Kinder vor den Bildschirmen

Aktuelle Entwicklungen beim Bewegtbildkonsum von Kindern

Birgit Guth

Birgit Guth ist Leiterin der Medienforschung bei SUPER RTL.

Die Corona-Pandemie sorgt für eine deutliche Veränderung der kindlichen Mediennutzung in Richtung digitale Plattformen. Kinder nutzen vermehrt Streaminganbieter – und finden bei TikTok vermeintlich genau die Möglichkeiten, die ihnen bisher vorenthalten waren.

Online seit 09.12.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/kinder-vor-den-bildschirmen-beitrag-772/

 

 

 

Blickt man heute (Dezember 2021) auf Studienergebnisse zur kindlichen Mediennutzung, so fällt zunächst der starke Rückgang der Fernsehnutzung auf. Voraussichtlich wird die durchschnittliche Sehdauer pro Tag bei Kindern (Altersgruppe 3 – 13 Jahre) von 58 Minuten im Jahr 2020 auf 47 Minuten sinken (das entspräche einem Rückgang von 19 %). Vor zehn Jahren lag der Wert noch bei 93 Minuten im Schnitt pro Tag. Dass die TV-Nutzung zurückgeht, konnte man schon vor Corona beobachten, aber die spezielle Situation ab 2020 bewirkte, dass Kinder neue Anbieter und Geräte für sich entdeckt haben. Kinder mussten Langeweile vertreiben, sich ablenken und zu Hause beschäftigen. Das schaffte die Gelegenheit, sich neu zu orientieren, anderen Content und unterschiedliche Plattformen zu entdecken. Neben den Studien, die SUPER RTL zu diesem Thema durchführte, hat auch das Münchner JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis eine gute Zusammenstellung aktueller Forschung erstellt (vgl. JFF 2021).
 

Corona führt zu neuer Mediennutzung

Das Homeschooling sorgte dafür, dass Kinder noch mehr digital unterwegs waren. Viele Familien holten den alten Laptop aus dem Schrank, besorgten den Kindern ein „Corona“-Handy oder schafften Tablets an, um die Zeit der Schulschließungen zu überbrücken und dann später ihre Kinder am digitalen Unterricht teilhaben zu lassen. Repräsentative Daten zeigen, dass inzwischen 65 % der Kinder ein Smartphone nutzen können, gut die Hälfte (52 %) ein Tablet und 69 % einen PC oder Laptop.
 


Abb. 1: Gerätenutzung durch Kinder, 3 – 13 Jahre (SUPER RTL, März 2021)



Besonders für viele Grundschüler:innen eröffnete sich dadurch eine neue Welt. Sie lernten Videocalls zu starten, beschäftigten sich mit Windows-Programmen und digitalen Whiteboards – und durften YouTube nutzen. Was früher reglementiert war, wurde nun erlaubt. Viele Lehrer:innen stellten Videocontent auf YouTube bereit – und was die Kinder nicht verstanden, ließen sie sich von Tutorials erklären. Wie ihre Eltern im Mobil Office gingen Kinder mit den Geräten plötzlich rational und selbstbestimmt um.

Wir hatten ja keine Lehrer zu Hause, da haben wir YouTube genommen, wenn wir was nicht wussten.“ (SUPER RTL, Oktober 2021)

Hinzu kam die Notwendigkeit, Kinder in ihrer Freizeit zu Hause zu beschäftigen. Auch hier halfen Medienangebote; viele Familien schlossen neue Abos für Streamingdienste ab.

Die Online-Offline-Grenzen sind während der Pandemie verloren gegangen, da das Onlineleben der Kinder im Lockdown neue Bedeutung erhalten hat: Zoom, Teams und YouTube als Wege zur eigenen Bildung; Onlinegames (vgl. dazu auch DKHW 2021) und Social Media als Interaktionskanal mit Freund:innen und das Füllen von Leerlauf, der durch das Wegfallen von Freizeitterminen entstanden ist. Die Eltern haben dieser Entwicklung eher resigniert zugesehen; die Onlinemedien waren eine riesige Entlastung vom intensiven „Sich-kümmern-Müssen“.

