themen wie gewaltsame Sprache schauen, schienen die entsprechenden Szenen aus dem Sommerhaus fast wie illustrierendes Schulungsmaterial. Wenn man aber diese Laborsituation nutzt, um sich anzusehen, wie aus einer Nichtigkeit blanker Hass werden kann, wie Ausgrenzung und Spaltung entstehen können, ist das nichts, wofür man sich schämen müsste.
 

Sarah Knappik in Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! (2018)



Hate-Watching und Heldenreise

Natürlich gibt es die Gaffer. Jene Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich bei Trash-TV-Formaten vor allem daran ergötzen, andere Menschen leiden zu sehen. Die Empfindung muss dabei nicht einmal so grundsadistisch sein, wie es in dieser zugespitzten Formulierung klingt. Man kann, während man sich das traditionelle Gekeife anschaut, das an einem bestimmten Punkt in fast jeder Bachelor-Staffel in der Kandidatinnen-Behausung losbricht, auch wohlige Erleichterung spüren, dass man selbst ein aufregerfreies Leben in relativ soliden Verhältnissen führt, während andere sich als Tanzbären in der Trash-Manege verdingen. Sicher gibt es auch Zuschauer, die tatsächlich aus reiner Schadenfreude einschalten. Rachael Liberman beschreibt diese Praxis in ihrem Aufsatz Hate-Watching the Housewives: Gender, Power, and the Pleasure of Judgment, indem sie das weibliche Publikum der Real Housewives-Franchise-Formate analysiert, dessen besondere Bindung an das Format weniger durch die Zuneigung zu und Identifikation mit den Charakteren gefestigt wird, sondern im Gegenteil durch deren Ablehnung. Nach ihren Beobachtungen entsteht diese Befriedigung, über andere Menschen, insbesondere andere Frauen, urteilen zu dürfen, ja regelrecht über sie zu Gericht zu sitzen, aus dem Druck heraus, den normative Weiblichkeit auf Frauen ausübt. Man kann sich für diesen Weg der Selbsterleichterung schuldig fühlen, oder man kann die Gesellschaft in die Verantwortung nehmen, die diesen Druck überhaupt erst aufgebaut hat.

Glücklicherweise gibt es auch positive Emotionen, die durch Trash-TV getriggert werden können. Beim Dschungelcamp ist es oft die obligatorische Heldenreise, die beim Zuschauen rührt. Es reizt die Chance darauf, dass ein oft psychisch geschundenes, meist verkanntes, gehemmtes Menschlein, das medial bisher in eine unglückliche Rolle gedrängt wurde, nun ausgerechnet durch ein Bad im Kakerlakensarg und das Herunterleiern einiger tränenumschleierter Kalendersprüche am nächtlichen Lagerfeuer vor den Augen der Zuschauer von der kuriosen Kultfigur zum gekrönten Sympathieträger metamorphosiert – Ross Antony, Joey Heindle und Menderes Bağcı sind klassische Vertreter dieses Dschungelregententypus. In den glücklicheren Momenten dieses Formats kann man tatsächlich dabei zuschauen, wie das Fernsehen wieder flickt, was das Fernsehen zuvor angerichtet hat. Diese echte Chance auf zumindest halb echte Rührung bei den Zuschauern dürfte zumindest für Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! vielen ein Anreiz zum Einschalten sein. Womöglich ist es auch die Sehnsucht nach ein bisschen Karneval, nach einer zeitlich limitierten und allein schon deshalb ungefährlichen Parallelgesellschaft der Narren, dieser vage bekannten Menschen mit Behauptungsprominenz.
 


In den glücklicheren Momenten dieses Formats kann man tatsächlich dabei zuschauen, wie das Fernsehen wieder flickt, was das Fernsehen zuvor angerichtet hat.



Das Dschungelcamp fehlte vor allem in diesem Jahr schmerzlich, weil sich in ihm das Leben so penibel sortiert. Während sich im echten Leben vertraut geglaubte Menschen plötzlich überraschend als Schwurbler outen, sind die Rollen im Camp fest verteilt. So gibt es in jeder Staffel die Busenlüfterin, die sich mit meist etwas grobschlächtig inszenierter Fleischfreilegung erst Sendezeit, dann Instagram-Follower kauft, das Muttchen (das auch ein Väterchen sein kann), das sich als gute Seele des Camps geriert, den demonstrativ patenten oder potenten Männermann, der immer Rat weiß und gut Holz sammeln kann, den zündelnden Mephisto, der in schwelenden Streitereien stochert, etc.
 

