Inhaltliche statt technische Konkurrenz

Sebastian Pertsch im Gespräch mit Bertram Gugel

Mit „Protokollen und Standards statt Plattformen“ möchte Bertram Gugel (Berater für Produktkonzeption und Strategieentwicklung) eine Alternative zu den Big Playern wie YouTube, Netflix oder Amazon schaffen. Der Gedanke des derzeit viel gefragten Medienwissenschaftlers ist: Ein europäisches Netflix kann nur dann gelingen, wenn Medien und Marken nicht mehr versuchen, technisch zu konkurrieren. Dieses Rennen sei nie zu gewinnen. Vielmehr brauche es eine stärkere inhaltliche Konkurrenz, die nur mit offenen Standards und einer gemeinsamen Idee funktionieren könne.

Die Onlineversion des Interviews ist um ein paar Passagen umfangreicher als die Printausgabe. Die PDF-Datei entspricht der kürzeren Fassung aus tv diskurs 90, 4/2019, S. 72–75

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 4/2019 (Ausgabe 90), S. 72-75

Vollständiger Beitrag als:

Die Medienlandschaft befindet sich in einem ständigen Umbruch, steht aber mit Blick auf Online deutlich besser als noch vor einigen Jahren da. Denn so langsam vollzieht sich auch ein gesellschaftlicher Wandel, für Medieninhalte im Internet auch etwas zu bezahlen. Zugleich führen immer mehr Verlage Paid-Content-Modelle ein. Die privaten Fernsehsender streamen kostenpflichtig ihr TV-Programm und ihre Sendungen über eigene Videoportale und – fast noch wichtiger – es lässt sich Geld damit verdienen.

Das ist prinzipiell aus meiner Sicht auch alles toll. Allerdings muss man auch sagen, dass wir uns nicht mehr im Jahr 2000 befinden. Es ist seitdem sehr viel Zeit ins Land gegangen und es ist mittlerweile nicht mehr so, dass man aus einer Position der Stärke heraus agieren kann. Die Medien und Unternehmen haben sehr spät gemerkt, dass die Einschläge näher kommen. Nun müssen sie plötzlich so reagieren, sie werden gezwungen und haben keine Wahl mehr. Das ist aus meiner Sicht ein großes Problem und sehr, sehr schade. Schließlich fehlt die Zeit, die es bräuchte, um solche Geschäfte zu entwickeln und nachhaltig aufzubauen. Die Konsequenz der verpassten Chance ist dann häufig: Wie machen wir’s? So wie die anderen, nur in Grün oder Blau …

… was zwar nicht elegant, aber häufiger ja auch ein Erfolgskonzept ist.

Aus zwei Gründen ist das oftmals fatal: Ich kann ja zum einen nur kopieren, was ich sehe, aber schon ein oder zwei Jahre alt ist und sich über eine gewisse Zeit bewährt hat. Das heißt, ich kopiere etwas Altes, bräuchte dafür aber ebenfalls noch mal ein oder zwei weitere Jahre für die Umsetzung. Letztlich ist die Innovation drei oder vier Jahre alt. Zum anderen verliere ich beim simplen Kopieren zwangsläufig das, was mich besonders macht, und ich weiß noch nicht einmal, warum ich überhaupt diese Entscheidung getroffen habe. Möglicherweise ist für mein redaktionelles Angebot eine andere Ausrichtung besser? Das ist das derzeitige Dilemma: Wir haben zwar neue Angebote, aber keine Zeit, etwas Neues auszuprobieren und Produkte nachhaltig zu entwickeln.

Haben die Medien die Kontrolle darüber verloren?

Ein zentrales Problem ist, dass zumindest das Tempo von anderen vorgegeben wird. Das „Heft des Handelns“ haben die Medien aus der Hand gegeben, weil die Verhaltensmuster, also wie Medien konsumiert werden, an anderer Stelle definiert und vorgegeben werden. Mit Blick auf TV haben Nutzerinnen und Nutzer heute ganz andere Anforderungen an Videos, wenn sie Netflix und YouTube kennen. Mein Lieblingsbeispiel ist: Wenn YouTube den Stream nicht lädt, dann sagen alle „Scheiß Telekom!“ oder „Scheiß Vodafone!“. Wenn hingegen die Mediatheken der Fernsehsender nicht funktionieren, dann hat immer der Sender Schuld. Dabei könnte ja vielleicht auch der Internetprovider verantwortlich sein. Die Kompetenzzuschreibung ist also eine andere. Die Erwartung eines „Gold-Standards“ sollen alle anderen Anbieter auch erreichen müssen. Die große Herausforderung für Medienunternehmen, um Kunden zu binden oder zurückzuholen, besteht also darin, sich nicht mit der technischen Höchstleistung von Netflix oder YouTube zu messen. Denn technisch kann ich das Rennen nie gewinnen. Ich muss es stattdessen inhaltlich gewinnen.

