Heranwachsen im Ausnahmezustand

Homeschooling, verändertes Zusammenleben und Medienumgang in Coronazeiten

Daniel Hajok

Dr. Daniel Hajok ist Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Honorarprofessor an der Universität Erfurt sowie Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM).

Mit dem Lockdown hat sich in der Lebenswelt junger Menschen ein weiterer Digitalisierungsschub vollzogen, der auch einige nachhaltige Spuren hinterlassen dürfte. Eilig durchgeführte Studien belegen bereits, wie Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen den Alltag junger Menschen beschwert und ein digitales Leben befördert haben, bei dem Home­­­schooling, mediatisierter Austausch und Streamingdienste die Erfahrungsräume der Stunde waren.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 3/2020 (Ausgabe 93), S. 10-13

Vollständiger Beitrag als:

Homeschooling: digitales Lernen anders als gedacht?

Während die Kitaschließungen Mitte März 2020 in vielen Familien Unzufriedenheit mit der neuen Betreuungssituation hinterließen, gestaltete sich mit den Schulschließungen vor allem die Organisation des neuen Lernens als Problem. Obwohl die Informationen der Schulen zur aktuellen Situation wie auch die Unterstützung ihrer Kinder durch die Lehrkräfte Ende April/Anfang Mai 2020 bei Eltern eher Unzufriedenheit hinterließen, waren die Erziehenden gegenüber des von ihren Kindern im Homeschooling Erlernten zufriedener eingestellt (vgl. Andresen u.a. 2020a). Gerade die (professionelle) pädagogische Begleitung des Lernens an sich, also abseits der bloßen Übermittlung von Aufgaben, scheint vielerorts nicht rundgelaufen zu sein. Die Mehrheit der Lehrkräfte sah sich hierfür allein schon mit der digitalen Ausstattung an der Schule nicht gut vorbereitet (vgl. Vodafone Stiftung 2020).

Nimmt man andere Daten zur Hand, dann waren Ende April/Anfang Mai immerhin schon zwei von drei Kindern im Grundschulalter per E-Mail mit ihren Lehrerinnen und Lehrern in Verbindung – in den meisten Fällen allerdings nur sporadisch. Jedes zwölfte Kind in dem Alter hatte nach Angaben seiner Eltern bis dahin noch keinerlei Kontakt zu den Lehrkräften (vgl. Langmeyer u.a. 2020). Was die Situation an weiterführenden Schulen angeht, belegen die Angaben von Jugendlichen, dass sich das Homeschooling Anfang April vielerorts noch in der Bearbeitung übermittelter Schulaufgaben erschöpfte, wobei nicht die Lehrerinnen und Lehrer, sondern digitale Medien, Peers und Eltern die Lernbegleiter der Stunde waren. Über alle Altersgruppen hinweg berichtet gut die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen, dass sie (oder ihre Eltern) zu diesem Zeitpunkt bereits „regelmäßig Aufgaben per Mail zugeschickt“ bekamen. Nur jeder Vierte hatte bereits „Chats mit den Lehrkräften/mit der Klasse“ erlebt, gut jeder Fünfte „in der Klasse in einer Cloud“ gearbeitet, jeder Sechste „Videokonferenzen mit den Lehrkräften/mit der Klasse“ gehabt und jeder Zehnte mit Lehrkräften telefoniert. Bezeichnend ist, dass fast jeder Dritte angibt: „Habe zu Beginn der Schulschließung Aufgaben von meinen Lehrern bekommen und habe seither kaum Kontakt mehr zu meinen Lehrern“ (vgl. MPFS 2020).


Gerade die (professionelle) pädagogische Be gleitung des Lernens an sich scheint vielerorts nicht rundgelaufen zu sein."


