Gewalt sollte beklemmend sein!

Marcus Stiglegger

In: tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien
22. Jg., 1/2018 (Ausgabe 83), S. 26-31

Dystopien zeigen, was nie passieren darf, und fordern so zu einer moralischen Auseinandersetzung auf. In der Prüfpraxis stellt sich die Frage, wie Gewaltszenen unter Berücksichtigung des jugendaffinen Charakters dieser Formate zu bewerten sind. tv diskurs sprach mit dem Film- und Kulturwissenschaftler Dr. Marcus Stiglegger, Vizepräsident und Professor für Fernsehen und Film an der DEKRA Hochschule für Medien in Berlin, über eine veränderte Gewaltästhetik und monströse Körperzerstörungen als Metaphern der Pubertät.

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Worin unterscheiden sich Dystopien von anderen Science-Fiction-Formaten?

Dystopien sind negativ-kritische Zukunftsentwürfe, die meistens ein Gesellschaftsbild zum Thema haben. In Dystopien haben wir oft einen ganzen Gesellschaftsentwurf, während in anderen Science-Fiction-Filmen nur kleine Aspekte eine Rolle spielen oder Konflikte, die weit über diese Dinge hinausgehen. Die Dystopie ist oft gesellschaftspolitisch.

Und worin liegt die Aktualität derartiger Filme oder Serien begründet? Man hat den Eindruck, es gibt derzeit einen richtigen Dystopie-Boom.

Zu den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Entwicklungen gehören Phänomene wie das Scheitern demokratischer Systeme, Macht und Machtmissbrauch oder Ausbeutungsstrukturen. Das sind gesellschaftspolitische Probleme, die in der Kunst, in Dystopien, in übersteigerter Form reflektiert werden und mit denen wir uns auseinandersetzen können. Und natürlich auch mit dem Potenzial einer Revolte, eines Aufstandes gegen soziopolitische Missstände.

Da klingen auch schon die Punkte an, die das Ganze für Jugendliche so interessant machen …

Revolte und Rebellion sind Themen, die mit der jugendlichen und pubertären Phase stark verknüpft sind. Dabei unterscheidet man eine gesellschaftspolitische, ideologische Perspektive, die auf eine Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse abzielt, und den Impuls der Revolte, des individuellen Aufstandes. In den aktuellen Filmen werden diese interessanterweise zusammengebracht. Die jugendliche Revolte wird gekoppelt mit dem Potenzial der gesellschaftlichen Revolution, der Verbesserung der gesellschaftlichen Umstände. Das ist speziell in den Hunger Games-Filmen sehr präsent.

Gibt es jenseits der Frage von Selbstwirksamkeit und dem Gefühl, etwas gegen Ungerechtigkeit tun zu wollen, noch andere Entwicklungsthemen, die aufgegriffen werden?

Die Körperthematik scheint mir wichtig zu sein. Die Tatsache, dass wir in einer Gesellschaft leben, die in gewisser Weise todesflüchtig ist, Alter und Tod tabuisiert hat und Körperlichkeit auf Jugendlichkeit und Effizienz ausrichtet – mit Tendenzen der Cyborgisierung, also der technischen Aufrüstung von Körpern –, das sind alles Science-Fiction-Themen, die wir heute leben. Diese technischen Erweiterungen, die ursprünglich als positive Zukunftsmodelle existierten, werden jetzt auch kritisch betrachtet und können sich sogar gegen den Menschen richten. Diese Dinge spielen in Dystopien eine wichtige Rolle.

Wir haben auf der Prüferfortbildung anhand der Geschichte der Dystopien gesehen, dass das schon immer eine Rolle gespielt hat. Aber dennoch hat man jetzt das Gefühl, es gebe einen Peak an Horrorszenarien. Täuscht dieser Eindruck?