Plattformen wie YouTube zeigen bombastische Metriken auf: 500 Stunden Videos werden angeblich pro Minute hochgeladen. Die Nutzerzahlen liegen bei rund 2 Mrd. Die Wachstumsraten sind ordentlich. Die Umsätze sind sehr gut. Sind diese permanenten Wiederholungen dieser Kennzahlen möglicherweise nicht auch ein Trick der Betreiber, um von hausgemachten Problemen abzulenken?

Es ist natürlich ein Spiel, das alle spielen: Wir kennen das von Quoten im Fernsehen, wir kennen das von den Auflagen bei Zeitungen: Wenn ich eine Metrik definiere, dann werde ich an ihr gemessen. Und weil ich sie selbst definiert habe, weiß ich auch, mit welchen Tricks ich arbeiten kann, um die Zahlen schönzureden. Auch bei den Videoportalen gibt es solch einen Hang, weshalb es sich immer lohnt, die Metriken kritisch zu hinterfragen. Besonders schwierig wird es, wenn die Zahlen nicht durch Dritte überprüft werden können und die Betreiber intransparent und nicht validiert Daten präsentieren. Wir erinnern uns da beispielsweise an mehrere Fälle bei Facebook, als Videoabrufe inflationär und falsch gemessen wurden. Im Grunde genommen ist es ja erst einmal egal, ob das Video nun zehn- oder 20‑mal abgerufen worden ist. Nicht hingegen, wenn ich dafür als Produzent in Form von Werbung Geld bezahlt habe.

Mit hausgemachten Problemen meinte ich beispielsweise eher die Masse an Verschwörungstheorien, raubkopierten Filmen, grundsätzlich viel Geklautes, viel Hass, dann noch Terroranschläge live gestreamt – und alles garniert mit Werbeeinblendungen. Trotz Beteuerungen, es besser zu machen, bleibt es seitens der Betreiber häufig bei Lippenbekenntnissen. Essenziell ändert sich zumindest subjektiv betrachtet wenig.

Mit der Art und Weise, wie die US-zentrierten Plattformen angelegt wurden, sind das häufig nicht lösbare Probleme. Free Speech ist in den USA ein unglaublich hohes Gut – und in dieser widersprüchlichen Dimension habe ich auch Hate Speech. Wenn ich das eine löse, mindere ich das andere. Ermögliche ich es beispielsweise, besonders einfach live zu streamen, um Free Speech hochzuhalten, kann ich es auch missbrauchen, um das Gegenteil zu erzeugen. Ein großes Problem bei Plattformen wie Facebook, Twitter, YouTube und Instagram ist, dass inhärent angenommen wird, dass Gutes dabei herauskommt und die Welt gerettet wird – ein gern genommenes Narrativ aus dem Silicon Valley. Eine häufig falsche Annahme war lange Zeit auch: Jetzt kommt Social Media und nun sind wir alle demokratisch, weil wir alle eine Stimme erhalten haben. Mittlerweile merken wir, dass die Technologie, die das ermöglicht, weder gut noch böse ist, aber für Gutes und Böses genutzt werden kann. Wenn wir immer nur davon ausgehen, dass diese Technik für Gutes verwendet wird, ist ein riesengroßes Scheunentor zum Bösen offen. Ein fundamentaler Fehler. Jetzt ist es zu spät für die etablierten Portale, denn sie schreiben ständig ihre eigenen Regeln um. Schon vor Beginn einer neuen Plattform müssen Werte festgelegt werden, über die entschieden wird, welches Video rein darf und welches raus muss. Erst im nächsten Schritt kann ich auf etwas aufbauen.

Dazu passt Ihre These: „Media ist besser ohne ‚Social‘“. Was meinen Sie damit?

