Kolumne: Gatekeeper-Blues

Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Übernehmen Onlineplattformen wie Vice oder BuzzFeed von den traditionellen Printmedien wie „FAZ“, „Spiegel“ oder „Die Zeit“ die Rolle der Gatekeeper in der Meinungsbildung?

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 48-49

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Als ich Mitte der 1990er-Jahre ERASMUS in Barcelona machte, fand ich dort fast alles besser als in meinem käsigen, verspannten Heimatland. Eins aber gab es, worum mich Spanierinnen und Katalanen beneideten: den „Spiegel“. Montag für Montag ein 300 Seiten dickes Nachrichtenmagazin, meist sogar ohne nackte Frau auf dem Titel; dafür mit politischen Reportagen und akribischen Hintergrundberichten, die von ihren Verfassern damals noch nicht „Geschichte“ oder „Stück“ genannt wurden und verlässlich die öffentliche Debatte der angebrochenen Woche prägten. Der „Spiegel“ war ein Leitmedium, und Leitmedium war ein Wort, das man noch ohne Lachkrampf sagen konnte.

Auch in Spanien gab es ein Leitmedium, allerdings handelte es sich um eine Tageszeitung, „El País“. Über deren erschütternden Niedergang in den letzten Jahren zu trauern, ist hier nicht der Ort. Und den „Spiegel“ konnte „El País“ auch zu seinen Glanzzeiten nicht ersetzen, weil eine Tageszeitung eben keine Wochenzeitschrift ist.

Leitmedien, mit denen sich „El País“ vergleichen ließ, gab es in Deutschland auch, zumindest die „FAZ“ und die „Süddeutsche“. Die lösten in Spanien allerdings, ebenso wie „Die Zeit“, keinen Neid aus, sondern nur Befremden darüber, wie sich ein Lesebürgertum mit dem grotesk unhandlichen „nordischen Format“ abfinden konnte, in dem diese Blätter ausgeliefert wurden.

Gemeinsam war ihnen allen aber, dass ihre Redaktionen mit großem Selbstbewusstsein und einigermaßen ausgeprägtem Ethos ihre Rolle als Gatekeeper spielten: indem sie „Themen setzten“, wie gerne gesagt wurde, und eine „Meinungsführerschaft übernahmen“.

In den gut zwei Jahrzehnten seither ist viel über die Printkrise geseufzt worden, über das Zeitungssterben, über einbrechende Auflagen, abwinkende Werbekunden und eine verhängnisvolle Gratiskultur im Internet. Mit diesem Bedeutungsschwund der Druckmedien falle ihr „Gatekeeper-Monopol“ weg, schrieb Manfred Orle schon 2014 (also nach den Kategorien des Netzzeitalters vor einer halben Ewigkeit). Orle war und ist Bundesvorsitzender des Deutschen Medienverbandes, einem von mehreren Berufsverbänden für Journalisten in Deutschland.

Und während angegraute Meinungsführer entsetzt feststellen, dass grünschnäblige YouTuber mit ihren Fellen davonschwimmen, fühlen sich Politiker und deren Referenten von den Medienleuten endlich ernst genommen, weil in den Redaktionen kaum jemand mehr in die Tiefe bohren kann und immer häufiger das Briefing aus dem Ministerium die Recherche ersetzt. In denselben kaputtgesparten Redaktionen wird die eigene Arbeit inzwischen nicht mehr Journalismus genannt, sondern „Qualitätsjournalismus“, im Bemühen, sich vom bunten Treiben der Amateure im Internet abzugrenzen.

Aus dem üppigen „Spiegel“ von einst ist derweil ein Samstagsheftchen von höchstens 150 Seiten geworden, und wenn er seinen Ruf nicht selbst ruiniert, so tut es sein Onlineableger, der zwar die Formen journalistischen Schreibens wahrt, aber Inhalte weitgehend simuliert. Ein typischer Spiegel-Online-Satz:

Trump ist womöglich überzeugt, dass ihm nichts Besseres passieren kann.“

Wo den gefledderten Leitmedien noch ein Scoop gelingt, ist er selten selbst gemacht, sondern wird ihnen netterweise überlassen, wie im Fall des Strache-Ibiza-Videos. Und wenn z.B. das Bundesinnenministerium dem Verfassungsschutz das Ausspähen von Qualitätsjournalisten gestatten will, bringt diese finsteren Pläne kein Leitmedium ans Licht, sondern der Blog netzpolitik.org – den Briefings aus dem Ministerium war schließlich nicht zu entnehmen, dass an dem Referentenentwurf für ein „Gesetz zur Harmonisierung des Verfassungsschutzrechts“ irgendetwas heikel sein könnte.

