Informationskrieg im Internet

Die Zukunft der Demokratie wird im Netz entschieden

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Nach vierjähriger AfD-Präsenz im Bundestag hat sich die Hoffnung, die Partei werde sich entzaubern, als frommer Wunsch erwiesen. Die sogenannte Alternative für Deutschland hat im Gegenteil gelernt, ihre Instrumente noch effektiver einzusetzen, und missbraucht das Parlament regelmäßig als Bühne: nicht um konstruktive Politik zu betreiben, sondern um Bilder für ihre Auftritte bei Facebook und YouTube zu produzieren. In seinem Buch Propaganda 4.0 beschreibt Johannes Hillje, wie die AfD die digitalen Medien konsequenter als jede andere Partei benutzt, um ihre Klientel zu erreichen und noch enger an sich zu binden.

Online seit 20.08.2021: https://mediendiskurs.online/beitrag/informationskrieg-im-internet-beitrag-772/

 

 

 

Der Kommunikationsberater Johannes Hillje spricht von einem „Informationskrieg“. Die Strategie der Partei ziele darauf ab, das Sagbare im öffentlichen Diskurs zu verändern und mittels eines eigenen Medienapparats „eine digital konstruierte, radikal rechte ‚Desinformationsgesellschaft’“ (Hillje 2021, S. 8) als Kontrast zu den von der AfD als „Systemmedien“ und „Lügenpresse“ bezeichneten etablierten Medien zu schaffen. Alice Weidel, Spitzenkandidatin der Partei für die bevorstehende Bundestagswahl, hat diese Vorgehensweise vor drei Jahren mit dem griffigen Slogan „AfD statt ARD“ umrissen (vgl. Scholze 2018).

Bei einer Online-Vorstellung der vollständig überarbeiteten Neuausgabe seines erstmals 2017 erschienenen Buches schilderte Hillje, welche Erfolge die Partei in den vergangenen vier Jahren erzielt habe. Dass heute mehr Menschen als noch vor gut zehn Jahren den klassischen Medien misstrauten, führt der Politikwissenschaftler auch auf die Öffentlichkeitsarbeit der AfD zurück. Deren Politik sei zudem nicht ohne Wirkung auf andere Parteien geblieben, wie sich an der Haltung der CDU in Sachsen-Anhalt zur Erhöhung des Rundfunkbeitrags gezeigt habe.
 


Die politische Agenda der Rechtsextremisten mag rückwärtsgewandt sein, aber digital ist die Partei allen anderen voraus.



Als Basis für den Erfolg betrachtet er die von ihm „Propaganda 4.0“ genannte Medienstrategie der Partei. Deren Kern sei der „intensiv betriebene Aufbau eigener Kommunikationskanäle“ und damit eines alternativen Wahrheitssystems im digitalen Raum (ebd., S. 17). Die politische Agenda der Rechtsextremisten mag rückwärtsgewandt sein, aber digital ist die Partei allen anderen voraus, wie nicht zuletzt die Verwendung einschlägiger englischer Fachbegriffe verdeutlicht („Framing, Priming, Virtue Signalling, Nudge, Negative oder Dirty Campaigning, Astroturfing“ [ebd., S. 7]). Für den parteieigenen YouTube-Kanal produziert die AfD neben Talkshows auch Dokumentationen mit Titeln wie Dieselmord im Ökowahn oder Regierung im Coronawahn.

In einem internen Papier (Strategie 2019 – 2025: Die AfD auf dem Weg zur Volkspartei) sind die Ziele unter der Überschrift „Der Kampf um die Meinungs- und Deutungshoheit“ klar formuliert. Entsprechende Strategien haben auch maßgeblich den Wahlkampf und die Präsidentschaft Donald Trumps sowie die Brexit-Kampagne geprägt.
 

„Diesel, Schnitzel, Billigflug“

Viele dieser Instrumente sind bekannt. „Framing“ zum Beispiel ist die Einbettung von Ereignissen in einen bestimmten Deutungszusammenhang, „Negative und Dirty Campaigning“ erklären sich von selbst, und sogar das „Astroturfing“ ist ein alter Hut, denn sein Ursprung liegt in der Graswurzelbewegung. Zum „Novum in der Kommunikationskultur der deutschen Parteienlandschaft“ (ebd., S. 7) werde das Vorgehen der AfD laut Hillje durch die Konzertierung der verschiedenen Maßnahmen. Astroturfing zum Beispiel soll eine Massenbewegung vortäuschen, wo gar keine existiert. Hillje erläutert dies anhand eines Gedankenspiels. Zum Feindbild im Wahlkampf 2021 hat die AfD die Grünen erkoren, weshalb sich die Rechten zu Bewahrern des Lebensstils ihrer Anhängerschaft („Diesel, Schnitzel, Billigflug“) erklärt hätten. Im Zusammenhang mit der Dieseldebatte beschreibt Hillje ein Szenario, bei dem zahlreiche vermeintlich spontane „Gelbwesten“-Proteste orchestriert würden: „Derartige Bilder, massenhaft verbreitet über die reichweitenstarken Digitalkanäle der Partei, könnten wie ein Brandbeschleuniger in der öffentlichen Debatte über Klimapolitik wirken“ (ebd., S. 7).

