Kinderrechte im neuen Jugendschutzgesetz

Elizabeth Ávila González, Christina Heinen im Gespräch mit Jutta Croll

Jutta Croll ist Vorstandsvorsitzende der Stiftung Digitale Chancen und verantwortlich für das Projekt Kinderschutz und Kinderrechte in der digitalen Welt. Sie war Mitglied der Arbeitsgruppe, die mit dem UN-Kinderrechte-Ausschuss die Allgemeine Bemerkung Nr. 25 zu Kinderrechten in der digitalen Umgebung erarbeitet hat, die am 24.03.2021 veröffentlicht wurde (dazu mehr im fsf blog). Ein kinderrechtlicher Ansatz findet sich erstmals auch in dem am 1. Mai 2021 in Kraft getretenen novellierten Jugendschutzgesetz (JuSchG). tv diskurs sprach mit Jutta Croll über Herausforderungen bei der Verwirklichung von Kinderrechten in der digitalen Sphäre und die Partizipation von Kindern im Jugendmedienschutz.

Online seit 04.05.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/kinderrechte-im-neuen-jugendschutzgesetz/

 

 

Ein General Comment oder eine Allgemeine Bemerkung ist die Auslegung einer Konvention der Vereinten Nationen zu einem bestimmten Themengebiet. In diesem Fall hat sich der Kinderrechte-Ausschuss zu den Rechten aus der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) von 1989 in der digitalen Umgebung geäußert.


 

Frau Croll, was war der Grund für die Erarbeitung des General Comments?

Die Kinderrechtskonvention gilt für alle Lebensbereiche, auch für das digitale Umfeld. Tatsächlich ist die Konvention aber über 30 Jahre alt, also zu einem Zeitpunkt entstanden, zu dem es noch unvorstellbar war, dass das Internet von Kindern genutzt wird. Seitdem hat sich durch die Digitalisierung das Leben von Kindern völlig verändert: Sie kommunizieren vielfach über digitale Medien miteinander, veränderte Bildungsprozesse und Teilhabemöglichkeiten führen zu neuen Chancen, bergen aber auch Risiken. Diese Aspekte müssen berücksichtigt werden, wenn man darüber nachdenkt, was die Digitalisierung für das Aufwachsen von Kindern bedeutet.

Darüber hinaus ist die Kinderrechtskonvention mit einem Evaluationsmechanismus ausgestattet; die unterzeichnenden Staaten müssen regelmäßig berichten, was sie zur Umsetzung der Konvention tun. In Folge der 25. Allgemeinen Bemerkung wird in Zukunft auch dokumentiert werden, was die Staaten für die Umsetzung von Kinderrechten im digitalen Umfeld unternehmen. Im letzten Staatenbericht hat das praktisch noch keine Rolle gespielt, auch weil zu diesem Zeitpunkt das Bewusstsein für den Einfluss der Digitalisierung auf das Aufwachsen von Kindern noch gefehlt hat.

Das General Comment gilt für alle unterzeichnenden Staaten. Was wird das Dokument hierzulande bedeuten?

Die Grundannahme der Allgemeinen Bemerkung ist, dass die Digitalisierung Kindern Chancen für die Verwirklichung ihrer Rechte bietet. Gleichzeitig dürfen wir aber die Risiken nicht aus dem Blick verlieren. In Deutschland haben wir die Kinderrechte im Allgemeinen gut umgesetzt. Allerdings gibt es an einigen Stellen Nachholbedarf, vor allem bei der Überlegung, was es bedeutet, wenn Kinder in einer digitalisierten Welt aufwachsen. Gerade das Prinzip des Vorrangs des Kindeswohls nach Artikel 3 der Kinderrechtskonvention spielt eine große Rolle bei der Abwägung der Folgen der Digitalisierung. Zum Teil herrscht in Deutschland noch eine paternalistische Haltung vor, bei der es in erster Linie um den Schutz der Kinder gehen soll. Aber es ist wichtig, auch die Freiheitsrechte in den Blick zu nehmen; alle Kinderrechte wiegen gleich viel.
 


Die Grundannahme der Allgemeinen Bemerkung ist, dass die Digitalisierung Kindern Chancen für die Verwirklichung ihrer Rechte bietet.



Bei der Erarbeitung des General Comments wurden Kinder mit eingebunden. Wie genau wurde die Mitwirkung organisiert und was haben die Kinder gesagt?

