Kolumne: Empörung für alle

Michael Ebmeyer

Michael Ebmeyer ist Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Berlin.

Was ist passiert, seit der ehemalige Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel in seinem 2010 erschienenen Essay Empört Euch! (Originaltitel: Indignez-vous!) dazu aufrief, die Finanzkrise und die zunehmenden gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht einfach hinzunehmen?

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 48-49

Vollständiger Beitrag als:

„Empört Euch!“, forderte vor gut acht Jahren in einem viel beachteten Pamphlet ein ehemaliger Résistance-Kämpfer und ahnte nicht, was er anrichten würde. Der Autor, Stéphane Hessel – Sohn des berühmten Berliner Spaziergängers Franz Hessel und Mitverfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen –, stand bei der Veröffentlichung des Büchleins kurz vor seinem 93. Geburtstag und grämte sich darüber, wie lethargisch und fatalistisch die Menschheit auf die Verheerungen der Finanzkrise und den Rückbau der Sozialstaaten reagierte.

An allen Ecken und Enden fehlte es an Empörung. Egal, welche Zumutungen das Goldene Kalb des Neoliberalismus über die Leute brachte: Sie schienen sie als unabwendbares Verhängnis hinzunehmen. „Alternativlos“ hieß es ja damals. So konnte es nicht weitergehen. Am Ende eines langen, engagierten Lebens schlug Stéphane Hessel Alarm.

Seine Schrift geriet zum internationalen Bestseller und schien einen Nerv zu treffen, selbst dort, wo sie vermutlich nicht gelesen wurde. Der Arabische Frühling erblühte. Wenig später beriefen sich die Indignados an der Puerta del Sol in Madrid und an vielen anderen Orten Spaniens ausdrücklich auf Empört Euch!, und auch bei Occupy Wall Street in den USA sah der Greis die Saat seiner flammenden Rede aufgehen.

Ach, ach. Lange her. Stéphane Hessel starb Ende Februar 2013. Drei Monate vor Beginn der Gezi-Park-Proteste in der Türkei. Neun Monate vor Beginn der Maidan-Proteste in der Ukraine. Sechs Wochen vor dem Gründungsparteitag der Alternative für Deutschland (AfD).

Und heute? Heute grassiert die Empörung an allen Ecken und Enden – bloß nicht da, wo Hessel sie sich gewünscht hatte. Der Arabische Frühling? Eine historische Anekdote. Die Türkei? Auf dem Weg in die Diktatur. Die Ukraine? In weiten Teilen ein scheiternder Staat. Spanien? Acht Zwangsräumungen pro Tag, weil die Leute ihre Miete nicht mehr zahlen können.

In den USA hat die Gegenwart die Zukunftsvisionen von Lisa Simpson eingeholt. Die Verheerungen der Finanzkrise sind so gut wie nirgends korrigiert worden, dafür mittlerweile überlagert von einem Wettstreit, welches Land der „freien Welt“ sich den groteskesten Autokraten zum Staatschef wählt. Und die AfD sitzt in allen deutschen Parlamenten.

„Empört Euch!“ – Der Appell wird inflationär befolgt, doch kaum von denjenigen, die gegen Autoritäten und vermeintliche Alternativlosigkeiten rebellieren würden. Stattdessen empören sich die Autoritären.

Kein Wunder, denn der Aufruf zur Empörung hat einen Haken. Sich zu empören, das fällt autoritären und autoritätshörigen Persönlichkeiten viel leichter als antiautoritären. Dem autoritätskritischen Denken wohnt ein ständiger Selbstzweifel inne: ein Drang dazu, nach dem Getöse der Gegner auch noch das eigene Getöse zu hinterfragen. Eine andere Welt ist möglich? Ja, aber machen wir es uns nicht zu einfach? Reproduzieren wir nicht gar, auf unsere Weise, die Muster, gegen die wir aufbegehren?

Während sich die Ansätze zu eher linksgerichteten sozialen Bewegungen – von den Globalisierungskritikern der Jahrtausendwende bis zu Occupy – durch ihre inhärente Skepsis selbst ausbremsten, sind den Wut- und Hassbürgern, wie sie etwa bei Pegida aufmarschierten, solche Skrupel fremd. Sie kosten ihre Empörung aus bis zur Raserei. Und das derart beharrlich, dass ein digital grundierter Mimimi-Faschismus dabei nicht nur herauskommt, sondern mittels Zermürbungstaktik gesellschaftsfähig wird.