Die Kinder haben sich schnell an die neue Situation gewöhnt und managen die neue Medienwelt bedürfnisorientiert für sich selbst.

Ich bin auf jeden Fall disziplinierter im Medienkonsum als meine Mutter, die die ganze Zeit am Handy hängt.“ (ebd.)

Sie stellen ihr Mediaset flexibel zusammen und wissen ganz klar, von welchem Content sie welches Ergebnis erwarten dürfen. Dabei bedienen sie sich aller verfügbaren Plattformen; die frühere Fokussierung auf kindgerechte Anbieter ist nur noch teilweise (vor allem bei den Jüngeren) vorhanden. Und durch die Hintertür eroberte sich ein neuer Player die Medienzeit der Kinder – TikTok ist gerade für Kinder hochattraktiv und inzwischen relevanter als Instagram. Die chinesische Plattform verbindet das, was für Kinder lange nicht zugänglich war; kurze Videos (wie bei YouTube und Instagram) in Verbindung mit Social-Media-Funktionen zur Kommunikation mit Freund:innen, aber auch mit Stars. Dass es auch für TikTok Altersbeschränkungen gibt, wird gar nicht mehr diskutiert – anders als noch bei YouTube und Instagram.

Die Eltern reagieren unterschiedlich auf diese Entwicklung. Die einen staunen, akzeptieren das neue Mediamanagement ihrer Kinder und vertrauen darauf, dass ihre Kinder keinen Schaden nehmen werden. Die anderen sind erschrocken und wollen die Entwicklung zurücknehmen. Sie bremsen die Nutzung der neuen Plattformen und verhängen teils strenge Regeln und Limitierungen.

Wenn ich mir vorstelle, was sie da alles sehen könnten, da wird mir ganz anders!“ (Elternteil in SUPER RTL, ebd.)


Fernsehen neu gedacht

Für das Fernsehen heißt das: Alles, was man über einen Smart-TV ansteuern kann, ist Fernsehen. Für Kinder gibt es kaum noch Unterschiede zwischen TV-Sendern, Streaminganbietern, Mediatheken und YouTube. Der Kanal ist zweitrangig – gesucht wird der passende Content. Sender werden wie Apps angesteuert. Das Fernsehgerät ist bei den Eltern das akzeptiertere Medium, weil sie das Gefühl haben, es besser kontrollieren zu können. Mobile Geräte wie Tablet und Smartphone sind reglementierter – für Kinder aber oft attraktiver.

Neben den klassischen TV-Sendern spielen neue Marken eine bedeutende Rolle in der kindlichen Videonutzung. Netflix, Amazon Prime, YouTube, Disney+ und TikTok liefern als Erwachsenen-Plattformen neue Contentarten verknüpft mit einem coolen Markenimage. 37 % der Kinder habe die Möglichkeit, Streamingdienste zu nutzen. Ergänzt werden diese Anbieter durch die Mediatheken der TV-Sender, die teilweise auch kostenlos ihre Inhalte zur Verfügung stellen – für 70 % der Kinder eine Möglichkeit für zeitversetzte Nutzung.
 


Abb. 2: Videonutzung durch Kinder, 3 – 13 Jahre (SUPER RTL, März 2021)



Netflix ist aus Sicht von Kindern der coolste Anbieter. Hier gibt es immer etwas Passendes und Inhalte, über die man spricht. Die Plattform ist auch bei Erwachsenen beliebt und von Eltern akzeptiert. Die Nutzung von Netflix ist ein Statement in der Peergroup.

