Heranwachsen mit digitalen Medien – ein neuer Sozialisationstypus?

Perspektiven auf Kindheit und Jugend heute

Daniel Hajok

Dr. Daniel Hajok ist Kommunikations- und Medienwissenschaftler sowie Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM).

Abseits der üblichen Zahlenschlachten empirischer Studien wird der veränderte Medienumgang von Kindern und Jugendlichen nachfolgend weniger als ein messbares Phänomen dargestellt, sondern als Ausdruck eines grundlegend veränderten Heranwachsens in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft. Im Mittelpunkt stehen theoretische Perspektiven, die wesentliche Entwicklungen schon erstaunlich früh in den Blick genommen haben. Mit ihnen wirbt der Autor für ein übergreifendes Verständnis im pädagogischen und erzieherischen Handeln, das den Stigmatisierungen von Kindern und Jugendlichen als „digital dement“, „cyberkrank“ oder im „digitalen Burn-out“ eben nicht ins Wort redet.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 20-25

Vollständiger Beitrag als:

Suchend in einer individualisierten unübersichtlichen Welt

Schon vor über 30 Jahren hat der Soziologe Ulrich Beck mit seiner Risikogesellschaft die fortschreitende Individualisierung von Lebensentwürfen als eine zentrale Entwicklung in unserer von Differenzierung und Pluralisierung gekennzeichneten Gesellschaft beschrieben. Heute erleben wir vielerorts hautnah mit, dass Heranwachsende unter diesen Bedingungen ihr Leben immer autonomer gestalten können und – das wird leider oft vergessen – es zunehmend auch müssen. In einer komplexer werdenden Welt sind wir Erwachsenen nun einmal immer weniger in der Lage, unseren Schützlingen den für sie „besten“ Weg zu zeigen, die „richtigen“ Antworten auf drängende Fragen zu geben: hier die immer spezielleren Wünsche, Bedürfnisse und Interessen, dort die immer schwerer zu durchschauenden gesellschaftlichen Handlungsbereiche und sozialen Problemlagen.

Kinder und Jugendliche brauchen aber Antworten. Wenn „ihre“ Erwachsenen ihnen keine mehr geben, dann müssen sie längst nicht mehr nur dem Halbwissen ihrer Freunde trauen, sondern schauen sich besser gleich selbst im offenen Netz um – mit ihren ganz persönlichen Medienzugängen. Die Rede ist hier von den individuellen Medienmenüs, die sich Heranwachsende immer früher selbst zusammenstellen und so auch einem partizipativen Medienhandeln neuen Ausdruck verleihen. Kleine Expertinnen und Experten ihrer ganz eigenen Welt stehen dann vor uns. Dort, wo das unübersichtliche Ganze verblasst, erscheinen auch die Konturen eines globalisierten Netzwerkkapitalismus, der nicht auf irgendein kritisch-reflexives Subjekt setzt, sondern auf das sich situativ anpassende Individuum. Der flexible Mensch ist gefragt; und nach der beeindruckenden, bereits vor 20 Jahren vom Soziologen Richard Sennett postulierten Kultur des neuen Kapitalismus arrangiert sich dieser mit seiner Umwelt – er passt sich den neuen Marktentwicklungen an, bindet sich besser nicht allzu sehr an Ort und Zeit, meidet langfristige Bindungen und sieht Fragmentierung sogar noch als Gewinn.

Klassische Sozialisationsinstanzen wie das Elternhaus und die Schule, die sich seit zig Jahren erstaunlich erfolgreich gegen ein zeitgemäßes Lernen mit und vor allem über Medien gewehrt hat, sind in dieser Welt zwar nicht bedeutungslos geworden. Jugendliche, bereits Kinder, vertrauen aber immer mehr auf das, was ihnen die Medien mit ihren halbwegs verlässlichen Informationen und all den anderen breit gestreuten Kommunikaten an Vorlagen fürs Leben bieten. Selbstsozialisation und Selbstlernen sind hier die Stichworte. Allerdings agieren die Heranwachsenden in der vernetzten Welt auch immer mehr in einer eigenen Filterblase, im gebrochenen Hall des eigenen Echos, in dem Algorithmen ganz selbstverständlich das ausspielen, was den ganz persönlichen Bedürfnissen, Interessen, Träumen und Wünschen wohl am nächsten kommt. Verhandelt wird das Ganze dann vor allem in den Freundeskreisen, die wiederum selbst zunehmend mediatisiert, wie die Parks und Bushaltestellen in unserer Kindheit und Jugend aber weiterhin vor allem eines sind: erwachsenen- und pädagogenfrei.
 

