Keine Zeit für Langeweile

Andre Wilkens

Andre Wilkens ist studierter Politikwissenschaftler und hat viele Jahre für Stiftungen, die EU und die UNO gearbeitet. Bekannt wurde er als Autor des Buches "Analog ist das neue Bio" (Berlin 2015).

In: tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien
21. Jg., 1/2017 (Ausgabe 79), S. 54-57

Erinnern Sie sich daran, wann Sie sich das letzte Mal so richtig gelangweilt haben, mit In-die-Luft-Starren und Käsekästchen spielen? Nein? Vielleicht könnte es daran liegen, dass wir alle heute von „digital“ gejagt werden. Unser Alltag ist komplett durchgetaktet. Keine Sekunde darf verschenkt werden. Aber was, wenn wir mutig sind und sie doch mal zulassen, die Langeweile? Ein Selbstversuch.

Vollständiger Beitrag als:

Ich finde einfach keine Zeit für Langeweile. Seit Tagen nehme ich mir vor, darüber nachzudenken und diesen Artikel zu schreiben. Die ersten Ideen kamen schnell, ich hatte ja dazu schon einmal etwas geschrieben. Wo war das gleich? Beim Suchen erinnert mich mein Computer, dass ich noch ein Ticket nach Hannover buchen muss. Während ich dies tue, sehe ich die E-Mail eines Kollegen, der mal eben ganz dringend Kommentare zu einem Konzept braucht. Okay, das kann man ja noch schnell machen. Während ich danach den ersten Satz zur Langeweile schreibe, schiebt sich rechts oben ein Update eines Facebook-Freundes ins Bild. Da muss ich noch schnell meinen Senf dazugeben. Und wo ich gleich auf Facebook bin … Nach einer halben Stunde wichtiger Facebook-Arbeit bin ich zurück in der Langeweile, dem Nachdenken darüber jedenfalls. So geht das weiter. Mein Sohn will schnell was über Facetime besprechen. Mein Kalender erinnert mich, dass ich einen Vortrag vorbereiten muss zu einem ganz anderen Thema, in das ich nun eben gerade mal abtauchen muss. Facebook-Freunde werben mich für Kampagnen zu diesem und jenem. Die letzten bizarren Geschichten aus Trumpland drängen sich ins Bild. Dann ruft auch noch ein realer Freund an, um echt zu reden. Das ist ja schon fast etwas Besonderes. Immer wenn ich meine, Zeit für Langeweile zu haben, diktieren mir meine digitalen Endgeräte irgendetwas anderes. Sie können es nicht ausstehen, wenn ich mich Dingen widme, die nicht in ihren Rhythmus passen. Und wenn sie mal nichts diktieren, bekomme ich aber auch gleich das komische Gefühl: Irgendwas stimmt nicht. Ist das WiFi ausgefallen oder noch schlimmer?

Was früher normal war, ist heute verrückt – und umgekehrt

Wir alle leben wie Vorstandschefs oder Außenminister. Statt von Shareholdern und Weltereignissen werden wir von „digital“ gejagt. Keine Sekunde darf verschenkt werden. Wir sind durchgetaktet, durch die Arbeit, durch die Familie, durch unsere Freunde, durch unsere Freizeit, durch das Spielen zwischendurch. Und falls sich doch mal eine kleine Spalte zum unvorhergesehenen Nichtstun auftut, kommt ein Pokémon Go um die Ecke, das man schnell noch jagen muss – und schwupp ist die Spalte wieder zu.

Vor gar nicht allzu langer Zeit war es ganz normal, wertvolle Zeit zum Aus-dem- Fenster-Starren zu verschenken oder grundlos mit wildfremden Menschen im Café ins Gespräch zu kommen. Heute wird man dafür schräg angeguckt. Ist der verrückt? Was gestern noch normal war, ist heute schon verrückt – und umgekehrt. So wie die vielen Menschen, die durch die Stadt hasten und scheinbar mit sich selbst sprechen, oder all die Leute, die dauernd Bilder von sich machen und der ganzen Welt zeigen müssen. Früher hätte man gefragt, ob die verrückt sind. Aber heute ist das normal. Und wahrscheinlich hätte es bis vor Kurzem als zumindest unanständig gegolten, wenn man ein ständig vibrierendes kleines Gerät in seiner Hosentasche versteckt hätte.

