Jugend in Serie

Teen TV im Streamingzeitalter

Moritz Stock

Moritz Stock, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen im Arbeitsbereich „Medien und Kommunikation“. Er beschäftigt sich in seinem Dissertationsprojekt mit filmischen Coming-of-Age-Narrationen.

In den letzten Jahren wurden immer mehr fiktionale Fernsehserien produziert, die sich mit dem Heranwachsen jugendlicher Protagonisten beschäftigen. Dieses Teen TV findet vor allem auf dem translokal agierenden und gerade bei jugendlichen Rezipienten populären Streaminganbieter Netflix statt. Begonnen hat dieser Teen-TV-Boom mit der Mystery-Jugendserie Stranger Things (seit 2016) und dem Highschooldrama 13 Reasons Why (Tote Mädchen lügen nicht) (seit 2017). Der Beitrag gibt einen Überblick über Entwicklungen und wiederkehrende Themen der Netflix-Teenserien.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 2/2020 (Ausgabe 92), S. 68-73

Vollständiger Beitrag als:

Bedingt durch digitale Verbreitungswege ist aktuell eine Blütezeit des Teen TV auszumachen. Damit sind fiktionale Serien gemeint, die von Teenagern erzählen und diese auch vordergründig adressieren (vgl. Krauß/Stock 2020). In unterschiedlichen Variationen und aus Sicht adoleszenter Figuren geht es um Entwicklungsherausforderungen, Identitätssuchen, gelungene oder gescheiterte Initiationen in die Erwachsenenwelt sowie um erste sexuelle Erfahrungen. Damit reflektieren Produktionen des Teen TV immer auch den sozialen Wandel von Übergängen in das Erwachsenenalter.
 

Die Geburtsstunde der Netflix-Teenserien

Fernsehhistorisch hatte das Teen TV in den letzten Jahrzehnten sukzessive an Bedeutung verloren: Dabei war es in den 1990er- und Anfang der 2000er‑Jahre durch Kultserien wie Buffy: Im Bann der Dämonen (1997 – 2003) und Dawson’s Creek (1998 – 2003) noch eine populäre, Generationen prägende Form des Fernsehens. Mit den Jahren gab es aber immer weniger fiktionale Serienproduktionen, welche über jugendliche Protagonisten vom Erwachsenwerden erzählten. „Coming of Age – ein verlorenes Genre?“, wurde entsprechend im Juli 2014 in einer Kolumne der Webseite Serienjunkies gefragt (vgl. Schmitt 2014). Netflix erkannte die entstandene Lücke und begann, diese in immer kürzeren Abständen mit einer Vielzahl unterschiedlicher Produktionen zu füllen.Die Welle an Netflix-Teenagerserien begann mit dem Science-Fiction-Abenteuer Stranger Things: Eine Gruppe kindlicher und jugendlicher Heldenfiguren muss sich nicht nur mit der Bekämpfung einer übernatürlichen Entität, sondern auch mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens auseinandersetzen. In den bisherigen drei Staffeln geht es um den Wunsch nach sozialer Eingebundenheit, den Umgang mit vermeintlicher Andersartigkeit, um die Konfrontation mit alternativen Familienkonzepten und aufkommenden, verunsichernden romantischen Gefühlen.
 

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Im März 2017 folgte das Drama 13 Reasons Why. Die 13 Folgen umfassende erste Staffel, basierend auf dem Jugendbuchbestseller von Jay Asher, setzt sich mit den Hintergründen auseinander, die zum Suizid der 17‑jährigen Schülerin Hannah Baker führen. Die Serie verhandelt auf teils drastische Weise Themen wie Suizid, sexuellen Missbrauch, Mobbing- und Ausgrenzungserfahrungen. Im Rahmen etablierter Genrekonventionen werden die Grenzen des bisher in Jugendserien Darstellbaren durch die unvermittelte Abbildung sexueller Gewalt und durch das Zeigen suizidaler Handlungen ausgereizt.