Mit den Antworten auf die ebenfalls gestellte Frage: „Wer hilft dir beim Lernen?“ wird deutlich, wie stark die 12- bis 19-Jährigen Anfang April noch auf sich und die eigenen Eltern gestellt waren. An erster Stelle stehen hier die Freundinnen und Freunde, die für die Hälfte der Schülerinnen und Schüler via Chat erreichbar waren. Es folgen der Reihe nach Tutorials im Internet, die Eltern, die insbesondere für die Jüngeren eine wichtige Unterstützung waren, das selbstständige Ausprobieren und erst dann die Anleitungen aus der Schule, die nur für jeden Dritten relevant waren. Sowohl bei den Endgeräten als auch bei den medialen Angeboten haben die 12- bis 19-Jährigen vor allem auf „ihre“ Medien zurückgegriffen: Jeweils mehr als vier von fünf Schülerinnen und Schülern haben zum Lernen und für die Hausaufgaben Handys bzw. Smartphones sowie YouTube-Videos genutzt. Daneben waren für die meisten auch PCs/Laptops bzw. Wikipedia relevant. Das Gesamtfazit dazu, wie es mit der Schule zu Hause klappt, fiel zumindest Anfang April noch recht gut aus: Über alle Altersgruppen bewerteten es Mädchen wie Jungen mehrheitlich mit der Note 1 oder 2 und nur gut 5 % mit der Note 5 oder 6 (ebd.).
 

Unzufriedenheit und belastender familiärer Alltag?

So recht und schlecht es mit dem Homeschooling unterm Strich gelaufen sein mag, was auffällig viele Heranwachsende störte, war die reduzierte öffentliche Sicht auf sie als Schülerinnen und Schüler, bei der die als besonders belastend empfundenen Beschränkungen des Alltags, ihre Unsicherheiten und Ängste kaum vorkamen. Gerade die drastisch eingeschränkten persönlichen Kontakte im Freundeskreis hinterließen eine hohe Unzufriedenheit. Ebenso die Art und Weise, wie die Jugendlichen nun ihre Zeit verbrachten. Die grundsätzliche Stimmung zu Hause war demgegenüber sehr viel seltener das Problem (vgl. Andresen u.a. 2020b). Bei den Kindern sah es ganz ähnlich aus. Verglichen mit der Zeit vor dem Lockdown, waren sie aus Sicht ihrer Eltern deutlich unzufriedener mit ihrem aktuellen Zeitvertreib, hatten insgesamt betrachtet aber überwiegend „eine gute Zeit“ in ihrem Zuhause (Andresen u.a. 2020a).

Der Alltag der mit Abstand meisten Heranwachsenden bestand nun aus mehr gemeinsamer Zeit mit Eltern und Geschwistern. Knapp die Hälfte der 3- bis 15-Jährigen war allerdings auch mehr „alleine“ (zu Hause). Die meisten verwendeten die Zeit häufiger, um „drinnen [zu] spielen“, zwei von fünf Kindern – auf dem Land mehr als in der Stadt – spielten sogar häufiger draußen, was auch mit den zumeist vorhandenen (oder zeitweise nutzbaren) eigenen Außenflächen zu tun hatte. Die mit Abstand meisten 3- bis 15-Jährigen verbrachten weniger Zeit mit ihren Großeltern. Fast alle, jüngere wie ältere Kinder, haben sich seltener mit ihren Freundinnen und Freunden getroffen (vgl. Langmeyer u.a. 2020). Im Kreis der Jugendlichen sah es ganz ähnlich aus: Selbst die (möglichen) Treffen zu zweit, also mit einer Freundin oder einem Freund, fielen mehrheitlich seltener aus (vgl. MPFS 2020).

Konflikte und Chaos waren in den Familien, die vielerorts plötzlich mit finanziellen Sorgen oder der Vereinbarkeit von Homeoffice und Kinderbetreuung zu kämpfen hatten, zwar nicht an der Tagesordnung. Viele, insbesondere Mehrkindhaushalte, wurden dennoch auf eine harte Probe gestellt. In der bereits zitierten DJI-Studie (Langmeyer u.a. 2020) gab gut ein Fünftel der Elternschaft an, dass bei ihnen Konflikte oder Chaos „häufig“ bzw. „sehr häufig“ Teil des Coronaalltags waren. Die meisten waren auch der Meinung, dass ihr Kind aktuell „eher gut“ oder sogar „sehr gut“ mit der neuen Situation zurechtkommt, wobei hier auch die sozioökonomischen Verhältnisse eine Rolle spielen. So meinte beispielsweise jeder zweite Elternteil aus einem Haushalt, der mit dem Einkommen ohnehin nur (sehr) schwer klarkommt, das eigene Kind würde mit der aktuellen Situation „eher nicht gut“ oder „gar nicht gut“ zurechtkommen (vgl. ebd.).
 