Es gab mal ein Wort dafür, dass man grundlos nichts machte und auch nicht wusste, was als Nächstes kommt. Kein Update, kein Tweet, kein Vibrieren, nichts. Manchmal fühlte es sich lähmend an, manchmal einfach leer. Das Wort hieß Langeweile. Ein Wort, dem scheinbar die Realität abhandengekommen ist. So wie dem Briefeschreiben, Spazierengehen, Zeitunglesen. Kann man denn heute noch Langeweile haben? Einfach so?

Auf der Flucht vor Langeweile?

Ich schlage bei Wikipedia nach und lese, dass Langeweile das unwohle Gefühl sei, das durch erzwungenes Nichtstun hervorgerufen wird. Meist sei es vorübergehender Natur, vergleichbar mit einem schweigenden Nebel, der alle Dinge in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammenrücke. Für die meisten Menschen gebe es nichts Unerträglicheres, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Denn dann fühlten sie ihre Unzulänglichkeit, ihre Abhängigkeit, ihre Ohnmacht, Leere. Aha! Na, das will man natürlich gar nicht haben. Weiter lese ich bei Nietzsche, dass uns die Langeweile eigentlich ja nur wirklich in den Pausen des Arbeitens überfallen kann. Dem versuchen wir zu entgehen, indem wir einfach ohne Pause durcharbeiten, indem wir arbeiten, um zu arbeiten. Das hat der alte Nietzsche schon vor über 100 Jahren erkannt, also lange vor „digital“.

So negativ kam mir Langeweile bisher gar nicht vor. Für mich hat Langeweile etwas mit „langer Weile“ zu tun. Man verweilt irgendwo ohne erkennbaren Sinn. Sie ist einfach manchmal da – und dann wieder weg. So wie Staub. Gerade in meiner Kindheit, während der Ferien bei meinen Verwandten in Thüringen, habe ich mich oft gelangweilt. Aus Langeweile habe ich dann dort das Fahrradfahren gelernt, das Wurstmachen und das Tanzen. Alles Sachen, die ich immer noch gut gebrauchen kann, einschließlich des Wurstelns. Im Nachhinein hat nämlich Langeweile oft auch etwas ziemlich Gutes, weil man sich überlegen muss, wie man die Langeweile überwinden kann.

Ist die Langeweile tot? Weil der moderne Mensch seine Zeit so effizient wie möglich nutzen will und nun durch „digital“ keine Ausrede mehr hat, sich davon ablenken zu lassen? Oder lebt sie fort? Vielleicht im Untergrund. Brauchen wir sie gar? Sollten wir sie reanimieren? Kann man Langeweile eigentlich künstlich erschaffen?

Langeweile ist nicht tot!

Nach zwei Stunden selbst auferlegter digitaler Detox sind die folgenden Gedanken entstanden:

Erstens: Die Langeweile ist nicht tot. Sie manifestiert sich bloß anders. Neben analoger Langeweile gibt es nun auch die digitale. Die Form ist anders, aber das Gefühl ist ähnlich. Wir gucken in den Bildschirm des Smartphones und weil sich da immer irgendwas bewegt, passt es nicht zu unserem Verständnis von Langeweile. Dabei ist es doch oft pure Langeweile, dieses sture In-den-Bildschirm-Starren. Denn Aktivität an sich verhindert Langeweile nicht unbedingt. Wer einfach sinnlos vor sich hin daddelt, kann genauso gelangweilt sein wie einer, der einfach so in die Luft guckt – oder über den platten See. Und als Arbeiter der Klick-Ökonomie kann man mindestens ebenso gelangweilt sein wie ein Fließbandarbeiter. Möglicherweise ist das eh das Gleiche. Aber wahrscheinlich ist die digitale Langeweile anstrengender.

Zweitens: Wir brauchen sie, die Langeweile. Sie ist ein Vorspiel für Veränderung. Sie schafft den Raum für Reflexion, für Entspannung, für das Anstoßen kreativer Prozesse, sie schafft Platz für neue Ideen. Um der Langeweile zu entrinnen, muss man sich etwas ausdenken, etwas tun. Ohne Langeweile fehlt eine Triebfeder und man bleibt stecken in Nietzsches Hamsterrad des Arbeitens ohne Pause.