Seit etwa fünf bis sechs Jahren haben wir eine sehr starke Präsenz dystopischer Modelle, weil wir gehäuft Nachrichtenmeldungen haben, in denen es um gesellschaftliche Missstände geht. Das sind Themen, die eine Reflexion erfordern; und das jugendliche Publikum ist davon nicht ausgeschlossen. Wenn man sich aktuelle Filme, wie z.B. Nerve anschaut, ein leicht utopischer Film, in dem Social Networking und Internet Challenges thematisiert werden, dann erkennt man, dass diese Filme immer destruktiver werden. Wir finden häufig das Modell, dass Jugendliche in eine Welt hineingezogen werden, die ihnen zunächst vertraut ist, dann immer beängstigender wird und die schließlich danach verlangt, dass man sich gegen sie zur Wehr setzt. Das ist relativ nah an unserer Realität.

Welche Rolle spielen die harten Gewaltdarstellungen in diesem Kontext, die die Zerstörung des Körpers zeigen und damit ein Gegenbild zum schönen, leistungsfähigen Körper sind?

Der Körperbezug scheint mir für ein jugendliches Publikum extrem wichtig zu sein, vor allem weil in der pubertären Phase die Auseinandersetzung mit der körperlichen Veränderung nicht nur positiv konnotiert ist. Man muss sich selbst neu verorten und in seiner Körperlichkeit definieren und ist dabei auch mit negativen Aspekten des Körperlichen konfrontiert. Das wird in übersteigerter Form in diesen Gewaltmomenten reflektiert. Ich würde dafür plädieren, in den gewaltbasierten Modellen aus den Hunger Games oder aus Maze Runner Metaphern zu sehen. Ich würde nicht eins zu eins die direkte Körperzerstörung assoziieren. Es ist eher eine metaphorische Auseinandersetzung mit einem ambivalenten Körperbezug.

Wir betrachten in der Filmprüfung die Gewalt weniger auf einer symbolischen Ebene, sondern eher im Hinblick darauf, wie drastisch die Bilder sind und ob sie von der entsprechenden Altersgruppe verarbeitet werden können. Dabei erkennt man heute in stärkerem Maße auch gewaltkritische Momente an als noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten. Nichtsdestotrotz gibt es sehr harte Gewaltdarstellungen, die man ab 12‑Jährigen nicht zumuten möchte, obwohl man weiß, dass der Film sie interessiert. Bei jugendaffinen Formaten ist die Frage: Erleichtert die Nähe zu Entwicklungsthemen die Verarbeitung der Gewalt oder erschwert sie sie?

Ich sehe die Notwendigkeit, damit differenziert umzugehen. Es ist wichtig, Jugendlichen zu ermöglichen, sich aktiv mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, also auch mit unerfreulichen Aspekten. Entscheidend ist, dass die Auswirkungen von Gewalt nicht ausgespart werden, dass keine konsequenzlose Gewalt dargestellt wird. Im ersten Hunger Games-Film beispielsweise sind die Gewaltauswirkungen für die Betroffenen negativ, und damit muss man leben. Man muss sich damit auseinandersetzen, wie man selbst in einer solchen Situation reagieren würde. Auch das jugendliche Publikum bekommt gewissermaßen eine ethische Herausforderung vom Film mitgegeben und muss sich dazu verhalten. Das ist zunächst einmal eine positive Chance. Wenn ein Film jedoch eindeutig zur Affirmation einer Gewaltlösung rät und man das im Material nachweisen kann, würde ich den Film nicht für Jugendliche freigeben. Aber einen Film, der ein Ambivalenzmodell aufbaut, das bewusst Argumente für oder gegen eine bestimmte ethische Entscheidung liefert und diese dem Publikum als Aufgabe gibt, halte ich für konstruktiv.

Wir haben jenseits der Gewaltaffirmation häufig die Befürchtung, dass solche Gewaltdarstellungen ängstigen können, weil sie zu drastisch und nicht zu verarbeiten sind. Kann die Gewaltästhetik auch so dominant sein, dass die Metapher überlagert wird?