Beschleunigtes Leben durch Digitalisierung

Die soeben nur angesprochenen Entwicklungen in unserer Gesellschaft haben keineswegs ihr schnelles Ende gefunden, sondern mit den (medien-)technischen Entwicklungen ab den 1990er-Jahren weiter an Fahrt aufgenommen. In seiner viel beachteten Sicht auf die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne hat der Soziologe Hartmut Rosa im Jahr 2005 dann treffend in den Diskurs eingebracht, wie rasant sich mit der Digitalisierung die Produktion, Vermittlung und Rezeption medialer Inhalte beschleunigt haben. Den Heranwachsenden, die sich die neuen Möglichkeiten meist schnell und unbefangen aneignen, bieten sich dadurch viele neue Optionen zur Ausgestaltung des eigenen Alltags. Bereits das, was wenige Global Player mit ihren Plattformen, Diensten und Strukturen durchs Netz lassen, lässt Heranwachsende aber auch immer mehr unter Druck geraten, die unzähligen Inputs in ihrem Leben überhaupt noch unter zu bekommen. Der Freizeitraum Jugendlicher erscheint dabei fast schon komplett digitalisiert, der von Kindern ist auf dem Weg dorthin.

Dem mit Digitaler Stress überschriebenen Abschnitt der JIM-Studie 2016 war dann auch zu entnehmen, dass ältere Kinder und Jugendliche dies selbst bereits als ein Problem ihres Alltags wahrnehmen. Man muss hier nur einmal hinschauen, was ein heutiger Heranwachsender alles abzuarbeiten hat, wenn sein Smartphone zwei Stunden ausgeschaltet war. Zu den vielen Inputs kommt dann noch der Druck des zunehmend mediatisierten Sozialen hinzu, darauf angemessen zu reagieren und sich selbst anderen mitzuteilen. Nachrichten, ob geschrieben oder gesprochen, und die unzähligen Bilder brauchen in der neuen Kommunikations- und Selfiekultur kaum noch Sekunden, bevor sie bei WhatsApp, Snapchat und Instagram, den beliebtesten Diensten Heranwachsender, gepostet sind – und sofort die ersten Kommentare evozieren. Das, was mein Vater noch mit: „Erst denken, dann handeln!“ pädagogisierte, erhält im Alltag junger Menschen so ein immer kürzeres Zeitfenster. Auch das ist Beschleunigung.

Bleiben wir aber noch kurz beim permanenten Feuerwerk an Inputs, dann haben wir es mit einer der grundlegenden Veränderungen des Lebens junger Menschen zu tun, die offenbar einen ganz neuen Typus des Heranwachsens hervorgebracht haben. Denn in der beschleunigten Welt machen unsere Schützlinge immer mehr Erfahrungen, die weitgehend unverbunden nebeneinanderstehen und gewissermaßen zu (nur noch) episodischen Erlebnissen „verkommen“, die vom Einzelnen immer weniger miteinander, mit der Geschichte und eigenen Identität verknüpft werden können. In ihrem Einführungswerk Sozialisation und Bewältigung haben Lothar Böhnisch, Karl Lenz und Wolfgang Schröer hier einmal das durchaus treffende Bild in den Diskurs eingebracht: Heutige Heranwachsende leben immer mehr von Situation zu Situation, von Punkt zu Punkt und sehen vor lauter Punkten – das die pädagogische Befürchtung – irgendwann das große Ganze nicht mehr.
 