Durch diese bewusst eingesetzten Schockeffekte löste 13 Reasons Why nach Veröffentlichung der ersten Staffel einige Kontroversen aus: Jugend- und Medienschützerinnen und ‑schützer kritisierten mit Verweis auf den Werther-Effekt (der besagt, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Suiziden, die u.a. in Unterhaltungsmedien gezeigt werden, und der Suizidrate in der Bevölkerung besteht) vor allem die explizite Darstellung einer Suizidhandlung. Im Juli 2019, also fast zwei Jahre nach Veröffentlichung der ersten Staffel, wurde die häufig kritisierte Suizidszene schließlich aus der Serie entfernt. Dieser öffentlich kontrovers geführte Diskurs war dem Erfolg der Serie wohl zuträglich. In sozialen Netzwerken wurde die Serie vor allem von jüngeren Rezipierenden vielfach diskutiert: Es entstanden Fanblogs auf der Mikroblogging-Plattform Tumblr und zahlreiche Fanvideos auf YouTube. Die Produktion war präsent auf Fanfiction-Plattformen wie Archive of Our Own und Social-Media-Angeboten wie Snapchat und Instagram. Die Popularität von 13 Reasons Why zeigte insofern, dass über digitale Verbreitungswege junge Rezipierende mit einer Produktion erreicht werden können, welche sich dramaturgisch zugespitzt mit jugendlicher Alltäglichkeit beschäftigt.
 


Das Teen TV auf Netflix differenziert sich weiter aus

Nach der hohen öffentlichen Sichtbarkeit von Stranger Things und 13 Reasons Why hat Netflix etliche weitere, sehr unterschiedlich ausgerichtete Jugendserien geordert und veröffentlicht. Dazu zählen:

  • die Coming-of-Age-Dramedy Atypical (seit 2017), die den 18‑jährigen autistischen Sam beim Erwachsenwerden begleitet,
  • die animierte Serie Big Mouth (seit 2017), die auf gleichermaßen emotional-aufrichtige wie vulgäre Art die Pubertätserfahrungen einer Gruppe von Schülerinnen und Schülern verhandelt,
  • die Highschool-Mockumentary American Vandal (2017 – 2018), die (semi‑)dokumentarische True-Crime-Serien wie Making a Murderer (2015 – 2018) parodiert,
  • die Teenager-Comedy On My Block (seit 2018) über vier marginalisierte Jugendliche in Los Angeles oder
  • die auf kontroverse Diskurse hin ausgerichtete Satire Insatiable (2018 – 2019) über Schlankheitsobsessionen.

Vielfach diskutiert wurde auch die von Netflix lizenzierte britische Jugendserie The End of the F***ing World (2017 – 2019), die schwarzhumorig und anhand eines Roadmovie-Narrativs von der Bewältigung verdrängter Kindheitstraumata und der Liebe zwischen den Außenseitern Alyssa und James erzählt.

Allein diese Beispiele weisen auf eine große Bandbreite an Genres und Tonalitäten hin. Netflix setzt also auf Spezifizierungen innerhalb des Teen TV und auf „Distinktionsserien“, die sich mit ihren Erzählweisen und Inhalten von Konkurrenzprogrammen abheben sollen, um so unterschiedliche junge Zuschauerinnen- und Zuschauergruppen zu adressieren (vgl. Dellwing 2017, S. 4).

Kommunikative Vernetzung

In diesen und weiteren Beispielen werden verschiedene thematische Schwerpunkte sichtbar: In unterschiedlicher Intensität geht es um den gesellschaftlichen Metaprozess der Mediatisierung und der darüber erfolgten „Restrukturierung von Lebensbedingungen durch den Wandel von Kommunikationsmedien und kommunikativen Infrastrukturen“ (Hoffmann/Krotz/Reißmann 2017, S. 3). Serien wie American Vandal, aber auch die erste deutschsprachige Netflix-Teenserie How to Sell Drugs Online (Fast) (seit 2019), veranschaulichen diesen Wandel auf der visuellen Gestaltungsebene: Displays von mobilen Endgeräten werden nicht bloß abgefilmt, sondern es wird auf dynamische Einblendungen gesetzt und gezielt mit Elementen der digitalen Kultur gespielt. Durch Einbindung von Memes, YouTube-Videos, Instagram Stories und Streams der Gamingplattform Twitch werden im Rahmen etablierter Genrestrukturen neue Wege gefunden, um die digitale Vernetzung junger Menschen filmisch darzustellen und dramaturgisch nutzbar zu machen.
 

