Im Kino gewesen. Empört.

Werner C. Barg

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Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produzent und Dramaturg. An der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) vertritt er die Professur „Audiovisuelle Medien“.

In Abwandlung der Tagebucheintragung Franz Kafkas „Im Kino gewesen. Geweint.“ geht der folgende Beitrag einigen Konzepten und Strategien der Erzeugung von Empörung im Kino nach. Was sind die ästhetischen Faktoren, was die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die in der Filmgeschichte das Publikum über Kinofilme in Rage und Wut brachte?

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 44-47

Vollständiger Beitrag als:

Empörung über Kinofilme als politische Strategie

6. Dezember 1930, Mozartsaal des Neuen Schauspielhauses am Nollendorfplatz in Berlin: Auch zwei Tage nach der Erstaufführung des Films Im Westen nichts Neues war der Saal bis auf den letzten Platz ausverkauft. Der Hollywoodfilm in der Regie von Lewis Milestone hat zuvor Furore gemacht. Deutschnationale Kreise waren Sturm gelaufen gegen die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Erich Maria Remarque. In ihm schilderte Remarque offen und schonungslos das Schicksal von Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg. Mit hohem Realismus zeichnete Regisseur Milestone in seinem Film dann auch den dreckigen Überlebenskampf der Soldaten im Stellungskrieg nach. Die klare Antikriegshaltung von Roman und Film brachte schon im Vorfeld des Kinostarts einen Teil der deutschen Presse gegen den Film auf2 – und dies, obwohl der Film ohnehin nur in einer deutlich gekürzten und zensierten Fassung überhaupt in die deutschen Kinos kommen konnte. Seine gnadenlosen Kriegsschilderungen passten nicht zur nationalistischen Stimmung in Teilen der deutschen Bevölkerung, in der sich der Aufstieg der NSDAP langsam abzuzeichnen begann. Die Nazis hatten dann auch 100 Eintrittskarten für den Film erworben. Nach etwa 20 Minuten störten sie die Vorführung durch ihren lautstarken Protest, durch empörte Zwischenrufe. Sie warfen Stinkbomben und ließen weiße Mäuse frei. Als die Mehrheit der Kinobesucher sich gegen den Terror zur Wehr zu setzen begann, der schnell aus der Empörung erwuchs, kam es zu Schlägereien. Die Polizei griff ein. Die Vorstellung wurde abgebrochen.
 


Die Zeitschrift „Film-Kurier“ schrieb seinerzeit zu den Zwischenfällen: „Es waren mehrere nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete anwesend, so Dr. Goebbels und Pfarrer Münchmeyer, die ihre Anhänger durch Zurufe aufmunterten und den Skandal dirigierten.“3 Die Empörung wurde politisch gesteuert und gehörte zur Strategie der rechtsextremen Kreise, Pazifismus in Deutschland mundtot machen zu wollen. Am 11. Dezember entzog die „Filmoberprüfstelle des Deutschen Reiches“ dem Film tatsächlich die Verleiherlaubnis.4 Doch der Hype auf den Film war ungebrochen. In grenznahen Gebieten fuhren die Menschen hinüber nach Holland oder in die Schweiz, wo der Film in ungeschnittenen Fassungen zu sehen war.

Das Totalverbot löste wiederum eine große Empörungswelle in linken und pazifistischen Kreisen aus. Carl von Ossietzky und Carl Zuckmayer, Käthe Kollwitz und Heinrich Mann waren einige der prominenten Gesichter dieses Protests. Im Reichstag erklärte der Abgeordnete Külz von der Staatspartei: „Wenn aber die Gasse Zensur ausüben könne, dann sei es aus mit Deutschland als Kulturstaat.“5 Schließlich durfte Im Westen nichts Neues doch ab September 1931 in einer nochmals gekürzten Version gezeigt werden – allerdings nur noch kurz: Nach der Machtergreifung im Januar 1933 wurde der Film von den Nationalsozialisten verboten.

In New York lief er 23 Wochen in den Kinos. Er wurde ein weltweiter Erfolg, gewann zwei Oscars. Doch in Deutschland wurde der Film erst lange nach dem Ende der Naziherrschaft gezeigt, zum ersten Mal wieder in einer Fernsehausstrahlung der ARD am 11. September 1969.

