„Geht woanders klugscheißen!“

Über die Empörung der Empörung in sozialen Netzwerken

Dagmar Hoffmann

Dr. Dagmar Hoffmann ist Mediensoziologin und Professorin für Medien und Kommunikation an der Universität Siegen.

Wer sich öffentlich äußert und inszeniert, macht sich angreifbar. Dies gilt nicht nur für Prominente, sondern im Prinzip für jede aktive Social-Media-Nutzerin und jeden ‑Nutzer, die oder der Privates, Skurriles oder auch Alltägliches von sich im Netz preisgibt. Gepostete Bilder laden zumeist eher als Texte dazu ein, kommentiert, kritisiert und vor allem kollektiv moralisch bewertet zu werden.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 32-35

Vollständiger Beitrag als:

In den sozialen Medien wimmelt es von (vermeintlichen) Skandalbildern, die mit dem Suffix „-gate“ als Hashtag versehen und mit Reaktionen in Form von Likes und/oder Emojis versehen, geteilt und kommentiert werden. Reagiert eine Masse von Nutzerinnen und Nutzern mit heftiger Kritik innerhalb kürzester Zeit auf einen Tweet oder einen Post bei Facebook oder Instagram, so wird schnell der Eindruck erweckt, es handle sich um einen sogenannten Shitstorm. Celebrities, Politikerinnen und Politiker sowie andere Prominente und Unternehmen sind prinzipiell stärker und nachhaltiger von öffentlichen Entrüstungswellen betroffen als Menschen, die über eine kleine Followerschaft oder einen zahlenmäßig überschaubaren Abonnentenkreis verfügen.

Massenhafte Empörungen zu Kommunikaten in sozialen Netzwerken werden häufig von etablierten Medien – u.a. Boulevard‑, Politikmagazinen, Tageszeitungen – aufgegriffen, sodass das Referenzereignis komplementäre Öffentlichkeiten erreicht. Selbst nach Löschung des Auslöser-Posts bleibt oftmals das Ereignis und der zugehörige, temporär begrenzte Shitstorm dokumentiert. So zeigte sich im Dezember 2016 die US-amerikanische Schauspielerin, Filmproduzentin und Regisseurin Lena Dunham, bekannt aus der TV-Serie Girls und mit aktuell über 3 Mio. Abonnenten auf Instagram, in einer intimen, eigentümlichen Pose auf der Toilette sitzend während einer Party. Das Foto bildet die junge Frau in einem bräunlich glitzernden Kleid ab, ihre schwarze Strumpfhose ist heruntergezogen, die Hände liegen in ihrem Schoß, verbergen zusammen mit dem Kleid ihre Scham. Ihr von unten nach oben in die Kamera gerichteter Blick wirkt künstlich lasziv. Dunham versah seinerzeit ihr Foto mit der Bildunterschrift „Model citizen“ („vorbildliche Bürgerin“). Sie provoziert generell gerne, will nicht nur die glamourösen Seiten des Celebritydaseins zeigen. Das Enfant terrible rebelliert – wann immer es geht – gegen Body-Shaming und setzt sich seit Jahren für ein vielfältigeres Frauenbild ein. Das Toilettenbild löschte sie innerhalb kurzer Zeit wieder. Aber offenbar zu spät für den Boulevardjournalismus, denn unmittelbar wurde über das #pinkelgate u.a. in der „OK!“, auf vip.de und The Daily Wire berichtet. „OK!“ startete auch prompt eine Onlineumfrage und forderte die Leserschaft auf, sich zu diesem Vorfall zu positionieren und zu beurteilen, inwieweit die Aktion von Dunham nun „cool“ oder „peinlich“ gewesen sei. Die Löschung ihres Hinterbühnenfotos kommentierte die Skandalisierte mit den Worten:

When you delete your own peeing Insta cuz you chronically forget what kind of world we live in but you still gotta shout out your visual influences.“1

 