Die weltweit durchgeführte Kinderbeteiligung hat unter der Leitung des Young and Resilient Research Centers in Australien gestanden. Das Center hat ein Verfahren entwickelt, wie Kinder beteiligt werden können. Dazu gehören Materialien für Multiplikator*innen, um sicherzustellen, dass die in 28 Ländern stattfindende Kinderbeteiligung auf der gleichen Grundlage passiert. Das Konzept umfasst außerdem Vorgaben für eine ausgewogene Beteiligung verschiedener Gesellschaftsgruppen und Gender. Mädchen und Jungen, aber auch solche, die sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen, sollen im gleichen Maße beteiligt sein.

Die jungen Menschen konnten selbst entscheiden, welche Themen sie ausführlich bearbeiten wollten. Insgesamt haben 709 Kinder und Jugendliche an den Sessions teilgenommen. Ihre Perspektiven wurden im Arbeitsprozess mit dem Kinderrechte-Ausschuss berücksichtigt. Die Heranwachsenden betonten besonders die Bedeutung des weltweiten Austauschs und erklärten, wie das ihren Blick auf die Welt verändert hat. Die beteiligten Kinder und Jugendlichen verdeutlichten aber auch, wo sie mehr Regelungen zu ihrem Schutz erwarten: Kinder wünschen sich, vor Cybergrooming und Cybermobbing besser geschützt zu werden, und sie wollen, dass ihre Privatsphäre mehr respektiert wird, sowohl von den Anbietern als auch in ihrem sozialen Umfeld durch Gleichaltrige oder Familienangehörige. Kinder sehen es als unglaublich große Chance, sich im Internet zu verwirklichen und ihren eigenen Aktionsradius zu erweitern. Gleichzeitig nehmen sie aber auch wahr, dass das Verletzungen der Privatsphäre mit sich bringen kann. Sie sind sich der immer noch herrschenden Ungleichheit zwischen den Ländern bewusst und nehmen auch wahr, dass die Rechte von Mädchen stärker beschränkt werden als die der Jungen. Durch digitale Medien haben die Heranwachsenden mehr Kenntnis von der Lebenssituation junger Menschen in anderen Teilen der Welt und können sich deswegen stärker damit auseinandersetzen.
 


Kinder wünschen sich, vor Cybergrooming und Cybermobbing besser geschützt zu werden, und sie wollen, dass ihre Privatsphäre mehr respektiert wird.



Welche Herausforderungen sehen Sie bei der Umsetzung der Allgemeinen Bemerkung?

Die größte Herausforderung liegt in den nach wie vor bestehenden großen Unterschieden, sowohl was den Zugang zur Technologie und Infrastruktur, aber auch was die Kompetenzen angeht. Auf dem ersten Blick schneidet Deutschland hier im internationalen Vergleich gut ab. Die letzten Monate während der Pandemie haben aber auch gezeigt, dass in Deutschland noch längst nicht alle Kinder gleiche Zugangsmöglichkeiten haben. Damit die Digitalisierung auch die Verwirklichung der Kinderrechte befördert, muss das Phänomen der digitalen Spaltung überwunden werden. Digitale Bildungsangebote müssen für alle Kinder und Jugendlichen zugänglich gemacht werden, dann kann Digitalisierung einen großen Beitrag zur Verwirklichung des Rechts auf Bildung leisten, und zwar in allen Teilen dieser Welt.

Die Allgemeine Bemerkung legt Wert darauf, dass auch Unternehmen in die Pflicht genommen werden. Wie beurteilen Sie das?

Wie alle Dokumente der Vereinten Nationen – Konventionen, Fakultativprotokolle und Allgemeine Bemerkungen – richtet sich auch der General Comment zunächst an die Staaten. Diese sollen allerdings darauf hinwirken, dass auch die Unternehmen ihrer Verantwortung für die Verwirklichung der Kinderrechte nachkommen. Die Staaten werden durch den General Comment dazu aufgefordert, dafür gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, aber auch Anreize für Unternehmen zu setzen, ihren Verpflichtungen im Hinblick auf den Schutz von Kindern gerecht zu werden. Konkrete Forderungen an Unternehmen sind u. a. die Etablierung von effektiven Maßnahmen zur Verhinderung von Sexualstraftaten, die über digitale Plattformen gegen Kinder ausgeübt werden, oder von wirtschaftlicher Ausbeutung sowie die Gewährleistung von Datenschutz und Privatsphäre auf den Plattformen.