Wir haben bekanntlich Kommentarfunktionen auf den meisten Websites und in allen sozialen Netzwerken. Ich kann überall etwas kommentieren. Mittlerweile bin ich der Meinung: Nein, lasst doch „Social“ „Social“ sein. Also: Lasst doch die Leute miteinander reden, aber nicht mit Medien oder Marken. Wenn die Leute reden wollen, sollen sie doch mit Menschen reden. Wenn wir zwanghaft versuchen, alle sozialen Bedürfnisse nur in Kommentarspalten einzubauen, entstehen ganz komische Konstrukte. Auffällig ist hierbei, dass selbst Facebook verstärkt die Gruppenfunktion mit den Jahren ausgebaut hat und in die Messenger verstärkt investiert, um die Medien zu verdrängen. Denn eine Interaktion ist nicht nur Sharen und Liken. Besser wäre ein journalistisches Format, das den „Social“-Gedanken besser in den Inhalt integriert. Dann hätten wir endlich etwas Interaktives, etwas Dialogisches – also ein partizipatives Medienformat. So, wie wir gerade Social Media betreiben, ist es unglaublich kontraproduktiv. Es wird viel Geld investiert, um die Kommentare sauber zu halten, wohingegen schon vorher klar ist, was darunter passieren wird. Es wird unglaublich viel Druck gemacht, die Medien blasen Inhalte in diese Netzwerke, in denen die Nutzer eigentlich aus ganz anderen Gründen unterwegs sind. Aus meiner Sicht geht eine Kernkompetenz verloren. Die Medienunternehmen erstellen zwar die Inhalte, über die geredet wird, aber sie verfehlen den Dialog.

Unter den massenweise hochgeladenen Videos befindet sich auch viel Müll und sie verdrecken ungefiltert auch die Digitalisierung. Kaschieren die hochgelobten Zahlen nicht auch diese Verschmutzung?

Momentan haben wir eine unglaubliche Informationsflut, denn technisch gesehen ist für uns alles möglich und unendlich viele Informationen stehen uns zur Verfügung. Die Frage ist nur: Welche Informationen sind für mich überhaupt relevant? Uns Menschen überfordert diese Masse, und die Plattformen helfen dabei nicht unbedingt. Im Gegenteil: Sie forcieren, dass die User auf ihrer Plattform möglichst lange bleiben, möglichst viel sehen und möglichst viel teilen. Oder anders: Höher, weiter und mehr! Dabei hat für uns doch eine Information nur dann einen Zweck, wenn wir danach handeln, wenn wir darüber nachdenken, wenn es für uns relevant ist, wenn es uns hilft. Wenn es hingegen nur eine Erregung erzeugt, hat es keinen Zweck. Es ist wie bei den Kartoffelchips: Du hast erst Ruhe, wenn die Tüte leer ist. Dummerweise ist bei dieser Analogie der Newsfeed niemals zu Ende. Du kannst immer weitermachen. Das Problem ist also nicht, dass wir mal Chips essen, sondern nur noch Chips essen. Wir haben derzeit eine endlose Tüte. Wir fressen die Chips in uns hinein und haben vergessen, dass wir auch mal eine richtige Mahlzeit essen sollten. Die digitalen Plattformen handeln genauso wie jene in der Ernährungsindustrie: Milliarden Euro und Dollar werden ausgegeben, um die psychologischen Tricks herauszufinden, wie Konsumenten die ganze Packung Chips auf einmal essen – oder im Feed immer weiterscrollen und immer weiterklicken. Ich kämpfe als Einzelner also gegen eine riesige Industrie, die darauf optimiert ist, die psychologischen Schwächen des Menschen auszunutzen.

Diese Informationsflut, von der Sie sprechen, begegnet uns zunehmend auch im Journalismus: Während früher – ich nenne es mal vorsichtig – der Katalysator dafür sorgte, dass die Medien das Relevante aus der Masse filterten, bricht dieser heute zwar nicht weg. Aber er bekommt Alternativen und eine große Konkurrenz. Jeder kann heute zum Sender und Produzenten von Inhalten jedweder Qualität werden und sie im Internet verbreiten.