„Dass die Nazis Anfang der dreißiger Jahre den amerikanischen pazifistischen Film Im Westen nichts Neues im Kino niedergeschrien hatten, wusste ich. Unfassbar war für mich, dass die SED, deren Mitglied ich war, eine solche gelenkte Provokation organisiert hatte.“6 (Beyer, zitiert nach Conrad 2016)

Regisseur Frank Beyer bezog sich mit diesen Worten auf die von der DDR-Staatspartei gelenkte Empörung von „ Arbeitern“ bei der Premiere seines Films Spur der Steine.

 


Am 1. Juli 1966 startete der Film in ausgewählten Kinos der DDR. Die DEFA hatte 56 Kopien von Beyers Verfilmung des gleichnamigen DDR-Bestsellers von Erik Neutsch für die Kinoauswertung herstellen lassen. Nachdem der Film bei den Potsdamer Arbeiterfestspielen sehr positiv aufgenommen worden war, kam aus der Parteileitung die Kritik, dass besonders die filmische Darstellung des Parteifunktionärs, der mit menschlichen Schwächen, aber ohne moralische Skrupel gezeigt wurde, „die Rolle der Partei und des Staates“ verunglimpfen würde. Beyer bearbeitete den Film daraufhin sogar selbst noch einmal. In dieser Version wurde er ab Juli 1966 im DDR-Kino gezeigt. Doch nicht nur im Premierenkino „International“ an der Berliner Karl-Marx-Allee kam es zu inszenierten Protesten von Arbeitern, die sich über die realistische Darstellung der Arbeitsverhältnisse auf einer Großbaustelle empörten und erklärten, die Darstellung entspreche nicht der DDR-Realität. Sie forderten lautstark die Absetzung des Films, der laut Parteibeschluss ohnehin nur acht Tage in den Kinos zu sehen sein sollte. Nun wurde er nach drei Tagen schon abgesetzt. Die Prophezeiung an Regisseur Beyer und Autor Neutsch, mit der DDR-Kulturminister Klaus Gysi den Kinostart begleitete, hatte sich bewahrheitet: Der Film werde „bestimmt nicht unkritisch vom Publikum aufgenommen“7 werden.

Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“8

Mit diesen Worten schrieb die DDR-Verfassung von 1949 die Kunstfreiheit fest. Den auf Basis eines sehr populären Buches entstandenen Film von Frank Beyer mochten die DDR-Machthaber 1966 nicht sogleich verbieten, wie sie es zuvor im Zuge einer verschärften Kulturpolitik nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965 mit Filmen wie Kurt Maetzigs Das Kaninchen bin ichoder Denk bloß nicht, ich heule von Frank Vogel gemacht hatten. Bei Spur der Steine  inszenierten sie Empörung gleichfalls als politische Strategie, um einen vermeintlich sachlichen Grund für das Verbot des Films schaffen zu können, den sie, nicht aber das Publikum, als staats- und parteifeindlich einstuften. In den wenigen Tagen seiner Aufführung 1966 sahen allein in Berlin schon 8.000 Zuschauer Beyers Film. Er hätte ein Publikumsrenner in den DDR-Kinos werden können.

Empörung als Gegenwehr gegen kulturelle und moralische Diskursverschiebungen

Selbst die inszenierte Empörung im Kino gründet sich bei den von politischen Mächten inszenierten Empörenden auf deren enges, oft einseitig-dogmatisches Weltbild. Alle gesellschaftlichen Diskurse und Debatten, die dieses Weltbild öffnen, erweitern oder gar gefährden könnten, werden von diesen Menschen bekämpft. Empörung ist die emotionale Ausdrucksform dieses Abwehrkampfes.