Was sind die wichtigsten Vorschläge aus dem General Comment?

Im General Comment hat der Kinderrechte-Ausschuss ganz bewusst keine Priorisierung vorgenommen, sondern auf die Querbezüge und Wechselwirkungen der Rechte verwiesen. Genau wie in der Kinderrechtskonvention bilden die vier Grundprinzipien „Vorrang des Kindeswohls“, „Nicht-Diskriminierung“, „Recht auf Leben“ und „Berücksichtigung des Kindeswillens“ den Rahmen, innerhalb dessen die Umsetzung der Rechte von Kindern im digitalen Umfeld erfolgen soll. Ich möchte gern auf zwei Aspekte näher eingehen: Das Recht auf freie Meinungsäußerung und Zugang zu Informationen nach Art. 13 UN-Kinderrechtskonvention ist ein Freiheitsrecht, das heute mit digitalen Medien in besonderer Weise von Kindern ausgeübt werden kann. Es steht in direktem Zusammenhang mit dem in Art. 12 definierten „Recht gehört zu werden“. Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. Dieses generelle Prinzip der UN-Kinderrechtskonvention erfährt durch Digitalisierung eine weiterreichende Bedeutung: Zum einen, weil digitale Medien jungen Menschen viel mehr Möglichkeiten bieten, sich durch Zugang zu Informationen eine eigene Meinung zu bilden und diese dann mittels digitaler Medien in die öffentliche Diskussion einzubringen. Zum anderen erweitert sich aber auch das, was unter „alle das Kind berührende Angelegenheiten“ zu verstehen ist. Kinder haben heute zum Beispiel durch digitale Medien Einblick in die Veränderungen von Natur und Umwelt durch den Klimawandel weltweit. Damit wird auch ein Kohleminen-Projekt in Australien zu einer Angelegenheit, die Kinder in Deutschland berührt.
 


Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern.



Hat die Allgemeine Bemerkung das neue Jugendschutzgesetz beeinflusst?

Glücklicherweise sind das neue Jugendschutzgesetz und die Allgemeine Bemerkung zeitgleich entstanden, was zu einer Wechselwirkung im Kommentierungsprozess geführt hat. Als im Sommer 2020 der vorfinale Entwurf des General Comment veröffentlicht wurde, haben 28 Staaten dazu eine Stellungnahme eingereicht, darunter auch die deutsche Regierung. Nun haben wir zum ersten Mal ein Jugendschutzgesetz, das explizit einen kinderrechtlichen Ansatz verfolgt. Die Kinderrechte gemäß UN-Kinderrechtskonvention basieren auf dem Dreieck von Schutz-, Befähigungs- und Teilhaberechten. Teilhabe ist nur möglich, wenn Schutz und Befähigung als gut miteinander korrespondierende Basis vorhanden sind. Dass man Schutz nicht nur als Verhindern, Fernhalten oder Blockieren versteht, sondern auch als Befähigung, sich selbst zu schützen, ist etwas grundlegend Neues. Wenn man sich die Regelungen im JuSchG anschaut, ist der Befähigungsansatz schon sehr gut angelegt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Eine wesentliche Änderung ist die Verankerung von neuen Schutzzielen im § 10a: die persönliche Integrität von Kindern und die Orientierung bei der Mediennutzung für Heranwachsende und erwachsene Erziehungsverantwortliche. Damit geht das Gesetz nun einen deutlichen Schritt weiter. Die beispielhaft in § 24a genannten Vorsorgemaßnahmen setzen an dem Prinzip der UN-Kinderrechtskonvention an, dass sich die Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen im Laufe ihres Alters entwickeln. Vorsorgemaßnahmen, wie Voreinstellung zur Kontaktbeschränkung oder Nichtauffindbarkeit von Profilen junger Menschen durch Suchmaschinen, basieren auf dem klassischen Schutzgedanken, je enger der Spielraum, desto geringer die Gefährdung. Durch die sukzessive Erweiterung des Aktionsradius und die schrittweise Befähigung des Kindes im Umgang mit Medien, können mit zunehmendem Alter auch mehr Freiheitsrechte ausgeübt werden.
 


Nun haben wir zum ersten Mal ein Jugendschutzgesetz, das explizit einen kinderrechtlichen Ansatz verfolgt.



Gehen wir noch einmal zurück zu dem kinderrechtlichen Dreieck: Mit dem neuen JuSchG soll eine Bundeszentrale mit einem Beirat, an dem Heranwachsende beteiligt sind, aufgebaut werden. Sehen Sie damit den Partizipationsgedanken ausreichend berücksichtigt?