Schmuddelkost oder Schaubühne?

Denkt man optimistisch und traut man den Trash-Zuschauern etwas zu, kann man ihren Spaß an diesen Formaten auch in dem Vergnügen ausmachen, hinter die Mechanismen solcher Zuordnungen und Produktionen zu schauen. Die feministische Medienkritikerin Jennifer L. Pozner schreibt dazu in ihrem Buch Reality Bites Back. The Troubling Truth about Guilty Pleasure TV, Trash-TV sei ein gutes Feld, um an der eigenen „Media Literacy“ zu arbeiten. Der Begriff klingt viel schöner als das stets ominöse, immer etwas vermufft nach Pflichtlehrplan tönende deutsche Wort „Medienkompetenz“ und folgt der Idee, man müsse nicht nur erst erlernen, Bücher und Zeitungen zu lesen, sondern eben auch das Fernsehen – hinter die Bilder sehen, die Codes, Suggestionen und Tricks erkennen, enttarnen und begreifen: „Media literacy is our strongest weapon against propaganda and manipulation in today’s profit-driven media culture“ heißt es bei Pozner.

Sie stellt sich dabei einen mündigen Zuschauer vor, der nicht hyänenhaft lachend nur die Köder verschlingt, die die Sendungen auswerfen. Der nicht die bequemste Lesart wählt, sondern selbst seinen Pfad im Bedeutungswald freihackt. Der also beim Bachelor nicht (nur) auf die gut ausgeleuchteten, in den Mittelpunkt gerückten Streitereien unter den Kandidatinnen schaut, sondern sich vielleicht entgegen dieser gewünschten Lesart fragt, welche Männlichkeitsfantasien eigentlich einer haben muss, der sich berechtigt fühlt, als Bachelor freie Auswahl bei zwei Dutzend Frauen zu haben. Die wirklich spannende Frage ist am Ende ja nicht, wer nun die letzte Rose überreicht bekommt. Sondern: Welche Botschaft, welcher Subtext wird hier transportiert? Welche Werte werden als „normal“ oder „richtig“ dargestellt? Und was ist die „untold story“, was sind die Aspekte, die gezielt verschwiegen werden, oder wo ist die Perspektive, die man bewusst nicht zeigt? Zugegeben, für eine solche Perspektive muss man vermutlich eine ganze Menge Dating-Formate aufmerksamer konsumiert haben, als es diese Produktionen eigentlich vorsehen oder wünschen.
 


Welche Werte werden als „normal“ oder „richtig“ dargestellt? Und was ist die „untold story“, was sind die Aspekte, die gezielt verschwiegen werden?



Leider hindert schon der Genrebegriff viele Menschen daran, ihr Guilty Pleasure so weit ernst zu nehmen, um sich überhaupt auf derartige Weise damit auseinanderzusetzen. Anders als bei formalen Termini wie „Dokumentation“, „Serie“ oder „Fernsehspiel“ beschreibt der Begriff „Trash“ weniger ein Genre, sondern vor allem ein Werturteil, das naturgemäß aber immer nur subjektive Geltung haben kann. Trash ist demnach: minderwertig, banal-trivial, schäbig. Abfall eben, wie es die Bedeutung des englischen Begriffs schon sagt, Müll, Unrat, Plunder. Primitiv! Allein schon die windschiefen Dialoge, die erbärmlichen Storylines, die das Trash-Fernsehen auftischt. Die Knallchargen, die als Protagonisten von einem Format ins andere hopsen. Zu Beginn der Nullerjahre etablierte sich kurz ein neuer Sammelbegriff für derlei Sendungen: „Unterschichtenfernsehen“ schloss nicht nur ein Urteil über die Qualität der gemeinten Sendungen, sondern auch über das Niveau ihrer angenommenen Rezipienten mit ein. Dieses Abfallfernsehen, all die in der Gosse angespülten Inhalte, das konnte ja nur Schmuddelkost für die unteren Schichten, die Kaste der Dümmlichen, sein. Was natürlich nicht nur grässlich reaktionär, sondern schlichtweg dumm ist, weil der Begriff „Unterschichtenfernsehen“ den einheitlichen Mediengebrauch einer sozialen Gruppe unterstellte – und aburteilte.