Im durchlässigen Schonraum und risikoreichen Experimentierraum

Wenn wir das Heranwachsen junger Menschen noch etwas mehr unter pädagogischen Gesichtspunkten betrachten, bemühen wir oft ein grundlegendes Konzept, das in seiner normativen Bedeutung für die „richtige“ Erziehung kaum zu überschätzen ist. Demnach müssten wir nur nachsichtig sein, auch schwierigen Jugendlichen noch Aufschub gewähren, ihnen Spielräume zum Experimentieren und der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben einräumen – und dann läuft die Sache. Hauptjob der Erziehenden ist es dann, den Heranwachsenden einen – ihrem Entwicklungsstand angemessenen – Handlungs- und Erfahrungsraum zur Verfügung zu stellen, ihnen diesen mit klaren Grenzen zu definieren, möglichst frei von möglichen Gefahren zu halten und ansonsten eine weitgehend freie, an persönlichen Bedürfnissen, Interessen und Kompetenzen orientierte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu ermöglichen. Müssen wir uns in der Welt digitaler Medien nun von diesem Grundgedanken verabschieden?

Man kann es auf eine ganz einfache Formel bringen: Ab dem Zeitpunkt zwischen dem 10. und 11. Lebensjahr, zu dem mittlerweile die meisten Heranwachsenden ihr eigenes Smartphone in der Hand halten, ist das, was auf den Moratoriumsgedanken von Erik H. Erikson zurückgeht, vielleicht gar nicht mehr herstellbar. So wie Heranwachsende immer früher und autonomer in der offenen vernetzten Welt agieren, so wird auch der von uns in der Vergangenheit sorgfältig abgegrenzte Schonraum Kindheit immer durchlässiger und der Experimentierraum Jugend immer riskanter. Vielleicht hat dies Lothar Böhnisch bereits vor fast zehn Jahren in seinem Essay Jugend heute auch etwas wehmütig festgehalten. Auf alle Fälle ist etwas dran, wenn er sagt, dass die bisherigen Experimentierräume Heranwachsender im Ideal sozial, kulturell und auch rechtlich geschützt waren, die neuen medialen Experimentierräume aber in eben diesem Sinne nicht mehr schützbar sind. So gesehen fällt gerade ein wesentliches Element der bisherigen pädagogischen Konzeptionierung von Kindheit und Jugend.

Das alles heißt nicht, dass Erziehende, pädagogische Fachkräfte, Kinder- und Jugendmedienschützer nun „draußen“ sind. Sie müssen ihr Handeln vielmehr gesamtgesellschaftlichen Rahmungen anpassen, die nicht mehr allzu viel mit dem zu tun haben, was sie in Kindheit und Jugend noch umgab. Da gilt es auch, sich schnell von der Vorstellung zu verabschieden, man könne das Rad zurückdrehen oder mit etablierten bewahrpädagogischen Mitteln wirksam einen Kontakt der eigenen Schützlinge mit problematischen Inhalten (Sex, Gewalt, Extremismus etc.) und eine Etablierung riskanter Umgangsweisen (Mobbing, Posing, Sucht etc.) verhindern. Wer zu Hause oder in den pädagogischen Einrichtungen den Stecker zieht, braucht sich nicht wundern, wenn seine „Klienten“ immer häufiger bei Freunden, McDonald’s oder sonstwo im freien Netz unterwegs sind – und sich so einer Kontrolle mehr denn je entziehen. Vielmehr muss es darum gehen, Heranwachsende frühzeitig für einen souveränen Umgang mit digitalen Medien stark zu machen. Sie beim Erwerb der Fähigkeit zu unterstützen, sich die Grenzen selbst setzen zu können, ist hier nur eine der Herausforderungen, die unseren Weg vom Bewahren zum Befähigen markiert.
 

Unmündig in das digitale Netz eingesponnen?

Wer einem 8-Jährigen schon einmal das Tablet mit den Worten: „Jetzt kannst du mal eine halbe Stunde spielen und dann legst du das Ding selber wieder zurück“ überlassen hat, weiß, wie überfordernd die soeben angesprochene Fähigkeit zur Selbstregulation gerade für Kinder sein kann. Vielmehr scheint es so, als würden heutige Heranwachsende mit jedem Level eines Games, jeder Nachricht, jedem Bild oder Videoclip ein Stück weit mehr in das digitale Netz eingesponnen. Es sei dahingestellt, ob man hier gleich an die Szenen mit den Kokons in Matrix denkt – es gibt jedenfalls eine ernst zu nehmende Perspektive, in der Heranwachsende als weitgehend unmündig und das Internet als ein Machtinstrument gesehen werden. Dort, wo klassische gesellschaftliche Strukturen zerfallen, traditionelle Verhaltensweisen sich auflösen und die zentrale Steuerungskraft des Staates sich verflüchtigt, kann das digitale Netzwerk als zentraler Lebensraum durchaus eine spezifische Sogwirkung für junge Menschen entfalten. Die Rede ist z.B. von einer Sucht 2.0, die Jürgen Schiedeck und Martin Stahlmann im Jahr 2012 aber nicht als klinischen Tatbestand, sondern als ein Sinnbild für die sich herausbildenden Erscheinungsformen eines scheinbar unwiderstehlichen Verlangens verhandeln.