Die zwei schrillsten Alarmzeichen für den Niedergang der Gatekeeper aber sind: dass sie Themen nicht mehr setzen, sondern ihnen hinterherhecheln. Und dass sie auf diejenigen, die nun an ihrer Stelle notwendige Debatten in Gang bringen, so unsouverän reagieren.

An der selbst ernannten „neuen Rechten“ ist wenig neu, wohl aber ihr Geschick im Umgang mit dem Internet. Die Reste der Traditionsredaktionen starren wie gebannt ins Onlinedauerfeuer von Hassbürgern und Verschwörungsfanatikern. Und sie starren nicht nur, sie lassen sich von den Trollen auch noch die Agenda diktieren – weil deren Wut stets derart dringlich und hemmungslos auftritt, dass verzagte Blatt- und Talkshowmacher das Ungefilterte mit dem Authentischen verwechseln und glauben, es aufgreifen zu müssen.

Den bisherigen Tiefpunkt der Anbiederei an die rechte Stimmungsmache leistete sich 2018 ausgerechnet die gerne „ehrwürdig“ genannte „Zeit“ mit ihrem unsäglichen Titel: „Oder soll man es lassen?“ zur Seenotrettung im Mittelmeer. Die Eingleisigkeit der Fernsehtalkshows, in denen seit vier Jahren fast ausnahmslos über Flüchtlinge und Migration diskutiert wird, ist schon oft bekrittelt worden – vergebens.

Umso erstaunlicher, dass die ständig beschworenen „Sorgen der Menschen“ dennoch andere sind. Laut der diesjährigen Umweltbewusstseinsstudieim Auftrag der Bundesregierung steht das Thema „Zuwanderung“ für die Bevölkerung gerade mal an siebter Stelle der drängenden gesellschaftlichen Fragen.

Wenn sich aber ein YouTuber – hat der überhaupt einen Presseausweis? – erdreistet, einen Rant über das Versagen der Regierungsparteien bei den vorrangigeren Punkten der Prioritätenliste der Bundesbürger ins Netz zu stellen, so darf dies z.B. in der „FAZ“ der Redakteur kontern, der nichts dafür kann, dass er Jasper von Altenbockum heißt, sehr wohl aber dafür, dass er auch so schreibt. Jeder Like ein Armutszeugnis, war sein Versuch eines Rezo-Verrisses betitelt.

Ich nehme an, aus dem Geschlecht derer von Altenbockum hat sich selten jemand etwas so Unschickliches wie Armut erlaubt. Des Adligen schnöselig-pikierte Replik auf das Video Die Zerstörung der CDUaber gibt nicht allein vom Titel her ein Sinnbild für die ganze Gatekeeper-Misere ab. Man hält sich für etwas Besseres. Man ist verunsichert ob nachlassender Reichweite und Deutungsmacht. Man reagiert bockig, wenn einer, der nicht zum eigenen Kreis gehört, in die Bresche springt und – das Format des politischen Essays den Konventionen des Mediums YouTube anpassend – Themen bespricht, die nicht von den größten Krakeelern vorgegeben werden, sondern die Leute wirklich bewegen.

Diese Themen sind übrigens, laut der erwähnten Studie im Auftrag des Bundesumweltministeriums: der Zustand des Bildungswesens (für 69 % der Befragten), die soziale Gerechtigkeit (65 %), der Umwelt- und Klimaschutz (64 %) und der Zustand des Gesundheitssystems (56 %). Und während die alten Leitmedien sich in ihrer Krise verhalten wie die alten Volksparteien, sind aus Verzweiflung schon Portale wie BuzzFeed oder Vice, einst für Klatsch und Tratsch angetreten, zum investigativen Journalismus übergegangen. Jemand muss es schließlich machen, und die traditionellen Gatekeeper können es anscheinend nicht mehr.