Anders als die heutigen Antiautoritären haben die sogenannten Neuen Rechten überhaupt kein Problem damit, politische Strategien ihrer Gegner zu reproduzieren. Das war ja gerade der Clou, mit dem ein paar fiese Franzosen um 1970 das Projekt einer Nouvelle Droite lancierten. Sie bedienten sich bei dem kommunistischen Philosophen Antonio Gramsci und übernahmen sein Verfahren der „kulturellen Hegemonie“: Um unter den Werktätigen ein revolutionäres Bewusstsein zu verbreiten, so lehrte Gramsci, gelte es, die Begriffe, in denen sich dieses Bewusstsein ausdrückt, hartnäckig in die öffentlichen Diskurse einzuspeisen.

Diese Methode eignet sich für rechte Agitation ebenso wie für linke. Und besonders gut funktioniert sie, wenn sich die Diskurse, in denen „kulturelle Hegemonie“ angestrebt wird, im Internet abspielen.

Es hat sich ja mittlerweile herumgesprochen: So vorgestrig die Neuen Rechten in ihren Ansichten zu Blut und Boden, Völkern und Verständigung, Freiheitsrechten und historischer Verantwortung daherkommen – im Umgang mit dem Internet sind sie Avantgarde. Zumindest wenn es darum geht, das Netz als Propagandamaschine zu nutzen. Und die Währung, in der sich dieser Erfolg auszahlt, heißt Empörung.

Es ist bezeichnend, wie sich dabei die Rolle der sozialen Medien gewandelt hat. Dienten sie den Protestierenden im Arabischen Frühling und den „Maidan-Menschen“ noch dazu, sich zu verabreden, Pläne für die Straße zu schmieden, so bilden Twitter und Facebook – und die Kommentarforen der Nachrichten-Websites – heute selbst den Hauptraum der Empörung.

Da schäumt und wütet es unentwegt. Niemand muss mehr den Sessel verlassen, um sich öffentlichkeitswirksam zu ereifern. Im Widerhall der Echokammern dreht die Parole „Empört Euch!“ hohl. Sie ist nicht mehr der Ruf zum Protest gegen unerträgliche Verhältnisse, sondern permanenter Gemütszustand bei der Internationale der Autokraten-Fans – und hierzulande bei einer auf gesamtgesellschaftliche Fraktionsstärke angeschwollenen „Wird-man-doch-wohl-noch-sagen-dürfen“-Sekte, die sich mit Kampfbegriffen von „Lügenpresse“ bis „Volksverräter“ munitioniert hat.

Gerade da, wo sie sich an großen Themen aufhängt, reimt sich Empörung auf Verschwörung. Rüstungsexporte? Ausbeuterische Handelsabkommen? Demontage demokratischer Errungenschaften? Willkür unregulierter Großkonzerne? Alles nicht rasant genug. Lieber steigert man sich z.B. in Fantasien vom großen Bevölkerungsaustausch hinein. Und warum sollte man sich über die Vermüllung der Meere oder gar über CO2-Emissionen und Erderhitzung aufregen, wenn man so schön gegen die von einer geheimen Weltregierung versprühten „Chemtrails“ anbrüllen kann?

Gegen das „neurechte“ und verschwörungsfetischistische Onlinedauerfeuer wäre eine gigantische Reclaim-the-Web-Kampagne nötig. Aber wer rafft sich dazu auf? Überhaupt gäbe es doch etliches, wofür wir uns massenhaft und über die meisten ideologischen Unterschiede hinweg erheben müssten, oder? Genug zu essen für alle? Sauberes Trinkwasser für alle? Gesunde Luft für alle? Bezahlbares Wohnen für alle? Bildung für alle? Frieden für alle …

Ja, ja, schon gut. Also nee. Also – nix da.

Was es gibt, ist Empörung für alle. Nie weiter als ein paar Klicks entfernt.

Und wenn sich die Empörung doch noch einmal im großen Stil ins Freie begibt, wie unlängst mit den „Gelbwesten“ in Frankreich, dann geht es nicht um eine bessere Welt, sondern um den Benzinpreis.