Lässt man sich auf diese Sicht ein, dann wird das Verlangen, das bereits Kinder dazu bewegt, sich ziellos und unentwegt von Level zu Level, von Link zu Link, von Nachricht zu Nachricht treiben zu lassen, von (wenigen) kommerziellen Unternehmen befeuert. Sie befördern bewusst das Bedürfnis des Einzelnen, am digitalen Strom teilzunehmen, um ihn dann als Lieferanten von Daten und Aufmerksamkeit immer tiefer ins Netz einzuspinnen. Wenn ich in Seminaren und auf Fortbildungen danach frage, wie viel Prozent der Jugendlichen hierzulande wohl bereits eine Mediensucht entwickelt haben, liegen die Schätzungen zwischen besorgniserregenden 30 und 90 %. Die halbwegs verlässlichen, nach klassischen Suchtkriterien erhobenen 5 bis 7 % „Abhängigen“ und weiteren 20 % „Gefährdeten“ nehmen sich demgegenüber eher bescheiden aus – auch wenn die Tendenz steigt. Nicht über-, sondern unterschätzt werden demgegenüber die Zusammenhänge, die sich aus den Lebenskontexten ergeben, etwa wenn junge Menschen den permanenten familiären Streitereien und Konflikten eskapistisch in digitale Welten entfliehen.

Weitere, eher angebotsimmanente Hintergründe für die spezifische Sogwirkung digitaler Medien sind ihre Interaktivität und Multioptionalität, die Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche zu Eigenaktivität und kreativem Selbstausdruck, zu Involvement und sozialer Vernetzung sowie die Allgegenwärtigkeit und Endlosigkeit dessen, was medial zur Verfügung steht. Man muss seinem Kind nur von den fehlenden Interaktionsmöglichkeiten oder dem Sendeschluss in der eigenen Kindheit berichten, um an den verwunderten Augen schnell zu erkennen, wie grundlegend sich Heranwachsen verändert hat. Wenn alles zumindest medial jederzeit verfügbar ist, steigt auch die Schwierigkeit, eine Fähigkeit zu entwickeln, die für das spätere Leben nicht ganz unwichtig ist: Verzicht und Frust aushalten zu können. Das ist alles noch weit weg von den populistischen Thesen, mit denen Jugendliche und bereits Kinder als „digital dement“, „cyberkrank“ oder im „digitalen Burn-out“ pathologisiert werden.
 

Sein heißt medial stattfinden – im Hier und Jetzt

Da schwingt schon ein bisschen Bewertung mit – aber unterm Strich ist die 2010 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ausgerufene Gesellschaft der Beachtungsexzesse auch eine ganz gute Beschreibung dessen, was heute Dreh- und Angelpunkt der jugendlichen Selbstrepräsentationen im Netz ist. Ursprünglich von Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke auf die Welt der Castingshows bezogen, findet sich hier die zentrale Aussage: Sein heißt, medial stattzufinden. Längst erscheint die Beantwortung der wichtigsten Fragen des Heranwachsens („Wer bin ich?“, „Wer will ich sein?“, „Als wen sehen mich die anderen?“) ohne das Social Web gar nicht mehr vorstellbar. Die Prozesse der Identitätsbildung mit der von Lothar Krappmann vor fast 50 Jahren so treffend beschriebenen Herausforderung, so zu sein wie niemand und zugleich so zu sein wie alle, gerieren sich dabei immer mehr als eine mediatisierte Suche nach Beachtung, bei der auch Andy Warhols Vision, einmal für 15 Minuten berühmt zu sein, zumindest optional möglich ist.