Messengerdienste und Social Media als Ersatz für das Soziale?

Die bereits herausgestellte große Unzufriedenheit Heranwachsender hinsichtlich der fehlenden persönlichen Kontakte insbesondere zu ihren Freundinnen und Freunden zeigt, dass der mediatisierte Austausch das Soziale zwar um eine weitere Ebene bereichern, aber eben nicht ersetzen kann. Für den Kontakt zu den Freundinnen und Freunden wurden während des Lockdowns die Messengerdienste, allen voran WhatsApp, unverzichtbar: Neun von zehn Jugendlichen hielten Anfang April 2020 auf diese Weise Kontakt mit ihren Freundinnen und Freunden – die Jüngeren wie die Älteren, die Mädchen nur geringfügig mehr als die Jungen. Andere Optionen (Telefon, Skype etc.) waren deutlich weniger relevant, die meisten Mädchen hielten allerdings auch via Telefon Kontakt mit ihren Freundinnen und Freunden, die meisten Jungen „über Computerspiele/Teamspeak“.


Für den Kontakt zu den Freundinnen und Freunden wurden während des Lockdowns die Messengerdienste, allen voran WhatsApp, unverzichtbar …“


Bei den Kontakten mit anderen mussten viele Jugendliche auf Möglichkeiten zurückgreifen, die für sie sonst nicht im Mittelpunkt stehen. So nutzten etwa zwei Drittel der 12- bis 19-Jährigen für die Kontaktaufnahme mit den eigenen Großeltern bzw. älteren Verwandten das Telefon und nur knapp die Hälfte Messengerdienste. Auch während der Kontaktbeschränkungen waren die weiblichen Heranwachsenden, die von jeher kommunikationsorientierter mit digitalen Medien umgehen, etwas aktiver als die männlichen. Knapp ein Fünftel der Jugend besuchte auch Großeltern oder ältere Verwandte, allerdings „ohne direkten Kontakt“, noch weniger nutzten Videochat (vgl. MPFS 2020).

Zur veränderten Social-Media-Nutzung von Jugendlichen in Deutschland liegen aktuell noch nicht allzu viele Daten vor. Erste Ergebnisse zur veränderten Onlinenutzung der Menschen zeigen aber, dass auch Instagram, Facebook, Twitter & Co. während des Lockdowns über alle Altersgruppen hinweg an Bedeutung gewonnen haben – bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mehr als bei den älteren Semestern. Nach den Daten einer im April 2020 durchgeführten repräsentativen Befragung waren von den 16- bis 29-Jährigen fast neun von zehn Internetnutzerinnen und ‑nutzern häufiger im Social Web unterwegs. Die meisten nutzten die Dienste vermehrt dazu, um Beiträge zum aktuellen Geschehen zu lesen. Viele posteten mehr eigene Storys oder kommentierten häufiger die von anderen (vgl. Bitkom 2020).
 

TV, YouTube und digitale Spiele: Krisengewinner?

Auch abseits des mediatisierten Austauschs mit Messengerdiensten und Social-Media-Angeboten haben Kinder und Jugendliche die Zeit der Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen zunehmend medial ausgestaltet. Sowohl die ersten Ergebnisse einer groß angelegten weltweiten Studie in 42 Ländern (vgl. Götz u.a. 2020) wie auch die nachfolgend ausgeführten Befunde aus Deutschland zeigen, dass mit dem abrupt veränderten Alltag junger Menschen nicht nur hierzulande vor allem die Medienbeschäftigungen (weiter) an Bedeutung gewannen, die schon vor der Coronapandemie großes Interesse auf sich gezogen hatten. Für Kinder ist das vor allem das Fernsehen. Für Jugendliche sind YouTube, Streamingdienste und digitale Spiele die Krisengewinner – wenn man es so sagen will.