Im Rahmen der Buchvorstellung beschrieb die frühere Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Renate Künast, wie die AfD das Parlament mit demagogischen Mitteln für ihre Zwecke instrumentalisiere: „Jeder Tag beginnt mit einem Tabubruch.“ Die entsprechenden Auftritte der Rechten landeten anschließend nicht nur in deren digitalen Kanälen, auch die etablierten Medien „stürzen sich darauf“. Dank dieser Strategie – „Inszenierung geht über Inhalte“ – erreiche die Partei laut Hillje regelmäßig ihre Kernklientel, weshalb sich ihre Umfragewerte „trotz politischer Nicht-Leistungen“ konstant im zweistelligen Bereich bewegten. Die Videos aus dem Bundestag wie auch aus den Landesparlamenten würden zudem manipuliert, indem zum Beispiel „eine Debatte entgegen dem tatsächlichen Ablauf neu und somit verfälscht zusammengeschnitten“ werde (ebd., S. 109).
 


Inszenierung geht über Inhalte.



Die „relevante Reichweite“ gerade des YouTube-Auftritts – die AfD hat laut Hillje 100.000 Abonnenten und somit mehr als alle anderen Parteien zusammen – zeige sich nicht zuletzt in den rund 30 Millionen Aufrufen während der zurückliegenden Legislaturperiode. Die Partei habe sich auf diese Weise „ein eigenes Massenmedium“ für ein „digitales Volk“ mit gemeinsamer Identität geschaffen. Die aktiven Nutzer sorgten für eine entsprechende Grundreichweite.

Wie so viele andere rechtspopulistische Bewegungen, schreibt Hillje in seinem Buch, sei auch die AfD ein „Spitzenverdiener der Aufmerksamkeitsökonomie“ (ebd., S. 14): Diesen Bewegungen gelinge es „mitunter völlig überproportional zu ihrer politisch-institutionellen Bedeutung, das knappe Gut der Aufmerksamkeit in der medial und digital vermittelten Öffentlichkeit an sich zu reißen“ (ebd.). Auch in dieser Hinsicht nutzt die Partei eine Strategie, die in Folge der 68er-Bewegung entstanden ist: die Etablierung einer Gegenöffentlichkeit.
 

Buchvorstellung und Diskussion mit Johannes Hillje und Renate Künast, MdB, über sein Buch Propaganda 4.0. Wie rechte Populisten unsere Demokratie angreifen. Moderation Maria Fiedler (Tagesspiegel)



Pseudojournalistische Gestaltung

Die offizielle Facebook-Seite des AfD-Bundesverbands hat nach Angaben Hilljes „weit über 500.000 Fans“ (ebd., S. 101); so viele wie keine andere Partei. Fans bedeuteten allerdings nicht automatisch Reichweite. Nur wenn die Beiträge so gestaltet seien, dass die Nutzerinnen und Nutzer interagierten, „spült der Algorithmus die Botschaften in den Newsfeed von immer mehr Nutzenden“ (ebd.). Typisch für die „Posts“ der AfD, in der Regel drei pro Tag, sei deren „pseudojournalistische Gestaltung“ (ebd.). Ähnlich wie bei den Boulevardmedien bestehe eine typische AfD-Meldung aus einem auffälligen Bild mit Bezug zu einem der Kernthemen der Partei (Islam, Kriminalität, Europa), „auf dem eine knackige Schlagzeile steht“: „Afghane soll Mädchen (13, 16) vergewaltigt haben (26. September 2019)“ (ebd.).

Die Strategie der AfD sei also nicht, in sozialen Netzwerken vielfältige Themen zu besetzen oder sich unabhängig von der „Agenda der ‚Altmedien’“ zu machen, sondern „eine Einordnung aktueller Ereignisse im Sinne der AfD-Programmatik“ zu liefern: „Das ist die Sauerstoffzufuhr für die rechtspopulistische Gegenöffentlichkeit“ (ebd., S. 102).
 