Über die Aufnahme des Beirats in das JuschG, aber auch dessen Ausführungsbestimmungen bin ich sehr froh. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob damit nun Kinderpartizipation in hinreichendem Maße stattfindet. Insgesamt sind drei von zwölf Sitzen im Beirat für Jugendvertretung reserviert. Dabei gilt die Anforderung, dass zwei Personen bei der Berufung unter 17 Jahre alt sein müssen, eine kann auch über 17 Jahre sein, solange sie eine autorisierte Jugendorganisation vertritt. Die Bundeszentrale muss sich überlegen, wie ein so zusammengesetzter Beirat funktionieren und mit welchen Methoden er arbeiten kann. Gut finde ich, dass dem Beirat bestimmte Aufgaben zugeschrieben werden, wodurch die Jugendbeteiligung noch einmal stärker zum Tragen kommt. In Bezug auf die Berücksichtigung der Kinderperspektive bei der Erarbeitung von Leitlinien der Selbstkontrollen macht das JuSchG keine konkreten Vorgaben, sondern lässt den Selbstkontrollen und damit den dort organisierten Unternehmen einen Gestaltungsspielraum, den es nun intelligent auszufüllen gilt. Hier entsteht dann eine Wechselwirkung mit der Beteiligung von jungen Menschen an der Arbeit des Beirats bei der neuen Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz. Eine wesentliche Aufgabe des Beirats wird ja die Evaluation der gesetzlichen Regelungen sein. Das ist dann nicht „nur“ Gremienarbeit im Sinne von Sitzungsteilnahme, sondern eine bewusste Mitwirkung daran zu beurteilen, ob die Regelungen wirklich greifen und die Leitlinien zu einem wirksamen Schutz, wie Kinder und Jugendlichen ihn sich wünschen, beitragen. Ich bin davon überzeugt, dass die Akzeptanz der Maßnahmen des JuSchG auch bei Heranwachsenden deutlich erhöht wird, wenn sie sehen, dass sie daran tatsächlich mitwirken können. Wichtig dabei ist, dass die Teilhabe an einem solchen Beirat nicht nur Ehre, sondern auch Verantwortung mit sich bringt. 
 


Ich bin davon überzeugt, dass die Akzeptanz der Maßnahmen des JuSchG auch bei Heranwachsenden deutlich erhöht wird, wenn sie sehen, dass sie daran tatsächlich mitwirken können.



Können Sie nach 30 Jahren Kinderrechtskonvention Bilanz ziehen, inwiefern sich die Situation von Kindern weltweit und hier in Deutschland hoffentlich verbessert hat?

Man muss die beiden Ereignisse, also die UN-Kinderrechtskonvention von 1989 und die zunehmende Verbreitung des Internets ab diesem Zeitpunkt, nebeneinander sehen. Auch wenn es Zufall ist, hat seitdem eine parallel verlaufende Entwicklung stattgefunden: Der Blick auf Kinder hat sich deutlich gewandelt, und die Digitalisierung hat einen großen Einfluss auf die Gesellschaft insgesamt. Junge Menschen werden heute verstärkt als eigenständige Rechtssubjekte gesehen; sie übernehmen in größerem Maße Eigenverantwortung, und ich glaube, dass wir uns in absehbarer Zeit auch mit der Herabsenkung des Wahlalters beschäftigen müssen. Kinder und Jugendliche sind durch den Zugang zum Internet und zu digitalen Diensten und Angeboten in immer jüngerem Alter in der Lage, Zusammenhänge zu durchschauen und sich an Entscheidungen zu beteiligen. Für mich ist eine der spannendsten Überlegungen überhaupt, inwieweit sich die zunehmende Umsetzung der Kinderrechte und die Digitalisierung gegenseitig beflügelt haben. Denn wenn wir verstanden haben, was in den letzten 30 Jahren passiert ist, können wir auch besser in die Zukunft schauen.

Jutta Croll ist Vorstandsvorsitzende der Stiftung Digitale Chancen und verantwortlich für das Projekt „Kinderschutz und Kinderrechte in der digitalen Welt“.

Elizabeth Ávila González hat Internationales Recht mit Fokus auf Menschenrechte und Medien in Dresden, Paris und Wrocław studiert und ist jugendschutzrechtliche Referentin bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).