Skandalbilder und ihre Streuwirkung

Nicht selten handelt es sich bei „-gates“ um „medialisierte Skandale“2, die von den skandalisierten Personen kaum zu kontrollieren sind. Sie erzielen häufig eine hohe Streuwirkung und tragen temporär zu einem Inszenierungsverlust der Betroffenen bei. Je nach quantitativer Resonanz können sich Shitstorms entwickeln, wobei nicht immer ersichtlich ist, ob essenzielle Aushandlungen einer Normverletzung oder „nur“ impulsive negative Entladungen einer großen Menge von Menschen im Hinblick auf eine bestimmte Person vorgenommen werden. In den letzten Jahren haben sich kommunikationswissenschaftliche Untersuchungen von Skandalen als eigenständiger Forschungsbereich etabliert, doch dieser widmet sich bislang vornehmlich der textuellen Berichterstattung über zweifelhafte politische Ereignisse respektive Fehlleistungen von Menschen des öffentlichen Lebens. Gepostete Skandal- oder Empörungsbilder und zugehörige Kommentare von Nutzerinnen bzw. Nutzern werden selten Gegenstand der Analyse. Auch berücksichtigen Skandaltheorien nur bedingt die transmedialen Mechanismen der Visualisierung eines Ereignisses, die dazu führen, dass Ereignisse zu einem medialisierten Skandal oder Medienskandal avancieren bzw. avancieren können.3 Toilettenfotos gelten allgemein als anstößig und stellen in der Regel eine Normverletzung dar, es sei denn, sie dienen der gesundheitsmedizinischen Aufklärung respektive Hygiene- und Sauberkeitserziehung. Insofern sind Bild- und Veröffentlichungspraxis von Dunham natürlich riskant und ist das Empörungspotenzial derartiger intimer Posts ganz offensichtlich. Gleichwohl entzünden sich ebenfalls Debatten anhand weniger freizügiger und provokanter Bilder in den sozialen Netzwerken. So postete Daniela Katzenberger, Model, Sängerin und Schauspielerin, im September 2015, vier Wochen nach der Geburt ihrer Tochter, ein Foto, auf dem sie ihrer Fangemeinde auf Facebook ein Babybett präsentiert. Versehen ist das Bild mit dem eher sachlichen Hinweis, dass dort „die kleine Prinzessin“ schläft, wenn sie bei der Großmutter ist.4 Das abgebildete rosa-weiße Himmelbett steht in einem grün gestrichenen, unaufgeräumten Zimmer, das anhand der Dekoration und des Fernsehers an der Wand kaum als Kinderzimmer zu identifizieren ist. In dem Bett befinden sich ein Nestchen, ein Kissen mit Namen „Sophia“, eine unordentliche Bettdecke sowie ein brauner Teddybär am Fußende. Katzenberger selbst posiert lächelnd mit angewinkelter, eigentümlicher Körperhaltung am Kopfende des Bettes. In der einen Hand hält sie einen der Schals des Himmelbettes. Das Foto generierte schnell unter den über 2 Mio. Fans bei Facebook viele Likes sowie sowohl anerkennende als auch negative Kommentare. Die Gegenstände im Bett sollten sich als Diskussionsreize entpuppen.
 

Berichte über mutmaßliche Netzhetze

Die konventionellen Medien haben sofort von einem Shitstorm und einer „regelrechten Hetzaktion“ („OK!“) berichtet. Sie titelten u.a.: Babybett-Foto sorgt für Shitstorm (stern.de), Krasse Kritik: Sie soll Sophias Leben gefährden (gala.de) und Daniela Katzenberger postet Foto vom Babybett – und erntet geballte Empörung (focus.de). Mehrheitlich werden die Artikel mit dem Original-Facebook-Post von Katzenberger illustriert. Selektiv zitieren die Journalistinnen und Journalisten vor allem die kritischen Kommentare der Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer. Es dominiert der Gefährdungs- und Erstickungsframe („Lebensgefahr“), d.h. die Befürchtung, das Kind könne durch Kissen, Decke und Kuscheltiere nicht ausreichend Luft bekommen. Zudem werden die Unverantwortlichkeit und Fahrlässigkeit der jungen, unbedarften Mutter betont. Außerdem habe sie eine Vorbildfunktion, die sie mit diesem erzieherischen Vorgehen nicht erfülle. In einigen Fällen wird auch auf die unterstützenden Reaktionen eingegangen, kaum aber auf die Empörer über die Empörer. Eine eigene journalistische Positionierung zum Kissen-Decken-Plüschtier-Ensemble bleibt weitgehend aus.

Eine Auswertung der Kommentare inklusive der Kommentare auf Kommentare von Anja Görtz5 (2016) hat ergeben, dass von den insgesamt 1.963 Kommentaren, die zu 90 % von Frauen abgegeben worden sind, ein Drittel die Empörung über die Empörung zum Inhalt hat. Ein Fünftel der Kommentare sind Lobbekundungen wie etwa: „Daniela, du bist die beste Neumutti der Welt :)“6. Decke, Kissen und Kuscheltiere werden zwar diskutiert, aber weitaus weniger negativ, als es in den Klatschrubriken dargestellt wird. In jeder achten Bemerkung auf der Facebook-Seite finden sich Beleidigungen untereinander („Ihr Supermuttis seid echt nervig“, „So ein Kindergarten hier im Kommentar!!!“). Das Gesamtbild an Kommentaren ergibt, dass Katzenberger eine stabile Fangemeinde zu haben scheint, die sie in diesem Fall eher in Schutz nimmt, als an den Pranger stellt. Der Sturm der Entrüstung wird immer wieder von denjenigen durchbrochen, die die Einwände für überzogen halten und anmaßend finden. Dafür stehen beispielhaft diese Aussagen: „Genießt doch mal das schöne Bild und hackt nicht alle auf ihr rum oder versucht eure Meinungen aufzudrängen, nur weil sie eurer Meinung nach richtig ist. […]“ oder:

Ey, auf diesem Bild gibt es nichts Negatives zu beanstanden. Seid ihr alle bekloppt!!! Geht woanders klugscheissen!“ 

Die Empörer über die Empörer beschimpfen andere Kommentatorinnen als „Übermuttis“ und „Besserwisser“ und fragen z.B.: „Habt ihr alle keine anderen Sorgen?“. Somit relativiert sich in quantitativer Hinsicht die Kritik an dem Babybettfoto, die auf der Facebook-Seite letztlich sehr moderat ausfällt.
 