Der Druck zur Arbeit an der eigenen Identität führt Heranwachsende heute nahezu ungebremst in die Orts- und Grenzenlosigkeit des Internets. Bewusst angelegte Strukturen für soziale Rückkopplung unterstützen dabei den Austausch mit einem Publikum, das in den Worten der handlungstheoretisch fundierten Perspektive des Symbolischen Interaktionismus als generalisierter Anderer fungiert. Das Netz dient Heranwachsenden dabei mehr als ein Raum zu Artikulation, Selbstthematisierung und zum Einholen von Feedback. Tag für Tag ein bisschen mehr konnten wir in den letzten Jahren beobachten, wie eine mediatisierte Selbstrepräsentation im Hier und Jetzt zur kulturellen Praxis fast aller Heranwachsenden geworden ist – chancen- und risikoreich zugleich. Ebenso hat sich der immens wichtige Aufbau eines Beziehungsnetzes zu einer mediatisierten Pflege des eigenen Freundeskreises gemausert.

Im Sinne des Konzepts der Patchwork-Identität von Heiner Keupp u.a. bleibt es aber existenziell, eine von Kohärenz und Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit gekennzeichnete Persönlichkeit auszubilden. In den Welten digitaler Medien unterliegt jetzt allerdings jedes noch so kleine Detail von Ich-Erprobung und sozialem Rückkanal den Bedingungen von Persistenz und Duplizierbarkeit, was einem später noch den Schweiß auf die Stirn treiben kann.

In individualisierter und zugleich kollektivierter Form agieren Heranwachsende letztlich immer mehr in einem Handlungs- und Erfahrungsraum, der nach einem Prinzip funktioniert, das Georg Franck1 vor 20 Jahren in seinem Buch Ökonomie der Aufmerksamkeit schon ganz gut auf den Punkt gebracht hat: In einer zunehmend vernetzten Welt, in der die einzelnen Medienzugänge immer weniger begrenzt sind, wird das Streben nach Aufmerksamkeit als grundlegendes menschliches Bedürfnis zur zentralen Währung einer kommerziellen Verwertbarkeit, die quasi alle Heranwachsenden zum Wettstreit um Beachtung und Generieren von Aufmerksamkeit treibt. Dabei steigt natürlich auch der Druck, sich von den anderen abzuheben – mit aufsehenerregenden Bildern, provokanten Texten, drastischen Meinungen und all den anderen „Originalitäten“, mit denen Heranwachsende als (aktiv handelnde) Akteure zuweilen selbst die Grenzen des Tolerierten überschreiten. Öffentlich zur Schau getragene Sexualisierungen des eigenen Körpers, Hass und Häme gegenüber anderen, unbefangene Posts eigener Devianz und Delinquenz sind hier die Beispiele.
 

Kommunizieren, (nur) um zu kommunizieren

Diesen letzten, heutiges Heranwachsen vielleicht besonders gut beschreibenden Aspekt bekam ich bereits 2008 im Zug von Berlin nach München in einem Interview der Wochenzeitung „Die Zeit“ zu lesen. Überschrieben mit Total vernetzt stellte der Medientheoretiker Norbert Bolz die zu dieser Zeit noch recht steile These auf, dass sich mit der Etablierung der neuen Dienste auch der Zweck von Kommunikation verändert. Demnach kommunizieren wir und vor allem junge Menschen immer häufiger, nur um zu kommunizieren – um permanent Kontakt zu halten und wahrgenommen zu werden. Und das alles auch noch mit einer nicht zu bändigenden Lust. Während der Lektüre noch mit dem Verschicken einer SMS beschäftigt, in der ich mich mit Abkürzungen dem Diktat der 160 Zeichen für eine kostenpflichtige Nachricht unterwarf, zählte ich mich damals zu den Durchschnittsnutzern, die zwei bis drei Nachrichten pro Tag an ihre Kontakte schickten.