Sexuelle Diversität und Feminismus

Ein zweiter Schwerpunkt ist die Verhandlung geschlechtlicher Identitäten, sexueller Orientierungen und auch die Thematisierung aktueller feministischer Diskurse. Ein Beispiel ist die Teenager-Mysteryserie Chilling Adventures of Sabrina (seit 2018), die sich in den ersten drei Staffeln mit reproduktiven Rechten und sexueller Selbstbestimmung, Victim Blaming und sexueller Gewalt auseinandersetzt.

Die komödiantische Highschoolserie Sex Education (seit 2019) zeigt diverse Formen jugendlicher Sexualität und die damit verbundenen Unsicherheiten. Dabei wird mit Normalitätsvorstellungen gebrochen, ein breites Spektrum sexueller Orientierungen und Vorlieben über die Figuren sichtbar gemacht und dadurch beiläufig auch sexuelle Aufklärung betrieben.
 


Gesellschaftspolitische Reflexionen

Neben feministischen Diskursen problematisieren einige Serien soziale Ungleichheit und somit das Aufwachsen unter ökonomisch prekären Lebensbedingungen. Plastisch wird dies in der erfolgreichen, bisher drei Staffeln umfassenden spanischen Teensoap Élite (seit 2018), die auf einer elitären Privatschule spielt. Neben Intrigen, Todesfällen und Affären verhandelt die Serie auch immer wieder Schattenseiten des kapitalistischen Wirtschaftssystems und zeigt, was es heißt, als Heranwachsender unter ökonomisch prekären Verhältnissen aufzuwachsen. Auch in Sex Education wird über die in einer Wohnwagensiedlung lebende Protagonistin Maeve auf ähnliche Problemstellungen aufmerksam gemacht. Im dystopischen Jugenddrama The Society (seit 2019) müssen die jugendlichen Figuren nach dem plötzlichen Verschwinden der Eltern eine neue Form des sozialen Miteinanders schaffen und diskutieren dabei die Unterschiede von sozialistischen und kapitalistischen Gesellschaften.

Die deutschsprachige Netflix-Serie Wir sind die Welle (2019) versucht, anknüpfend an den Jugendbuchklassiker Die Welle von Morton Rhue, sich gesellschaftspolitischer Debatten anzunehmen. Dabei scheitert hier das Unterfangen, im Rahmen eines Jugenddramas eine Vielzahl von Themen – vom Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen, pervertierter Formen neoliberalen Wirtschaftens bis zu Möglichkeiten eines politischen Aktivismus – miteinander zu verknüpfen.

Die Betrachtung aktueller Netflix-Jugendserien veranschaulicht, dass sich weitreichende Destandardisierungen von Jugend, die die Jugendsoziologie festgestellt hat (vgl. u.a. Liebsch 2012, S. 16), auch in den filmischen Abbildungen wiederfinden. Netflix setzt im Teen TV auf Diversität, hier besonders in der Darstellung sexueller und geschlechtlicher Selbstfindungsprozesse. So sind vermehrt auch homo-, bi-, pan- und asexuelle oder transsexuelle Jugendliche und ihre jeweiligen Herausforderungen zu sehen. Viele Serien greifen, verknüpft mit den Genderdarstellungen, zudem Anliegen der #MeToo-Bewegung auf, kommentieren und veranschaulichen diese innerhalb konkreter Seriennarrative. Auch die veränderten, immer stärker digital stattfindenden Kommunikationspraktiken heutiger Heranwachsender werden in den Serien sicht- und damit greifbar.
 