Drittens: Langeweile kann Sinn stiften. „Digital“ versucht mit allen Mitteln, keine Langeweile zuzulassen, weil wir ja sonst über den Sinn des Lebens nachdenken könnten. Beispielsweise darüber, ob es denn eigentlich der Sinn unseres Lebens ist, immer effizienter zu werden? Der Sinn meines Lebens ist es jedenfalls nicht. Ich strebe nach Glück, nach einem guten Leben – wie die meisten von uns. In Amerika ist das Streben nach Glücklichsein sogar Verfassungsprinzip. Da steht nichts von Effizienz. Macht uns diese ganze digitale Effizienz glücklicher – oder gerade nicht? Sind wir glücklicher, nun, wo wir alles von jedem Ort und zu jeder Zeit machen können? Sind wir glücklicher, weil wir alle Neuigkeiten dieser Welt sofort und im kleinsten Detail erfahren, so wie früher nur Außenminister und CIA-Chefs? Sind wir glücklicher, seit wir mehr Zeit mit Maschinen verbringen als mit Menschen? Sind wir glücklich, wenn Algorithmen uns die Arbeit abnehmen und wir bald nichts anderes mehr zu tun haben als zu spielen und auf Hasskommentare von Social Bots, also auch schon wieder Algorithmen, zu reagieren?

Viertens: Man muss sich Langeweile leisten können. Es ist der reine Luxus, einfach mal nicht effizient zu sein, sondern sich hängen zu lassen, nicht über den nächsten Schritt nachzudenken, der digitalen Ablenkung bewusst zu widerstehen. Die Möglichkeit der Langeweile unterscheidet uns Menschen von der künstlichen Intelligenz. Die können sich bisher noch nicht langweilen, soweit ich weiß. Gut so. Wer weiß, auf welche Gedanken Algorithmen kommen, wenn sie Langeweile haben. Darauf sollten wir es nicht ankommen lassen.

Fünftens: Langeweile wird hip. Wir erleben bald das gefeierte Comeback der Langeweile. Man wird ins Langeweile gehen, dem hipsten Café der Stadt, wo man sinnlos vor sich hinstarren kann und dann aus Langeweile jemanden einfach so anspricht. Auf die Frage, wie es denn geht, wird man ganz zufrieden antworten: „Oh, ich langweile mich gerade so richtig schön.“ Der andere wird neidisch gucken und fragen, wie man das schafft, ob man ein paar Geheimtipps hat zum Langweilen oder ob man gar einen persönlichen Langeweile-Guru kennt. Es wird Werbung für total langweilige Urlaube geben, mit Geld-zurück-Garantie. Sei der Zeit voraus, starre einfach in die Luft, ganz ohne Gerät, ohne WiFi, ohne alles. Träume ganz ohne Technik. Es geht, es ist das nächste Big Ding. Wenn die anderen noch mit ihren altmodischen iGeräten herumfummeln, permanent Netzwerke und Steckdosen suchen, guckst du einfach in die Luft und bist so in der Wolke. Ganz real irreal, ganz ohne Gerät. Das ist cool. Wie machst du es bloß, wird man dich fragen. Hast du schon einen Chip im Hirn? Bist du gar schon ein Cyborg? Nein, du machst es analog, sagst du. Und das ist sogar supereffizient. Du schaltest einfach alles ab und los geht’s. Wer weiß, was dabei herauskommt. Sehr wahrscheinlich gar nichts – oder die nächste ganz große Sache. Langeweile ist was für die ganz Großen. Die sich abheben wollen vom Herdentrieb. Die noch selbst denken und handeln wollen, statt sich pausenlos von Algorithmen herumschubsen zu lassen.

Also, keine Langeweile ist auch keine Lösung. Wir brauchen sie, manchmal. Hab Mut zur langen Weile. Suche sie. Wenn du sie gefunden hast, verweile etwas, vielleicht wird sich etwas Neues eröffnen. Oder vielleicht auch nicht. Auch gut.

So, nun ist meine Zeit mit der Langeweile vorbei. E-Mails warten, Facebook-Freunde müssen gefüttert, der Kalender befriedigt und Kindergeburtstage organisiert werden. Keine Zeit mehr für Langeweile. Bis zum nächsten Mal!