Guilty Pleasure

Gerd Hallenberger

Dr. habil. Gerd Hallenberger ist freiberuflicher Medienwissenschaftler.

Dr. Gerd Hallenberger klärt in diesem Eintrag im Medienlexikon drei Grundsatzfragen zu „Guilty Pleasure“: Was ist damit eigentlich gemeint? Wer entscheidet über die Schuldfrage? Und um welche Art von Vergnügen geht es?

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 1/2021 (Ausgabe 95), S. 66-67

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Wie aufregend und wie toll war es doch, wenn man als Kind etwas tat, das man nicht tun sollte! Der Reiz des Verbotenen schwingt im Begriff „Guilty Pleasure“, schuldiges Vergnügen, noch mit, obwohl es dabei im Grunde genommen um sehr harmlose Dinge geht. In Bezug auf Medienprodukte ließen sich die meisten davon auch unter „Trash“ subsumieren, aber Guilty Pleasure klingt einfach viel besser und erlaubt weitaus interessantere Assoziationen – und lädt zu drei Grundsatzfragen ein: Was ist damit eigentlich gemeint? Wer entscheidet über die Schuldfrage? Und um welche Art von Vergnügen geht es?

Antworten auf die erste Frage liefert das Internet in großer Zahl, und zwar in Form von Listen und noch mehr Listen. Es gibt beispielsweise separate Aufstellungen von Fernsehserien, Filmen, Popsongs und Bands, die so eingeschätzt werden. Aber nicht nur Mediennutzung, auch andere Vorlieben und Verhaltensweisen können Guilty Pleasure werden – beispielsweise die Pizza um Mitternacht, Seife aus Hotels klauen oder vom ersten Stock eines Hauses mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss fahren. Die moderne, stark medienbezogene Bedeutung hat sich erst in den letzten 50 Jahren durchgesetzt. Davor gab es den Ausdruck zwar schon seit über 100 Jahren, er bezog sich aber auf anderes – etwa auf Bordellbesuche. Bevor in Deutschland der Begriff „Guilty Pleasure“ geläufig wurde, gab es bereits verwandte Bezeichnungen für spezifische popkulturelle Vorlieben, wobei dem „peinlichsten Lieblingsstück“ allein dadurch eine Pionierrolle zukommt, dass in Musikzeitschriften der 1980er‑Jahre davon regelmäßig die Rede war.
 

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Alle Nennungen in allen Listen von Guilty Pleasures verbindet, dass „man“ so etwas ja eigentlich nicht mag oder tut, womit wir bei der zweiten Frage sind. Welches Gericht entscheidet denn hier über die Schuldfrage? Im Falle des „peinlichsten Lieblingsstücks“ ist nicht nur offensichtlich, wie hier geurteilt wird, sondern auch, warum sich jemand diesem Urteil unterwerfen sollte. Anders als heute war für Jugendliche zu jener Zeit der individuelle Musikgeschmack zum einen ein wesentlicher Identitätsmarker – du bist, was du hörst – und zum anderen standen sich viele Geschmacksfraktionen in unversöhnlicher Abneigung gegenüber. Was natürlich nicht verhindern konnte, dass beispielsweise im Einzelfall auch ein Punk ein Stück von „Abba“ mochte. Indem ein Song zum „peinlichsten Lieblingsstück“ erklärt wird, können mehrere Ziele gleichzeitig erreicht werden: Erstens bestätigt man mit dem Etikett „peinlich“ den Wertekodex seiner Gruppe, beteuert zweitens die weiterhin bestehende Gruppenzugehörigkeit, verleugnet aber drittens nicht den individuellen Geschmack und macht sich viertens vielleicht sogar als wahrhaft autonome Persönlichkeit in der Gruppe interessant – ich bin so stark, ich kann selbst Schwächen zugeben.

Was für das „peinlichste Lieblingsstück“ gilt, trifft auf viele Guilty Pleasures zu: Es geht um unterstellte oder tatsächliche Gruppennormen, um das Teil-sein-Wollen von einem „Wir“, ohne auf die Behauptung eines „Ich“ mit abweichenden Vorstellungen oder abweichendem Verhalten verzichten zu wollen oder zu können. Der Preis dafür ist entweder ein eher vorgespieltes oder ein tatsächliches schlechtes Gewissen. In der heute überwiegenden Verwendungsweise des Begriffs stehen im Hintergrund weniger Gruppennormen als vielmehr allgemeinere oder gesamtgesellschaftliche Wertvorstellungen: Die Frage ist nicht mehr, ob ich noch Punk bin, wenn ich auch „Abba“ mag, sondern ob ich als eigentlich anspruchsvoller Mensch einen anspruchslosen Film mögen oder trotz meiner Wertschätzung gegenüber gesunder Ernährung gelegentlich einen Hamburger essen kann.
 

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Egal mit welcher urteilenden Instanz man es dabei zu tun hat, im Guilty Pleasure werden Gegensätze versöhnt. Einerseits werden Normen anerkannt, andererseits durch das Schuldeingeständnis ein Freispruch eingefordert, was zusätzlich mit drei Argumenten gestützt werden kann: 1) Ich weiß, es ist furchtbar, aber ich muss mir doch einen eigenen Eindruck verschaffen. 2) Ich weiß, es ist furchtbar, aber ich habe da halt eine Schwäche. 3) Es ist so furchtbar, dass es schon fast wieder gut ist. Obwohl dieses Argument der Definition von „Camp“ ähnelt, gibt es einen wichtigen Unterschied: „Camp“ ist etwas nicht, obwohl es schlecht ist, sondern weil – aber erkennbar mit Liebe gemacht. Einen besonderen Bonus gibt es beim Guilty Pleasure auch noch: Indem ich etwas dazu erkläre, muss ich mich nicht auf komplizierte inhaltliche Diskussionen einlassen: Es geht ja nur um Bedeutungsloses und außerdem entspricht das ja nicht, im Falle von Medienangeboten, meinem wirklichen Geschmack oder – bei anderem – meinem üblichen Verhalten.

Unter diesem Schutzschirm lassen sich viele Arten des Vergnügens verbergen. Damit wären wir bei der dritten Grundsatzfrage: Wenn es um Vergnügen bei der Nutzung von audiovisuellen Medienangeboten geht, reicht das Spektrum vom Ausleben eigener Emotionalität, zu der man nicht offen stehen möchte oder kann, über das Erkunden unentdeckter Seiten an sich selbst bis zur vergleichenden Selbstvergewisserung und zur stellvertretenden Scham. Im Falle der Selbstvergewisserung besteht das Vergnügen in der Feststellung, dass es mir im Vergleich zu den gezeigten Trash-TV-Akteuren doch eigentlich ganz gut geht, im Falle der Fremdscham in der Erleichterung darüber, dass mein moralischer Kompass im Unterschied zu Teilen des Personals beispielsweise von Frauentausch, Sommerhaus der Stars oder Promis unter Palmen noch intakt ist.

Wem es ein Rätsel ist, wie sich aus derartigen Inszenierungen Vergnügen gewinnen lässt, sollte sich vielleicht daran erinnern, wie schwer es uns allen etwa fällt, bei einem Autobahnunfall auf der Gegenspur einfach vorbeizufahren, ohne hinzusehen. Solche Unfälle erinnern uns unvermittelt daran, wie fragil unser bewusst kaum wahrgenommener Alltag doch ist – und wie wertvoll. Trash-TV und Guilty Pleasures ganz allgemein spielen mit Grenzen, berühren unsere eigenen Grenzen und ermöglichen es, uns auf ganz einfache Weise und in überraschend intensiver Form selbst zu erleben.