Teen TV außerhalb von Netflix

Der bei Netflix begonnene Teen-TV-Boom greift mittlerweile auf die anderen Streaminganbieter über: Mit dem transmedial erzählten Jugenddrama DRUCK (seit 2018) hatte das öffentlich-rechtliche Content-Netzwerk seinen bisher größten Erfolg (vgl. Krauß/Stock 2018). Der Streaminganbieter Joyn lässt derzeit Katakomben produzieren, eine deutsche Jugendserie, bei der es auch um das Thema „soziale Ungleichheit“ gehen soll.TVNOW orientierte sich an dem Konzept von DRUCK und probierte sich mit Wir sind jetzt (2019) ebenso an einer transmedialen Jugendnarration, die es bis dato auf eine Staffel brachte. Amazon Prime Video, das sich bisher mit Produktionen im dezidierten Teen-TV-Segment zurückgehalten hatte, hat für die Zukunft entsprechende Serien angekündigt, darunter Panic (2020) und die deutschsprachige Koproduktion Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (2020), die sowohl Leserinnen und Leser des 1978 erschienenen Buches als auch deren Kinder erreichen soll. Selbst der längst online operierende Pay-TV-Sender HBO, dessen Zielgruppe sich bisher auf ältere Rezipierende beschränkte, verantwortete 2019 mit Euphoria eine im prototypischen Highschool-Setting angesiedelte düstere Teen-Dramaserie, die mit teils drastischen Darstellungen von Nacktheit, Sexualität und Drogenkonsum an die Quality-TV-Strategien des Senders anknüpft.
 


Und auch Netflix vertraut in Zukunft weiterhin auf Teen-TV-Produktionen, etwa mit der Superheldenserie I Am Not Okay with This (seit 2020), bei der es um die Außenseiterin Sydney geht, die mit dem Suizid ihres Vaters umgehen muss und in Stresssituationen Superkräfte entwickelt. Streaminganbieter bemühen sich sichtbar darum, mediale Räume für Jugendliche zu schaffen, in denen auf unterhaltsame Weise über Problemstellungen, Wünsche und Sehnsüchte der aktuell jungen Generation nachgedacht wird. Es wird sich zeigen, ob das klassisch lineare Fernsehen diesen Trend aufgreift oder die Verhandlung von Jugend sukzessive in den wachsenden Streamingumwelten verschwindet.
 

Literatur:

Dellwing, M.: Kult(ur)serien: Produktion, Inhalt und Publikum im looking-glass television. Wiesbaden 2017

Hoffmann, D./Krotz, F./Reißmann, W.: Mediatisierung und Mediensozialisation: Problemstellung und Einführung. In: D. Hoffmann/F. Krotz/W. Reißmann (Hrsg.): Mediatisierung und Mediensozialisation. Prozesse – Räume – Praktiken. Wiesbaden 2017, S. 3 – 18

Krauß, F./Stock, M.: Social Teen TV. DRUCK und aktuelle Jugendserien. In: tv diskurs, Ausgabe 86, 4/2018, S. 84 – 87

Krauß, F./Stock, M. (Hrsg.): Teen TV. Repräsentationen, Lesarten und Produktionsweisen aktueller Jugendserien. Wiesbaden 2020 (im Druck)

Liebsch, K. (Hrsg.): Jugendsoziologie. Über Adoleszente, Teenager und neue Generationen. München 2012

Schmitt, A.: Axelzucken 1x11: Coming of Age – ein verlorenes Genre?. In: Serienjunkies.de, 06.07.2014. Abrufbar unter: https://www.serienjunkies.de (letzter Zugriff: 19.03.2020)
 

Weiterführender Hinweis:

Vertiefende Analysen aktueller Jugendserien sind in dem von Florian Krauß und Moritz Stock herausgegebenen Sammelband Teen TV. Repräsentationen, Lesarten und Produktionsweisen aktueller Jugendserien zu finden (Wiesbaden 2020 [im Druck]: Springer VS).