Kolumne: Binging in the Rain

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin und Filmkuratorin.

Jenny Zylka schaut in dieser Kolumne auf die Entwicklung des Fernsehens.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 56-57

Vollständiger Beitrag als:

In einer Kreditkartenwerbung aus dem Jahr 2000 hocken eine Nomadin und ein Nomade in der Wüste, vor ihrem Zelt. Der Wind wirbelt Sand auf, die Frau hält sich schützend einen Schleier vor den Mund, der Mann schaut in die heiße Leere. „Was willst du heute Abend machen?“, fragt er. „Wie wäre es mit Kino?“, antwortet sie. Beide setzen sich futuristische Brillen auf, die sie mit dem „Internet“ (so heißt es im Bild) verbinden, aktivieren einen Zahlungscode, klicken sich durch ein Pupillenmenü – und wippen kurz darauf zu dem 1952 entstandenen Stanley-Donen-Musical Singin’ in the Rain mit. „Was auch immer die Zukunft bringt“, lautete damals der Claim, und es folgte der Hinweis auf die Marke.
 

Wie nahe die zuständige Werbeagentur mit diesem Spot der tatsächlichen Zukunft kam, ist imposant: Nicht lineares Video-on-Demand, mobiles Endgerät, unkomplizierte Abrechnung, dazu jede Menge gespeicherter Userdaten, die den Nomaden beim nächsten Mal personalisierte Klimaanlagenwerbung in den Kopf schalten. Unzweifelhaft, dass sich Fernseh- und Medienkonsum grundlegend verändert haben – und sich noch weiter ändern werden.

Der Inhalt jedoch, der unter dem Wüstenhimmel genossen wird, ist pure Nostalgie – eine klassische Liebesgeschichte am Ende der Tonfilmära, erzählt in der bis heute gebräuchlichen Dramaturgie. Denn die Charaktere aus Singin’ in the Rain sind archetypische Figuren der Heldenreise, wie sie in literarischen, theatralischen und cineastischen Narrativen seit Jahrhunderten benutzt und beschrieben wird: Aus der „normalen Welt“ bricht der Held Don (Gene Kelly) auf, als er den „Ruf zum Abenteuer“ bekommt durch die schnippische (und zauberhafte) Kathy. Don trifft den „Mentor“ Cosmo, überschreitet die Grenze zu einer neuen Welt (dem Tonfilm), muss Prüfungen ablegen (das Problem mit der quäkenden Filmpartnerin Lina lösen). Nach einem scheinbaren Erfolg (der Tonfilm mit der synchronisierten Lina wird ein Hit) muss er jedoch auch noch sein „Elixier“, in diesem Fall die Wahrheit und die Liebe finden – man ahnt es, Kathy. Die Situation, die uns der eingangs erwähnte Werbespot präsentiert, ist also nur in struktureller Hinsicht modern. Inhaltlich, so wird behauptet, bleibt in der Zukunft alles beim Alten: Die Menschen wollen, ob im linearen Fernsehen, per Video-on-Demand oder sonst wo, klassische Geschichten vorgesetzt bekommen – und als passive Konsumentinnen und Konsumenten der auf den Bildschirm gebrachten Fantasie eines anderen Menschen folgen.

Oder ändert sich das momentan? Sind Formate wie die Folge Bandersnatch der britischen Anthologieserie Black Mirror ein Hinweis darauf, dass die Interaktivität, die die Gaming-Community seit Jahrzehnten von ihren Spielen erwartet, sich in Zukunft verstärkt in das fiktive Erzählen mischt – und damit auch Fernsehcontent dramaturgisch beeinflussen könnte? Bandersnatch, der Titel stammt aus Lewis Carrolls Gedicht Jabberwocky, wurde Ende 2018 auf Netflix veröffentlicht. In der 1984 angesiedelten Geschichte will ein junger, psychisch labiler Programmierer einen Fantasyroman in ein Computerspiel umwandeln, ein berühmter Spielentwickler soll dabei helfen. Es helfen jedoch vor allem die Netflix-Zuschauerinnen und ‑Zuschauer: Immer wieder müssen sie sich innerhalb von Sekunden zwischen zwei Vorschlägen entscheiden, die die Handlung manchmal mehr, manchmal weniger beeinflussen – von der Wahl der Frühstückscerealien bis zu der Überlegung, ob der Protagonist lieber zu Hause oder im Büro arbeitet. Netflix verzeichnete die Produktion, die je nach Entscheidung zwischen 40 Minuten und fast 5 Stunden angeschaut (und „gespielt“) werden kann, wie immer ohne genauere Zahlenangaben als Erfolg.