Auch die junge Bundesrepublik gründete sich in der restaurativen Adenauerzeit am Beginn der 1950er-Jahre auf enge moralische Wertesysteme, etwa auf ein sehr traditionelles Rollenverständnis von Frau und Mann in Familie und Beruf. Der Film Die Sünderin von Willi Forst, der 1951 in die Kinos kam, wirkte da wie ein schriller Trompetenstoß gegen die zeitgenössische Sexualmoral. Hildegard Knef spielte in diesem, im Grunde seichten Melodram eine ehemalige Prostituierte, die aus Liebe zu ihrem erkrankten Geliebten, einem Künstler, ihr altes Gewerbe wieder aufnimmt, doch sein Sterben nicht aufhalten kann und sich schließlich nach seinem Tod selbst das Leben nimmt. Eine kurze Nacktszene mit Hildegard Knef machte Die Sünderin zum Aufreger in dieser prüden Zeit. Ohnehin von der gerade gegründeten Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) erst ab 18 freigegeben, liefen besonders Kirchenvertreter und selbst ernannte „Sittenwächter“ Sturm gegen den Film im Kino. Der konservative katholische Erzbischof von Köln, Josef Kardinal Frings, zog in einem Hirtenbrief gegen den „moralisch schlechten“ Film zu Felde. Pfarrer Werner Hess, Filmbeauftragter der Evangelischen Kirche, legte seine Mitarbeit in der FSK nieder. Der Ruf nach einer Filmzensur wurde laut. Die Kehrseite der moralischen Entrüstung, die in dem Film von Forst „eine grobe Beleidigung der sittlichen Grundsätze“9 sehen wollte, war die enorme Publicity, die der Film durch die moralische Empörung bekam. Die Rückseite der Prüderie ist die Lüsternheit. Die Sünderin wurde ein riesiger kommerzieller Erfolg. Die Menschen strömten scharenweise in die Kinos, während die Moralwächter in den Rathäusern besonders im Süden der Republik versuchten, den Kinobesitzern das Leben schwer zu machen, wie beispielsweise in Eichstätt.10 Mit dem Publikumserfolg verband sich aber auch eine gesellschaftliche Diskussion um die Frage, inwieweit der Film als Kunstwerk unter das Recht der freien Meinungsäußerung nach § 5 des Grundgesetzes fällt. Diesen Schutz der Freiheit des Films als künstlerische Äußerung hat das Bundesverfassungsgericht 1954 in einem Urteil bestätigt.

Der Film Das Schweigen wurde dann auch 1963 von der FSK ohne Auflagen freigegeben und erhielt sogar das Prädikat „Besonders wertvoll“. Dennoch empörten sich vor allem Vertreter der katholischen Kirche erneut über die expliziten Sexszenen des Films. Besonders die Szene, in der Bergman den Geschlechtsakt auch mit der subjektiven Kamera aus der Perspektive der Frau einfängt, löste Empörung aus. Sexuell aktive und die eigene Sexualität auslebende Frauenfiguren waren das absolute No-Go bei den Sittenwächtern in den 1950er- und 1960er-Jahren. Solche filmischen Darstellungen empörten, weil sie den gesellschaftlichen Status quo der Herrschaft der Männer über die Frauen angriffen, konnten aber auch hier mithelfen, gesamtgesellschaftliche Debatten anzustoßen, die – zumindest auf der gesetzlichen Ebene – bis Mitte der 1970er-Jahre Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau festschrieben.11

In puncto Sexualmoral hatten bis zur Mitte der 1970er-Jahre ohnehin Oswalt Kolles „Aufklärungsfilme“ und die Sexfilm-Welle im bundesdeutschen Kino als kommerzielle „Nachwehen“ der vermeintlichen „sexuellen Revolution“ der 68er-Studentenrevolte einen deutlichen Wertewandel sichtbar werden lassen.
 

Die Sünderin (Foto: © Deutsches Filminstitut), Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (Foto: © WDR [A] | Id: 1772228), Die Konsequenz (Foto: © WDR/Solaris | Id: 1359703)
 

Und Filme wie Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt von Rosa von Praunheim 1971 oder Wolfgang Petersens Homosexuellen-Drama Die Konsequenz aus dem Jahre 1977 erzeugten durch ihre Empörungsdebatten bereits neue Diskurserweiterungen, um nun in der gesellschaftlichen Diskussion auch alternative Lebens- und Liebesmodelle jenseits der Heterosexualität gesellschaftsfähig zu machen. Bis heute ist der Kinofilm ein künstlerischer Ort geblieben, wo sich wandelnde Geschlechterbilder in fiktionaler oder auch dokumentarischer Form abbilden, bis hin zur aktuellen Transgender-Diskussion, beispielsweise ausgelöst durch Lukas Dhonts Film Girl.