Ja, das ist ein Problem. Natürlich ist klar, dass man gar nicht über alles berichten kann. Die Kritik kann aufkommen, dass vielleicht für mich das eine Event schon immer relevant war – und wieso haben die „bösen“ Medien das nicht gemacht? Gewiss steckt der Journalismus auch in einer kleinen Vertrauenskrise und wir brauchen definitiv wieder mehr Vertrauen in bestimmte Institutionen. Es hat einen Wert, wenn ich sage: Ich vertraue dieser Quelle. Sie hat über ein Ereignis nicht berichtet – also ist es für mich nicht relevant. Weil darüber lang und breit berichtet wurde, weiß z.B. ganz Deutschland, was der Supreme Court in den USA macht und was Donald Trump bevorstehen könnte. Wenn ich nach Deutschland blicke, muss ich feststellen, dass ich noch nicht einmal die Namen der Bundesverfassungsrichter kenne. Auch dürften die wenigsten wissen, wie das Gericht überhaupt gewählt wird und was es genau macht. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten ist für mich im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht völlig irrelevant – außer dass er zur Erregung beiträgt. Genau deswegen ist für mich eine vertrauenswürdige Quelle wichtig, die mir sagt: Das Thema „Amtsenthebung“ ist vielleicht unterhaltsam und bietet viel Drama, ist aber nicht wirklich wichtig für dich.

Mit diesen oder ähnlichen Gedanken haben Sie vermutlich den Deutschland-Pass entwickelt, mit dem Sie den großen Playern wie Facebook, Instagram und YouTube Konkurrenz machen möchten.

Es muss halt Funktionen geben, die einem sagen: Hey, bei mir gibt’s nicht alles, aber es gibt diese Auswahl! Ein beschränktes Angebot, das eher als Service verstanden werden sollte. Wie gerade schon festgestellt, gibt es keine Mengenbeschränkung im Internet. Jeder kann alles raushauen, weshalb es doch einen Anreiz geben müsste, kuratierte Inhalte anzubieten. Wir müssen bei Videos dorthin, wo sich die 3‑Minuten-Radionachrichten oder die 15‑minütige Tagesschau schon immer befanden: nicht, dass ich möglichst viele Nachrichten, eine möglichst hohe Reichweite und ganz viele Nutzer habe, sondern dass ich sie auf ein kleineres Set an Inhalten leite, die für sie trotzdem relevant sind. Dafür brauchen wir Leute, die das Tor zu den Inhalten offen machen, die die Inhalte bereitstellen und auch Experten, die die technische Infrastruktur bereitstellen. Zwischen ihnen muss ein vernünftiger Austausch stattfinden, damit ein Ökosystem entsteht, an dem alle Beteiligten Spaß haben.

Also eine Art Netflix für …

Es wäre illusorisch zu glauben, eine Plattform wie Netflix kopieren und auch noch plattmachen zu können. Vielmehr geht es darum, dass Medienunternehmen mit diesen großen Playern umgehen und konkurrieren können. Deshalb war es meine Überlegung, die Komponenten von Amazon, Facebook, YouTube, Instagram, Netflix und auch von den deutschen Fernsehsendern zunächst zu zerlegen und gründlich zu analysieren. Ich finde es beispielsweise sinnlos, dass jeder Sender seine eigene Plattform entwickelt. Bei ARD, RTL und ProSieben wird unglaublich viel Geld für etwas Grundlegendes investiert. Besser wäre es stattdessen, dass sich alle – und zwar gemeinsam erarbeitet – auf einen Standard einigen. Dann gibt es nicht zehn verschiedene Player, sondern nur einen. Eine andere Frage, die sich aus der Analyse ergeben hat, war: Was macht die Plattformen so stark? Letztlich ist ihre Stärke, Inhalte – teils exklusiv – zu aggregieren. Ein Gegengewicht könnte ein sogenannter Deutschland-Pass sein, der die Inhalte – idealerweise auch mit allen der Öffentlich-Rechtlichen und der Privaten – zu einem festen monatlichen Beitrag von beispielsweise 20,00 Euro umfasst. 10,00 Euro davon könnten aus dem Rundfunkbeitrag kommen, sodass effektiv nur noch 10,00 Euro auf die Nutzerinnen und Nutzer entfallen. Für den Zugang zu diesem Deutschland-Pass gibt es verschiedene Tore in Form von Apps oder Websites, die jeder Betreiber selbst definiert. Der Anbieter legt also selbst fest, wen er reinlässt und was er dem User aus dem gesamten Fundus der Datenbank anbietet. Ein Wettbewerb soll also trotzdem stattfinden können. Aber das Ziel ist nicht eine Konkurrenz um die bessere Technik, sondern um den besseren Inhalt. Erst dadurch kann eine ernsthafte Alternative zu Amazon oder Netflix entstehen.