Viel früher, bereits in François Truffauts Ray-Bradbury-Verfilmung Fahrenheit 451 von 1966, war genau diese Idee der (eingeschränkten) Interaktivität im Fiktionsbereich enthalten – wenn Linda Montag (Julie Christie) aufgeregt einer Fernsehserie von zu Hause aus live ein paar Textzeilen zuliefert. Und die Interaktivität aus dem Gaming-Bereich mischt sich längst mit fiktionalen Darstellungen: 2015 erschien Her Story als Schnittstelle zwischen Film und Videospiel. In dem „interaktiven Film“ von Sam Barlow kann man den Fall eines verschwundenen Mannes verfolgen und muss dazu die Polizeiverhöre mit seiner Ehefrau aus einer Datenbank sortieren und analysieren. Eine tatsächliche Filmhandlung bekam man hier nicht vorgesetzt, aber größtmögliche Alternativenfreiheit. Zwei Jahre später produzierte der Spielfilm- und Serienregisseur Steven Soderbergh mit Mosaic eine Krimiserie für HBO, zu der man über eine Smartphone-App eigene Nachforschungen anstellen und das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven erleben konnte, direkt in die Handlung eingreifen ließ sie das Publikum allerdings ebenfalls nicht. Auch Soderbergh will nach Eigenaussage dennoch weitere interaktive Projekte realisieren.
 


Sollte das also die Zukunft der fiktionalen Unterhaltung im Fernsehen sein? Und hat damit die Heldenreise ausgedient? Der Programmdirektor des RBB, Jan Schulte-Kellinghaus, winkt wie viele andere Fernsehmacherinnen und ‑macher im Interview ab. „Ob lineares oder Abruf-Fernsehen – es funktioniert genau wegen der Lean-Back-Situation der Zuschauer“, sagt er. „Man lehnt sich zurück und guckt Folge für Folge – und ist eben nicht aufgerufen, sich darüber Gedanken zu machen, wie es weitergehen könnte“. Man fällt die Entscheidung darüber, was, wann und wo man konsumiert – aber nicht, was passiert. Vielleicht liegt die Zukunft eher in einer „Interpassivität“?

Eine Änderung könnte es aber bei fiktionalen Stoffen doch geben: „Für die mobile Nutzung müssen es kürzere Formen sein“, glaubt Schulte-Kellinghaus. Jüngeres Publikum, so der Eindruck, hat weniger Geduld oder Aufmerksamkeit für (über-) lange Spielfilmdramaturgien, kann beim Binge Watching aber eine achtstündige Seriendramaturgie durchaus komplett einsaugen – eventuell weil sie in Häppchen präsentiert wird, nach denen immer wieder Ausstiegsmöglichkeiten winken. Dieser Eindruck könnte stimmen. Für Soderberghs App zur Serie hatte sich 2017 kaum jemand interessiert, und die Bandersnatch-Idee machte zwar neugierig, aber ließ einen mit halb angerissenen Handlungssträngen, die aus Mangel an produziertem Content nicht zu Ende gebracht werden konnten, zurück.

Denn die Idee der erzählten Geschichte, des Schicksals, das sich nicht von den Konsumentinnen und Konsumenten beeinflussen lässt, zeichnet etwas sehr Menschliches aus: Der in der Dramaturgie oft zitierte „Publikumsvertrag“ besteht beim Film aus der emotionalen Nähe, dem Mitgefühl und der Empathie, die Zuschauer für eine Figur entwickeln. Dass man um einen Filmcharakter Angst hat, ist demnach konstitutiv für das Interesse, das man an der Story entwickelt. Dazu muss dieser Charakter aber ein Gegenüber sein, ein Fremder, er muss seiner eigenen Agenda, seinen eigenen Motiven, seinem Kismet folgen. So wie im echten Leben, in dem Handlungen der Mitmenschen nur begrenzt beeinflussbar sind. In Computerspielen dagegen hat man als Spieler eine andere Absprache mit den Herstellern getroffen – man entschließt sich, die richtige Lösung herauszuknobeln, während ihre Aufgabe ist, diesen Weg möglichst interessant zu verschleiern.

Wenn man einen fiktiven Protagonisten jederzeit aus jeder brenzligen Situation herausholen kann, er also nicht eigenständig (bzw. von der Autorin, dem Autor angeleitet) handelt, erlöscht jedoch das emotionale Interesse. Ein Fan brachte das einst für Alan Balls Serie Six Feet Under, in der die Geschwister Nate, David und Claire ihre Dämonen bekämpfen, auf den Punkt: „Man macht sich richtig Sorgen um Nate“. Das soll man auch. Hätte man Nates Krankheit, der er am Ende erliegt, schon früh durch einen Tastendruck verhindert – man hätte die Staffeln nicht gebingt. Weder am Fernseher noch via Smartphone oder per 3-D-Brille in der Wüste.