Größere Empörung im moralischen Diskurs einer zunehmend offenen und sich permanent wertewandelnden Gesellschaft konnte nur noch derjenige Regisseur mit seinen Filmen im Kino auslösen, der echte Tabuzonen angriff. Dies geschah in den 1980er-Jahren in Herbert Achternbuschs Das Gespenst. Eine gleichsam somnambul durch die bayerische Provinz wandernde Jesus-Figur, die vom Kreuz herabsteigt und sich menschlich, allzu menschlich in den Alltag einmischt, brachte dem anarchistischen bayerischen Regisseur sogleich den Vorwurf der Gotteslästerung ein. Die FSK sperrte den Film, „weil er sowohl das religiöse Empfinden wie die Würde des Menschen grob verletzt.“12 Doch dann wählte wenig später die Jury der Evangelischen Filmarbeit Das Gespenst zum „Film des Monats“. Die FSK revidierte daraufhin ihre Entscheidung. Teile der evangelischen Kirche zeigten sich nun wiederum befremdet über die Entscheidung ihrer Filmarbeit-Jury; die katholische Kirche bezeichnete in einer Pressemitteilung am 30. April 1983 den Achternbusch-Film als „Missbrauch der Kunst“. Schließlich griff der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) in die Debatte ein und erklärte, Achternbusch müsse die Fördergelder des Bundes möglicherweise zurückzahlen. Zimmermanns Äußerungen nutzte wiederum „Die Welt“, um sich ganz grundsätzlich über die Ausrichtung der Filmförderung zu empören: „Hier liegt der eigentliche Skandal der Affäre: Das Bundesinnenministerium hat seine Filmförderung zu sehr auf die Subventionierung sogenannter Autorenfilme abgestellt, auf die Subventionierung von Streifen, die – außer eine winzige Zielgruppenclique – niemanden interessieren und die keinen Pfennig Geld wieder zurück in die Kasse bringen. Das muss in Zukunft anders werden.“13 Auch hier weckte – wie so oft – die Empörung um Achternbuschs Film die Aufmerksamkeit der Kinozuschauer. Das Gespenst entwickelte sich unversehens zum kommerziellen Erfolg. Doch nun wurde aus dem Skandalfilm ein Zensurfall. In Stuttgart und in anderen Städten wurde der Film beschlagnahmt. Die Filmregisseure quer durch die Republik protestierten; die bayerische SPD sprach von „politischer Zensur“. Im Dezember 1983 gab das Landgericht München den Film wieder frei; 1985 bestätigte das Kölner Verwaltungsgericht, dass Zimmermanns Ankündigung, die Förderprämie für Das Gespenst zurückzufordern, rechtswidrig gewesen sei.
 


Fazit

Kino kann Empörung auslösen, weil der Film eine zweite, verdichtete Realität schafft, durch die die Filmemacher in der realistischen Fiktion Kommentare zur Zeit abgeben und Weltbilder darstellen, die provozieren und dadurch gesellschaftliche Debatten anstoßen, den Wertekonsens zu hinterfragen und zu verändern.
 

Anmerkungen:

1) Zischler, H.: Kafka geht ins Kino. Berlin 2017
2) Vgl. Film-Kurier, Nr. 288, 06.12.1930
3) Vgl. Ebd.
4) Abrufbar unter: https://www.wissenschaft.de/zeitpunkte/im-westen-nichts-neues-verboten/
5) Vgl. Film-Kurier, Nr. 52, 03.03.1931
6) Conrad, A.: Defa-Film „Spur der Steine“. Die Partei, die hat immer recht. In: Tagesspiegel, 04.07.2016
7) Zit. nach: Ebd.
8) Abrufbar unter: http://www.documentarchiv.de/ddr/verfddr1949.html#b4
9) Ettle, J.: Skandal um Film „Die Sünderin“. In: Eichstätter Kurier, 17.09.2010.
10) Ebd.
11) Münch, E.M. von: Hausfrauen-Ehe abgeschafft. In: Die Zeit, 15.10.1976
12) Vgl. Wsk (Kürzel): Gespenstisches. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.04.1983
13) gaz (Kürzel): Gespenst, gut genährt. In: Die Welt, 07.05.1983