Wie findet dann die Verteilung der Einnahmen statt, wenn alle dieselbe Datenbank nutzen?

Hier gibt es drei Komponenten, die in der Überlegung sind: Denkbar wäre zunächst eine Grundvergütung, da jeder bereitgestellte Inhalt schon einen Wert hat. Nehmen wir das Beispiel ARTE: Wenn man sich mal umhört, sagt Ihnen jeder, dass er ARTE toll findet – auch wenn der Sender nur von wenigen angeschaut wird. Aber der Wert, dass es ARTE gibt, wird hoch anerkannt. Wenn also ARTE Beiträge in dieser Datenbank hochlädt, sollte der Beitrag selbst bei geringer Nutzung mit einem Grundbetrag belohnt werden. Die zweite Komponente wäre eine nutzungsbasierte Vergütung. Wenn eine Unterhaltungssendung voll reinschlägt, sollte das ebenfalls honoriert werden. Die dritte Komponente wäre eine prämienbasierte Bezahlung: Wie viele Nutzer habe ich als Anbieter zu meinem Tor und in die Welt des Deutschland-Passes gebracht? Ich denke, aus diesen drei Komponenten lässt sich ein solides Ökosystem schaffen.

Hat Qualität und Niveauvolles dann nicht immer ein Nachsehen? Man kennt es ja aus dem linearen Fernsehen: Hochwertige Sendungen wie der Weltspiegel oder Dokumentationen auf ARTE unterliegen in der Quote ja gnadenlos manchem belanglosen Trash bei den Privaten. Dafür sind die hochwertigen Produktionen auch noch deutlich teurer.

Jede Metrik, die mit Geld hinterlegt ist, verleitet dazu, missbraucht zu werden. Bei Spotify werden beispielsweise die Songs immer kürzer, weil pro Abruf bezahlt wird. Klar, diese Gefahren bestehen immer. Deswegen finde ich die erste Komponente des Bezahlsystems noch einmal wichtig zu erwähnen: Unabhängig der Nutzung soll jeder Beitrag honoriert werden. Ein ähnliches System gibt es bekanntlich bei der Rundfunkgebühr und den öffentlich-rechtlichen Sendern. Hier gibt es teils auch Sendungen, die von sehr wenigen Menschen gesehen werden. Aber gerade weil ein großes Spektrum abgedeckt werden soll, ist es wichtig, dass sie trotzdem produziert werden. Diese doppelte Komponente, die sowohl die Belange der öffentlich-rechtlichen als auch die der privaten Sender berücksichtigt, wäre eine schöne Dualität.
Aber nicht nur die Fernsehsender sollen angesprochen werden und neue Nutzer generieren. Jeder könnte eine App entwickeln und sich beispielsweise auf einen Themenbereich konzentrieren – oder auch nur auf eigene produzierte Inhalte. Oder es gibt Produzenten, die keine Lust mehr auf YouTube haben und das offene System des Deutschland-Passes nutzen wollen. Meine Hoffnung ist ergänzend, dass sich aus den vielfältigen Möglichkeiten und verschiedenen Zugängen mit kuratierten Inhalten ein Korrektiv ergibt. Denn wenn z.B. ein Anbieter zu trashig wird und nur noch dafür Sorge trägt, Reichweite zu erzielen, gibt es vielleicht einen Konkurrenten, der ein ähnliches, aber besseres Angebot – auf Basis derselben Datenbank – hat.

Deutschland spielt im internationalen Bereich kaum eine Rolle. Wäre ein Europa-Pass nicht geeigneter, um sich weltweit besser Gehör zu verschaffen? Vermutlich wäre eine starke europäische Mediathek auch für Produzenten attraktiver.

Das Prinzip könnte sicher auch eine Stufe höher sein, die Komplexität ist allerdings ebenfalls höher. Deswegen sollte zunächst eine Lösung geschaffen werden, die handhabbar ist. Natürlich kann auch eine Super-Mediathek geschaffen werden, wobei dafür die technischen Voraussetzungen schon mit dem Deutschland-Pass gegeben sind. Wegen der definierten Standards und Schnittstellen können die Modelle unkompliziert erweitert werden. In der ersten Umsetzung sollten wir aber eine Stufe tiefer ansetzen und den Zugang solide regeln. Eine weitere Herausforderung: Je mehr Leute mitspielen, desto komplizierter wird es, überhaupt anzufangen. Es wäre ja schon schön, wenn sich ProSieben und die Öffentlich-Rechtlichen an einen Tisch setzen würden. Ein europäisches Gegengewicht zu Netflix und Co. wäre klasse, aber erst einmal nicht pragmatisch.