Zunächst würde ich sagen, man muss die Metapher nicht als Metapher erkennen, damit sie als Metapher wirksam ist. Das ist etwas, was auch unbewusst funktionieren kann. Bei der Ängstigung würde ich mich fragen: Ist es denn sinnvoll, eine Situation von Gewalttätigkeit zu entwerfen, die nicht beängstigend ist? Das würde ich für bedenklich halten. Ein gewisses Potenzial der Angst muss damit verknüpft sein. Auch in einem jugendaffinen Ambivalenzmodell darf die Gewalt nicht frei von Angstmomenten sein. Gewalt sollte beklemmend sein. Wenn man feststellt, dass sie das ist, ist das zunächst nichts Negatives.

Wenn wir z.B. an die erste Episode der siebten StaffelThe Walking Deaddenken, in der Negan Glenn mit seiner Keule den Schädel zerschlägt, dann sorgen wir uns weniger um Ängstigung, sondern befürchten, dass Bilder sich verselbstständigen. Das ist eine extreme Gewaltästhetik, die vielleicht von Teilen des Publikums aus anderen Motiven geschaut wird, als sich mit einem dystopischen Narrativ auseinanderzusetzen …

The Walking Dead würde ich nicht primär als jugendaffin bezeichnen, obwohl mir natürlich klar ist, dass Jugendliche tatsächlich ein Bedürfnis haben, das zu sehen. Es ist eigentlich ein Familienmodell, das diese Serie vorschlägt, weil sie in immer neuen Formationen neue Familienkonstellationen entwirft. Das ist sehr amerikanisch und insofern auch von der Dramaturgie her sehr gewohnt. Dass dabei viele Menschen auf der Strecke bleiben, ist zeitgemäß und entspricht einem veränderten Zeiterleben: die Erkenntnis, dass die Dinge sich eben doch nicht immer positiv entwickeln. Das ist etwas, das ich als Jugendlicher nicht wahrgenommen habe. Damals gab es diese Erzählmodelle in der Form auch nicht, während The Walking Dead oder Game of Thrones diese Verlusterfahrungen schon mit einschreiben. Dann gibt es Identifikationsfiguren, wie der Sohn des Sheriffs in The Walking Dead, die für ein jugendliches Publikum anschlussfähig sind und denen auch ethische Herausforderungen gestellt werden. Das ist meiner Meinung nach das Positive. Jetzt kommen wir zum Negan-Problem: Ich war angesichts dieser Szenen ratlos. Ich fand sie schockierend. Als Glenn getötet wird, ist klar: Jetzt wird uns eine Identifikationsfigur genommen, das ist die maximale Fallhöhe. Die wird noch einmal gesteigert, indem wir die Körperzerstörung und das langsame Sterben dabei vor Augen geführt bekommen. Was ich damit als Zuschauer anfangen sollte, war mir nicht klar, das sage ich ganz offen. Im Grunde wird in der gesamten Serie versucht, mit dem Governor das Modell einer gesellschaftlichen Dystopie einzuführen. Nun wird dies aber nochmals gesteigert – durch eine Diktatur, die auf reiner Gewaltandrohung basiert. Es ist eine wichtige Szene, weil man genau das daran diskutieren muss. Ich denke, da ist das Erzählmodell an seine Grenzen gestoßen.

Bei uns wurde die Szene im Hinblick auf eine Sendeunzulässigkeit diskutiert.

Diese Szene hat in der Tat das Potenzial der Traumatisierung eines nicht ganz reflektierten Publikums.

Oder der Desensibilisierung, weil man sich gar nicht distanzieren kann, obwohl man es will – und dies eventuell zu einer Form von Abstumpfung führt.

Die Schaulust wird an einen Punkt getrieben, an dem sie nur noch für sich selbst besteht. Die Neugier auf das Innere des anderen, das ist eigentlich eine pubertäre Neugier. Um damit klarzukommen, muss man recht reif sein. Aber gut, das war vermutlich auch nicht für das Nachmittagsprogramm gedacht.

Nein, hier ging es um die Frage: Senden oder nicht senden? Die Entscheidung fiel für die Ausstrahlung. Aber wir beobachten seit bestimmt 15 Jahren, dass die Gewaltästhetik immer extremer wird. Inhalte, die man früher nur aus der Splatterecke kannte, sind jetzt Mainstream. Wir verlassen hier ja auch das Irreale und befinden uns immer mehr in einem Racheplot.