Natürlich gibt es längst verschiedene Absolutions-Argumentationen, falls man seine Trash-Liebe vor sich oder anderen rechtfertigen will oder muss. Man kann dann z.B. immer gut mit Schiller hantieren, weil Trash-Fernsehen heute ja strukturell-formal Ähnliches für seine Zuschauer leisten kann wie die Theaterbühne des 18. Jahrhunderts, deren Nutzen Friedrich Schiller 1784 in seiner Rede Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet beschrieb. In seinen Augen kann das Publikum vom Bühnengeschehen für das Leben lernen, weil hier „Laster und Tugend, Glückseligkeit und Elend, Thorheit und Weisheit“ in lebhaften, aufklärerischen Bildern vor den Zuschauern vorbeiziehen. Ganz wie im Dschungelcamp, ganz wie im Sommerhaus der Stars.
 

RTL 2: Das Frauentausch-Glossar: E wie Erdbeerkäse (2017)



Survivor als soziales Schach

Man kann aus diesen Sendungen wirklich viel lernen. Vielleicht nicht über Kindererziehung und Kinderernährung, wie die legendäre „Erdbeerkäse“-Kandidatin aus Frauentausch behauptet. Steven Johnson, Autor des Buches Everything Bad Is Good For You. How Today’s Popular Culture Is Actually Making Us Smarter, glaubt, dass Sendungen wie Survivor oder die diversen Versionen des Topmodel-Franchises ihre Zuschauer tatsächlich raffinierter und sozialstrategisch smarter machen können: Jedes Trash-Format habe seine Regeln und Einschränkungen, argumentiert Johnson. Ein großer Teil des Vergnügens entstehe beim Zuschauen dadurch, zu beobachten, wie die Kandidaten sich durch die vorgegebene Umgebung bewegen – wie mehr oder minder begabte Labormäuse in einer Hindernisparcours-Versuchsanordnung. Wirklich spannend werde es dann, wenn die Kandidaten die Schwachstellen des Settings, die Lücken im System, erkennen und zu ihren Gunsten ausnutzen würden. Sie spielten „soziales Schach“, schreibt Johnson, und der Zuschauer überlege gedanklich eigene Züge, während er fremde Strategien studiere. „Man schaltet nicht geistig ab, wenn man The Apprentice schaut. Man spielt mit“, schreibt Johnson. Wen würde ich feuern? Mit welchem Kandidaten wäre ich am liebsten in einem Team? Wie würde ich mich als Teamleader anstellen?

Auch das ist freilich hoch und ambitioniert gezielt. Mir genügt schon ein simplerer Nutzen, um mich für meine manchmal in den Grundfesten erschütterte, aber letztlich doch unzerstörbare Trash-TV-Liebe kein bisschen zu schämen. Diese Sendungen und ihre Inszenierungen sind für mich auch ein Instrumentarium dafür, was Menschen in dieser Zeit, in diesem Land um uns herum als lustig, richtig oder auch nur „normal“ empfinden. Jede Trash-TV-Sendung ist auch ein Ausbruch aus der Filterblase um uns herum, die meist aus Leuten besteht, die so etwas doch nicht ernsthaft anschauen würden, die in wichtigen Fragen alle ja eh meist unserer Meinung sind. Und, ja, meistens fühle ich mich dabei gut unterhalten. Wenn mich jemand beim ambitionierten Small Talk fragt, bei welchem historischen Moment ich gern dabei gewesen wäre, sage ich es ohne Scham: bei jenem Wendepunkt im Weinspiel des letzten Sommerhauses, als der Mobbergemeinde gewahr wurde, dass sie das favorisierte Bachelor-Paar vor lauter Geifer-Eifer gerade selbst aus dem Wettbewerb gekegelt hatten.