Ich freue mich schon am Freitagmorgen auf unseren Netflix-Kinoabend; meistens darf ich auch den Film aussuchen.“ (SUPER RTL, November 2021)

Ergänzend nutzen gerade Familien das Streamingangebot von Disney+. Es steht für Kinoerlebnisse und gruselig-schöne Inhalte. Auch Disney+ ist von den Eltern akzeptiert und wird von ihnen aktiv genutzt, um gemeinsame Rezeptionserlebnisse zu zelebrieren. Zusätzlich haben viele Familien noch ein Prime-Abo bei Amazon und damit Zugriff auf eine große Library an Filmen, Serien und Sportangeboten. Amazon Prime hat kein so cooles Image wie Netflix – es ist eher der zuverlässige „Lieferant“ für Content, der durch die Verbindung zum Shopping einfach da ist, ohne dass die Kinder für einen Zugang kämpfen müssen.

Ganz anders TikTok – die neue Plattform ist Trend und liefert Trends. Sie ermöglicht den Nutzer:innen, in Kontakt mit Stars zu treten, und ist die perfekte Wahl, um Langeweile zu vertreiben. Und sie vernetzt die Nutzer:innen untereinander; eine Möglichkeit, die Kinder immer gesucht haben, was aber stets sehr stark reglementiert wurde durch den Jugendschutz oder die Eltern. TikTok hat es ganz nebenbei geschafft, die angesagte Social-Media-Plattform für Kinder zu werden.

Ich habe ein Profil, aber das ist privat und nur meine Freunde können das sehen … wir liken uns auch immer.“ (ebd.)

Aber auch Kinder haben schon erkannt, dass TikTok süchtig macht und man sehr viel Zeit damit vergeuden kann. Es hat auch gruselige und brutale Seiten und ist aus Sicht der Eltern auf jeden Fall gefährlich. Vom Image her löst TikTok derzeit YouTube ab, die Erwachsenen können hier noch nicht mitreden. YouTube hingegen ist fast schon etwas langweilig geworden für die Kinder – gerade, weil es durch Corona so viel mit Bildungsthemen assoziiert wurde. Die angesagten YouTuber findet man nun teilweise auf TikTok wieder.

Ich finde schon, dass TikTok irgendwie süchtig macht, du guckst und guckst und guckst und es hört nie auf, du kriegst immer mehr Vorschläge.“ (ebd.)

Für das klassische Kinderfernsehen sind diese Entwicklungen Herausforderung und Ansporn. Kinder brauchen auch weiterhin Content, der Kinder Kind sei lässt, der Spaß bringt und Unbeschwertheit vermittelt. Und dieser Content muss auf den relevanten Plattformen verfügbar sein, vor allem auch über das Smart-TV-Gerät. Und er muss von starken und relevanten Marken bzw. Absendern kuratiert werden, um auffindbar zu sein in der fragmentierten Medienlandschaft. Dadurch bietet man auch Eltern eine Orientierungshilfe und stärkt sie in dem Bemühen, den Kindern kindgerechte Inhalte anzubieten.

… ich meine, TOGGO ist lieb, weil du kannst das immer anmachen und da kommt nichts, was du nicht sehen willst … zum Beispiel so was Brutales oder Gruseliges.“ (ebd.)


Literatur:

DKHW (Deutsches Kinderhilfswerk e.V.): Online-Interaktionsrisiken aus der Perspektive von Neun- bis Dreizehnjährigen. Eine Studie des JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerkes e.V. Berlin 2021

JFF (Hrsg.): Mediennutzung in der Covid-19-Pandemie. München 2021

SUPER RTL Insights & Analytics: Mediennutzung von Kindern, repräsentative Face-to-Face-Befragung bei n = 1.204 Müttern von Kindern 3 - 13 Jahre, März 2021, Iconkids & Youth

SUPER RTL Insights & Analytics: Qualitative Contentforschung, unveröffentlicht, n = 48 Kinder der 3. bis 6. Klasse und n = 16 Eltern, Oktober 2021, september Strategie & Forschung GmbH

SUPER RTL Insights & Analytics: Positionierungsstudie Medienmarken, unveröffentlicht, n = 146 Kinder der 2. - 6. Klasse und n = 39 Eltern, November 2021, Rich Harvest