An manchen Tagen erreiche die AfD dank ihrer „Aufmerksamkeitsspirale“ […] mehr Menschen als die heute-Nachrichten im ZDF.



Als besonders erfolgreich, erläuterte Hillje bei der Buchvorstellung, habe sich das Mikrotargeting erwiesen. Diese Form der Kommunikation stammt aus dem Marketing und beschreibt die effiziente Ansprache sehr fein definierter Zielgruppen mit ganz bestimmten Botschaften. Im Bundestagswahlkampf 2017 habe sich die AfD via Facebook konkret an schwangere Frauen gerichtet und sexualisierte Ängste vor Geflüchteten geschürt.

Für Parteien sei das Werbeinstrument von Facebook, schreibt Hillje, „wie ein Selbstbedienungsladen“ – und vor allem preiswert: „Wer seine Digitalkampagne gut durchdenkt und an die richtige Zielgruppe ausspielt, kann schon mit rund 250 Euro knapp tausend neue Fans dazu gewinnen“ (ebd., S. 112); lauter potenzielle Wahlstimmen. Die zentrale Facebook-Währung sei jedoch nicht die Anzahl der Fans, sondern „die ‚Interaktionen’ der Community mit den Beiträgen“ (ebd.): Je öfter auf einen Beitrag reagiert werde, etwa mit einem „Gefällt mir“, einem Kommentar oder einem einmal lachenden, einmal wütenden Emoji, desto höher werde er vom Facebook-Algorithmus eingestuft und entsprechend vielen Nutzerinnen und Nutzern angezeigt. Laut einer Untersuchung Hilljes hat die AfD mit ihren Beiträgen von September 2017 bis Dezember 2020 knapp 29 Millionen solcher Interaktionen ausgelöst; alle anderen Parteien seien im gleichen Zeitraum insgesamt nur auf 13 Millionen Interaktionen gekommen. An manchen Tagen erreiche die AfD dank ihrer „Aufmerksamkeitsspirale“ (ebd., S. 114) mehr Menschen als die heute-Nachrichten im ZDF; je zugespitzter und emotionaler sie kommuniziere, desto mehr Aufmerksamkeit werde ihr zuteil. Das macht sie zum perfekten Partner für Facebook: „Solange die User interagieren, bleiben sie auf der Plattform, und ihnen kann Werbung zugespielt werden“ (ebd.).
 

Massives Demokratieproblem

Kein Wunder, dass Renate Künast Microtargeting, das an die Ängste und Sorgen der Menschen appelliert, am liebsten verbieten würde. Sie fürchtet angesichts der zunehmenden Bedeutung der digitalen Medien ein „massives Demokratieproblem“ und verwies in diesem Zusammenhang auf die Bedrohung von Menschen, die sich in der Kommunalpolitik engagierten. Viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister legten angesichts von Hass und Hetze im Netz ihre Ämter nieder. Ihre Prognose:

Die Zukunft der Demokratie wird im Netz entschieden.“

Immerhin konnte Hillje den etablierten Parteien bei der Veranstaltung einen Lernprozess attestieren: 2015 und 2016 habe es noch einen „sehr rechtsextrem geprägten Diskurs über Geflüchtete“ gegeben. Mittlerweile sei allen klar geworden, dass die AfD „über die Veränderung der Sprache die Wirklichkeit verändern“ wolle. Andererseits gelinge es der Partei nach wie vor, den parlamentarischen wie auch den gesellschaftlichen Diskurs zu zerstören, indem sie Debatten extrem polarisiere. Infolgedessen würden die unterschiedlichen Lager nicht mehr in der Sache argumentieren, sondern sich nur noch gegenseitig delegitimieren. Die AfD, schreibt Hillje, habe aber „nicht nur das Sagbare verändert, sondern auch längst auch das Machbare“ (ebd., S. 10). Die sprachliche Gewalt habe ihr Echo „in physischer Gewalt auf den Straßen gefunden“: in Kassel, in Halle, in Hanau (ebd., S. 9).
 

Quellen:

Hillje, J.: Propaganda 4.0. Wie rechte Populisten unsere Demokratie angreifen. Bonn 20212

Scholze, M.: Alice Weidel will AfD statt ARD. In: Main-Post, 12.05.2018. Abrufbar unter: www.mainpost.de (letzter Zugriff: 17.08.2021)

Verlag J.H.W. Dietz: Johannes Hillje und Renate Künast sprechen über sein neues Buch „Propaganda 4.0“. In: YouTube, 10.8.2021. Abrufbar unter www.youtube.com (letzter Zugriff: 17.08.2021)