Das reflektiert die Erfahrung, die mit den aktuellen Kriegen, der Terrorgefahr sowie mit den Terrorvideos einhergeht. Die IS-Hinrichtungsvideos, die im deutschen Fernsehen niemals komplett zu sehen waren, im Internet aber vollständig abrufbar sind, können absolut traumatisierend sein. Diese werden darin reflektiert; und das Erschreckendste ist, dass die Terrorvideos zudem noch die Filmästhetik reflektieren. Sie scheinen sich somit gegenseitig zu beeinflussen. Da sind wir an einem tatsächlich recht bedenklichen Punkt. Es ist auf der anderen Seite auch keine Antwort, es als unzulässig zu erklären, weil das eine Kapitulation vor diesen Bildern ist. Wie geht man mit solchen extremen Phänomenen um, die im Internet vorhanden sind? Jugendliche, die das Extreme suchen, schauen sich natürlich auch solche Dinge an.

The Walking Dead ist eine Familienserie in den USA. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Gewaltdarstellungen dort so gänzlich anders bewertet werden als hier?

Ich bin mir gar nicht sicher, ob die Wirkung auf Jugendliche dabei tatsächlich ernsthaft diskutiert wird. Es geht eher darum, dass die Mentalität – und ich sage das als jemand, der in South Carolina in den Südstaaten eine Gastprofessur hatte – in die Richtung geht, dass Gewalt immer eine Option der Problemlösung ist. Das ist völlig unhinterfragt. Dass der Waffenbesitz etwas Anzustrebendes und nicht etwas Abzulehnendes ist und dass die ernsthafte Diskussion darüber, speziell im Südstaatenkontext, eher negativ gesehen wird. Das sehen wir auch in der aktuellen politischen Situation. Die Darstellung der Verhältnisse in The Walking Dead ist also im Grunde sehr amerikanisch. Das ist die Pioniermentalität, die in die Moderne hinübergerettet wurde, indem man sagt, man muss wehrfähig bleiben, es könnte ja sein – Stichwort „Zombieapokalypse“ –, dass wir uns wieder gegen das Fremde wehren müssen. Das ausgegrenzte andere ist das zurückkehrende Tote. Aber wenn man die politischen Tendenzen sieht, dann hat das auch andere politisch bedenkliche Namen. Deshalb ist die Serie auch eine sehr starke Metapher für diese totalitäre Politik.

Es wird vielleicht auch primär als Repräsentation wahrgenommen und nicht so sehr in Bezug zur realen Welt.

Richtig. Deshalb sagte ich auch, dass Gewaltdarstellung im Film nicht Gewalt in der Realität ist. Das ist etwas, woran man in Deutschland gelegentlich erinnern muss, was aber nicht die Antwort auf alles ist. In dem Moment, in dem man das sagt, muss man lauter Einschränkungen einfügen – je nachdem, wie die Modelle entwickelt werden. Wenn wir eine Familienserie haben, ist der Bezug zur Realität doch wieder da. Wenn wir soziale Verhältnisse haben, die nur übersteigert sind, sind es dennoch die sozialen Verhältnisse. Game of Thrones spielt zwar einerseits in einer nicht existenten Vergangenheit, die allenfalls Anknüpfungspunkte zu historischen Fakten hat, andererseits lässt sich vieles dennoch übertragen, denn auch da haben wir wieder die Familien- und Machtverhältnisse und die Machtpolitik. Insofern ist es immer ambivalent; und so sollte man es auch betrachten – und das ist nicht negativ. Wichtig ist für mich, dass ein jugendliches Publikum eine Kompetenz vermittelt bekommt. In der Ausbildung sollte das ein Aspekt sein. Das ist ja ein großer Missstand, den wir in Deutschland haben, dass die Medienausbildung in der Schule immer noch extrem marginalisiert ist.

Dr. Marcus Stiglegger ist Professor für Fernsehen und Film an der DEKRA Hochschule für Medien in Berlin.

Claudia Mikat ist Geschäftsführerin Programmprüfung der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).