Die Etablierung von Messenger-Diensten im Leben Heranwachsender zeigt hier sehr eindrucksvoll, wie die erweiterten Möglichkeiten, Gruppen zu bilden und neben Texten quasi unbegrenzt auch Bilder, Videos und Sprachnachrichten zu verschicken, seitdem zu einer Vervielfachung der Aktivitäten geführt haben. WhatsApp, am Anfang seiner Geschichte der am schnellsten gewachsene Internetdienst aller Zeiten, berichtete vor Jahren selbst einmal stolz von im Schnitt 30 bis 50 täglich versendeten Nachrichten pro Nutzer. Heute ist der für die Sozialisation so immens wichtige Austausch in der Peergroup, zu dem wir uns in der eigenen Kindheit noch mit dem Fahrrad begaben, ohne solche Dienste überhaupt nicht mehr denkbar. Das Soziale ist damit keineswegs verschwunden, wie zu Beginn der Entwicklungen kritisch prophezeit. Es ist nur immer mehr ins Netz gewandert – und hat dabei auch eine völlig neue Kultur des Zusammenlebens junger Menschen hervorgebracht.

Mit seinem viel beachteten theoretischen Konzept der Mediatisierung des kommunikativen Handelns hat der Mathematiker und Soziologe Friedrich Krotz diesen prägnanten Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen, Kultur und Gesellschaft in zentralen Punkten bereits 2001 trefflich beschrieben. Denn mit den veränderten Formen, Strukturen und Bedingungen von Kommunikation wachsen Kinder und Jugendliche immer mehr in einer Welt auf, die zum einen von einer Ausdifferenzierung und Integration von Medien zu kaum noch unterscheidbaren kommunikativen Mischformen gekennzeichnet ist. Zum anderen – das ist wohl der springende Punkt – ist ihr Leben zunehmend von einer zeitlich, räumlich und sozial entgrenzten Medienkommunikation geprägt. Da wurde zu Beginn rasch per SMS „Schluss gemacht“ – Jahre später dann ein Gutteil der Alltagsorganisation und des zwischenmenschlichen Austauschs über WhatsApp realisiert. Mittlerweile bestätigen die Daten der KIM- und JIM-Studien sogar die frühe, bereits zu Zeiten von schülerVZ geäußerte Befürchtung, dass sich Kinder und Jugendliche nun offenbar tatsächlich immer seltener Face to Face treffen. Es hat ein grundlegender Wandel von Kommunikation stattgefunden.
 

Fazit

Die soeben nur kursorisch bemühten Perspektiven des Fachdiskurses haben früh schon das thematisiert, was wir beim Blick auf die Alltagspraxen junger Menschen heute beobachten können. In einigen markanten Punkten hat das Heranwachsen tatsächlich nicht mehr allzu viel mit dem zu tun, was uns in Kindheit und Jugend umtrieb. Die neuen Formen von Kommunikation, Interaktion und sozialer Integration, von Wissensaneignung, Informations- und Orientierungssuche, von Unterhaltung und Entspannung, auch vom Abtauchen in digitale Spielewelten sind hier zentrale Aspekte. Es sind aber weniger die Interessen und handlungsleitenden Themen junger Menschen an sich, die sich gewandelt haben, sondern vielmehr die zunehmend individualisierten und zugleich kollektivierten Aneignungsweisen.

Gerade wegen der erweiterten Medienzugänge und der Selbstverständlichkeit, mit der Jugendliche, bereits Kinder, heute ihr Leben zunehmend digital und unter sich verhandeln, haben wir Erwachsenen uns als Erziehende, pädagogische Fachkräfte, Kinder- und Jugendschützer weiter denn je von unseren Schützlingen entfernt. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Wenn wir nicht wissen, was Heranwachsende mit digitalen Medien treiben, sollten wir es uns zeigen lassen. Dort, wo sie Potenziale bieten, sollten wir sie in der pädagogischen Arbeit nutzen. Wenn wir faktisch nicht mehr wirksam schützen und kontrollieren können, müssen wir aufklären und diskursiv begleiten. Wo Grenzüberschreitungen nicht zu verhindern sind, müssen wir Grenzen markieren und dafür sensibilisieren. Und denjenigen, die unter unangenehmen Medienerfahrungen leiden, müssen wir angemessene Hilfe bei der Bewältigung bieten.
 

Anmerkung:

1) Ein Interview mit Georg Franck findet sich in Ausgabe 84, 2/2018: Das digitale Erfolgsrezept.