Nimmt man die sicher nicht eins zu eins passgenauen Einschätzungen von Eltern, dann lässt sich der veränderte Medienumgang von Kindern Ende April/Anfang Mai 2020 wie folgt beschreiben: Im Kindergartenalter haben die meisten Kinder in Deutschland ihren Alltag häufiger mit Fernsehen, Streamingdiensten oder YouTube sowie mit Radio, Musik oder dem Hören von Hörspielen zugebracht. Fast jedes zweite Kind hat sich auch häufiger Bilderbücher angesehen oder es bekam vorgelesen, fast jedes dritte hat sich mehr den digitalen Spielen zugewandt. Schon im Grundschulalter verbrachten die meisten Kinder häufiger mit digitalen Spielen Zeit, gut ein Drittel war während der Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen mehr im Internet unterwegs. Bei älteren Kindern wurden die digitalen Medien noch relevanter: Drei Viertel nutzten häufiger das Fernsehen, Streamingdienste oder YouTube bzw. waren mehr im Internet unterwegs. Gut zwei Drittel haben häufiger als zuvor Zeit mit digitalen Spielen zugebracht (vgl. Langmeyer u.a. 2020).

Jugendliche sind noch viel mehr in die digitale Welt eingestiegen. Anfang April 2020 waren für die mit Abstand meisten 12- bis 19-Jährigen im Alltag YouTube-Videos, „Musik hören“ und Streamingdienste relevanter. Die meisten haben zudem mehr ferngesehen, aber auch mehr Zeit mit „Spazierengehen“, „Lernen“ oder „Kochen/Backen“ zugebracht. Knapp die Hälfte der Jugendlichen hat häufiger gelesen oder die Zeit „allein“ bzw. zusammen „mit Freunden“ mit Computerspielen verbracht. Was die Häufigkeit anbetrifft, haben die mit Abstand meisten Mädchen (fast) täglich Musik gehört. Für gut die Hälfte waren auch Streamingdienste sowie YouTube-Videos alltagsrelevant. Die beliebte Videoplattform hatte für die Jungen den größten Stellenwert, zudem nutzten sie deutlich häufiger als Mädchen „(fast) täglich“ Computerspiele (vgl. MPFS 2020).
 

Literatur:

Andresen, S./Lips, A./Möller, R./Rusack, T./Schröer, W./Thomas, S./Wilmes, J.: Kinder, Eltern und ihre Erfahrungen während der Corona-Pandemie. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie KiCo. Hildesheim 2020a. Abrufbar unter: https://doi.org/10.18442/121

Andresen, S./Lips, A./Möller, R./Rusack, T./Schröer, W./Thomas, S./Wilmes, J.: Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo. Hildesheim 2020b. Abrufbar unter: https://dx.doi.org/10.18442/120

Bitkom: Social-Media-Nutzung steigt durch Corona stark an. Pressemeldung, 27.05.2020. Abrufbar unter: https://www.bitkom.org

Götz, M. u.a.: Children, COVID-19 and the media. A study on the challenges children are facing in the 2020 coronavirus crisis. In: TELEVIZION, 33/2020/E, S. 4 – 9. Abrufbar unter: http://www.br-online.de

Langmeyer, A./Guglhör-Rudan, A./Naab, T./Urlen, M./Winklhofer, U.: Kindsein in Zeiten von Corona. Erste Ergebnisse zum veränderten Alltag und zum Wohlbefinden von Kindern. München 2020. Abrufbar unter: https://www.dji.de

MPFS (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest) (Hrsg.): JIMplus 2020. Lernen und Freizeit in der Corona-Krise. Stuttgart 2020. Abrufbar unter: https://www.mpfs.de

Vodafone Stiftung Deutschland (Hrsg.): Schule auf Distanz. Perspektiven und Empfehlungen für den neuen Schulalltag. Eine repräsentative Befragung von Lehrkräften in Deutschland. Düsseldorf 2020. Abrufbar unter: https://www.vodafone-stiftung.de