Drastische Interventionen der Empörer über die Empörung

Sprache und Wortwahl der Empörer über die Empörer sind dabei häufig drastisch und nicht unbedingt vermittelnd:

Ihr Zicken seid echt ekelhaft mit eurem Unterschichtenniveau.“

Inwieweit die Akteure sich milieu- und schichtspezifisch artikulieren oder sich bewusst zivilisatorischer Kommunikations- und Umgangsformen verweigern, was der Netzwerkforscher Christian Stegbauer bei Shitstorms für charakteristisch hält7, lässt sich im vorliegenden Beispiel nicht beurteilen. Mitunter haben die Nutzerinnen selbst Erfahrungen von Bevormundung und Diskreditierung in ihrer Mutterrolle gemacht oder kennen nur zu gut das Gefühl ungerechtfertigter Anklage und Demütigung, das sie wütend macht und zur Widerrede sowie Einmischung ermutigt. Katzenberger (oder ihre Berater) jedenfalls reagierte gelassen und nahm die Fürsorge der Fans wohlwollend zur Kenntnis. In einem Post versicherte sie diesen, dass sie sich der Decke und Plüschtiere im Bett bewusst sei und ihre Tochter damit nie unbeaufsichtigt würde schlafen lassen. Wenngleich die Presse mehrheitlich die vielzähligen Reaktionen auf die Alltagssituation junger Eltern als kollektive Empörung und gar Shitstorm einordnete, lässt sich die prominente Mutter davon nicht beirren, sondern hält an ihrer Kommunikationsstrategie fest. Regelmäßig werden Schnappschüsse aus dem Familienleben gepostet, deren Informationsgehalte zuweilen fragwürdig sind, aber dennoch wird von Katzenberger, die das Image einer „Kult-Blondine“ pflegt, damit jeweils ein Beitrag im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie geleistet. Kunstfiguren haben halt kaum eine Reputation zu verlieren, sondern müssen vor allem die Aufmerksamkeitsmaschinerie am Laufen halten.

Dabei müssen sie gewissermaßen Risiken eingehen. Das Babybettfoto 2015 war sicherlich nicht auf negative Aufmerksamkeitsgenerierung angelegt und – wie die inhaltsanalytische Untersuchung von Görtz ergab – auch de facto eher von Zuspruch als Kritik in den sozialen Netzwerken gekennzeichnet. Ferner entwickelte sich ein Austausch über Fürsorge- und Schlafpraktiken sowie Einrichtungspräferenzen. Anders als erwartet und oftmals in der Literatur über Medienskandale und Shitstorms beschrieben, wurde hier eine negative Kommunikationsdynamik schnell durchbrochen und ein Shitstorm abgewendet. Dieser fand lediglich in verschiedenen Medien statt, die Aktivitäten Prominenter in den sozialen Netzwerken dauerbeobachten und grundsätzlich an Skandalen interessiert sind. Im vorliegenden Fall wurde anhand ungenauer und oberflächlicher Recherchen ein Shitstorm medial kreiert. Wenige negative Meinungen von Nutzerinnen zu dem Babybettfoto wurden als repräsentativ eingestuft. Der vermeintliche Shitstorm schadete im Prinzip nicht der skandalisierten Person, sondern eher den betreffenden Medien selbst, die damit einen Qualitäts- und vor allem Glaubwürdigkeitsverlust in Kauf nehmen müssen.

Wird hoch frequentiert und zuweilen willkürlich über Skandale und Shitstorms berichtet, so findet kaum noch eine Moral- und Normverhandlung auf der Encounter-Ebene statt, banalisieren sich die jeweiligen Fälle und tritt bei den Rezipientinnen und Rezipienten bekanntlich ein Gewöhnungseffekt ein.

 

Anmerkungen:

1) Prestigiacomo, A.: Lena Dunham Returns To Her Favorite Spot … The Toilet. In: The Daily Wire, 07.12.2016 (letzter Zugriff: 10.12.2018)

2) Burkhardt, S.: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln 20152

3) Ebd.

4) Abrufbar unter: https://www.facebook.com/katzenberger.daniela/ (letzter Zugriff: 10.12.2018)

5) Görtz, A.: Der Shitstorm als kommunikative Herausforderung für Personen des öffentlichen Lebens. Masterarbeit. Siegen 2016

6) Die Zitate wurden um Rechtschreib- und Grammatikfehler bereinigt.

7) Stegbauer, C.: Shitstorms. Der Zusammenprall digitaler Kulturen. Wiesbaden 2018, S. 40 f.