Der Deutschland-Pass soll werbefrei sein. Wie bekommt man stark werbetreibende Unternehmen weg von Werbung?

Möchte man die Erfahrung, die die Verlagsbranche jetzt gemacht hat, noch einmal machen? Also: Sie gingen auf Reichweite und Werbefinanzierung, nur um sich eine blutige Nase zu holen – und jetzt so langsam kommen sie auf die Idee, auf Paid zu gehen? Wenn wir im Digitalen ehrlich sind, ist derzeit der Werbemarkt ziemlich brutal. Es gibt die zwei, drei Großen: Facebook, Google und Amazon – und dagegen muss ich bestehen, vor allem mit Reichweiten. Werbung macht alles unglaublich kompliziert: Die wollen alles wissen und müssen ihre Nutzer überwachen. Die unglaubliche technische Komplexität ist nur für die Werbung erforderlich. Alleine aus technischen Gründen ist es viel einfacher, auf Werbung zu verzichten. In einer werbefreien Version hätte ich ein klares Versprechen und es wäre ein wichtiger Schritt, um sich unabhängig zu machen, sich stabil aufzustellen und einem riesigen Kopfzerbrechen aus dem Weg zu gehen.

Wie ist es zu diesem Dilemma überhaupt gekommen – sowohl bei den Nutzern als auch bei den Anbietern? Weshalb ist es so schwer, den eingeschlagenen Weg zu verlassen?

Einige Dilemmata haben wir auch unserer deutschen Spezialität zu verdanken. Das Bundeskartellamt hat beispielsweise viele gemeinsame Bemühungen immer wieder kaputt gemacht. Natürlich hätte man das deutsche Modell anders aufziehen können. Außerdem fehlte lange die digitale Kompetenz. Nun fehlt die Zeit, dafür muss jetzt schnell gehandelt werden. Andererseits kann man natürlich immer wieder behaupten, die anderen sind die Bösen. Vielleicht sollten wir uns alle mal an die eigene Nase fassen: Auf Nutzerseite war bislang alles so schön geil, super, bequem, easy – und kostenlos. Der Haken wurde nicht gesehen.

Kurz zusammengefasst: Wie kann Ihr Deutschland-Pass gelingen?

Er kann gelingen, wenn man sich auf alte Tugenden besinnt. Fernsehen funktioniert, weil man sich irgendwann auf eine Norm geeinigt hat. Deswegen gibt es verschiedene TV-Geräte, die alle das Programm über Standards darstellen können. Es ist also nichts Neues, dass man sich einigt und gemeinsam agiert. Ich denke, das Gleiche brauchen wir auch im Digitalen, wo wir in einigen Bereichen noch immer am Anfang stehen. Ich sehe das trotzdem und durchaus positiv und bin mir sicher, dass wir mit einem starken Willen etwas Eigenes schaffen können.

Sie halten Vorträge, geben Workshops und im Hintergrund arbeiten Sie als Berater. Was nervt Sie besonders in Gesprächen mit Entscheidungsträgern?

Es nervt mich nicht, aber die Differenz zwischen Sagen und Handeln lässt mich manchmal etwas ratlos zurück. Die meisten Analysen sind zwar super und alle Beteiligten kennen die Schlussfolgerungen. Aber die Konsequenz aus diesen Analysen, drastisch in Digitales investieren zu müssen, wird nicht gezogen. Mein Rat ist: Hört euch zu, redet miteinander, schaut auf die Analysen und handelt entsprechend. Denn spätestens jetzt, wo es noch Reichweite im Analogen gibt und Geld verdient wird, ist der Zeitpunkt ideal, aufs Digitale zu setzen. Ich will ja auch nicht behaupten, dass es einfache Entscheidungen sind. Da geht es um Schicksale, da geht es um Menschen, um Karrieren. Aber ein „Weiter so!“ ist halt auch schwierig.

Bertram Gugel ist als Medienwissenschaftler Berater für Produktkonzeption und Strategieentwicklung.

Sebastian Pertsch ist freiberuflicher Journalist und arbeitet als Dozent, Autor und Sprecher.