Fußball

Attraktion für die gesamte Gesellschaft

Gunter Gebauer

In: tv diskurs. Verantwortung in audiovisuellen Medien
22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 26-31

Wenn bei der EM oder der WM die besten Mannschaften von Europa oder der Welt ermittelt werden, herrscht Ausnahmezustand: Schon bei den Nachrichten tritt die Politik vorübergehend in den Hintergrund, die Sender, die keine Übertragungsrechte haben, schauen, was die Zuschauer angeht, in die Röhre. Fußball ist ein Massenereignis, das auch diejenigen mitfiebern lässt, die sich dafür eigentlich nicht interessieren. Das frühe Aus der deutschen Nationalmannschaft bei der letzten WM hat bei manch einem zu ernsthaften Depressionen geführt. Was macht den Fußball so erfolgreich? Dr. Gunter Gebauer, Professor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin, hat sich seit Jahren mit dieser Frage beschäftigt. tv diskurs sprach mit ihm.

Vollständiger Beitrag als:

Wie kommt man als Philosoph dazu, sich mit Fußball zu beschäftigen?

Das ist meistens biografisch bedingt. Meine Mutter arbeitete bei einem Fußballverein in der Geschäftsstelle, das war Holstein Kiel, damals war das ein sehr guter Verein in der Oberliga Nord. Als Kind war ich dann häufig in der Geschäftsstelle und habe mir angeschaut, wie die Ligaspieler hereinkamen und ihr Geld abholten. Und natürlich habe ich mir dann auch die Spiele angeschaut und so eine Begeisterung für den Fußball entwickelt.

Sprechen wir über die Geschichte des Sports, vor allen Dingen die des Fußballs. Fußball wurde lange Zeit als ein Sport des Proletariats angesehen. Trifft das zu?

Nein, es war zuerst ein Sport der Oberklasse. In England wurde Fußball an den Public Schools erfunden und gespielt, also an den höchsten Privatschulen Englands. Es waren Spiele, die die Schüler für sich erfanden, die aber von ihrem Rektor kodifiziert wurden. Der Headmaster hat sich also ein paar Regeln ausgedacht, damit die Jungs sich nicht zu stark massakrierten. An den Public Schools wurde die zukünftige männliche Elite Englands ausgebildet, und das sollte schon eine Elite sein, die rau und hart sein konnte. Es ging darum, eine Elite heranzubilden, die auch in der Lage war, Kolonien zu erobern und zu verteidigen. Das Männlichkeitsbild war sehr hart und die Oberklasse in England grob, herrschaftsbewusst und durchsetzungsfähig – das war das Entscheidende. In Deutschland wurde Fußball durch das Militär im Ersten Weltkrieg populär. Um den Teamgeist zu fördern, wurde Fußball gespielt. Es gibt rührende Geschichten, dass die englischen Grabensoldaten an Tagen, an denen die Waffen ruhten, oder manchmal auch nachts gegen deutsche Schützengrabensoldaten Fußball gespielt haben. Danach haben sie den Ball wieder eingesammelt, sind in die Schützengräben zurückgewandert und haben aufeinander geschossen. Fußball fing in den feinen Public Schools an und ging dann weiter, als ehemalige Schüler an den beiden Universitäten Oxford und Cambridge Klubs gründeten. Übernommen wurde der Fußball von den Arbeitern, die großen Gefallen an diesem Sport hatten. Die fingen dann tatsächlich in den Industriegebieten Mittelenglands ebenfalls an, diesen Sport zu betreiben. Und dann geschah soziologisch gesehen etwas sehr Verwunderliches: Die Arbeiter klopften bei der Oberklasse an und fragten, ob sie nicht gegeneinander spielen könnten, und die Gentlemen haben dem zugestimmt. Das waren die ersten Spiele, die zwischen den Klassen stattfanden. Weil die Spieler der Unterschicht, die besten der Arbeiterspieler, schon bald Geld dafür bekamen, musste das Spiel geregelt werden. Sie wurden von der Arbeit freigestellt und bekamen so etwas wie einen Spielerlohn von lokalen Geschäftsleuten. Damit waren die Gentlemen nicht einverstanden. Sie wollten lieber gegen Amateure spielen. Deshalb wurde eine bestimmte Kappungsgrenze für die Einkommen der Arbeitersportler festgelegt. Das mittlere Bürgertum hat in dieser Entwicklung keine Rolle gespielt, interessanterweise.

Die intellektuellen Fähigkeiten der Spieler hielten sich lange Zeit in Grenzen. Es gab sogar Bücher über die komischsten Sprüche von Profifußballern, aber inzwischen hat sich das völlig geändert.

Das liegt auch daran, dass sich die Ausbildung der Fußballer geändert hat. Es gibt in Deutschland seit dem Jahr 2000 Sportgymnasien. Damit hat Schalke angefangen. Das war sehr lobenswert. Sie haben die begabtesten Jugendlichen auf eine Spezialschule geschickt. Dort mussten sie ganz normale schulische Leistungen erbringen und erhielten dazu eine intensive Fußballausbildung. Sie haben teilweise schon morgens eine Trainingseinheit absolviert, den Schulstoff mussten sie am Nachmittag nachholen. Da gab es Betreuer, die schon Wert darauf gelegt haben, dass sie auch ordentliche Bildung mitbekamen. Per Mertesacker beschreibt das in seiner Biografie; es ist sehr lesenswert, wie er sich bemüht hat, sein Abitur zu machen, als er schon Auswahlspieler von Niedersachsen war.

Warum ist Fußball bei Männern viel beliebter als bei Frauen?

Weil es im Fußball stark männlich konnotierte Gesten gibt. Die ganze Motorik, die da verlangt wird, spielt in männlichen Verhaltensweisen eine wichtige Rolle. Dass man den Fuß nicht nur zum Laufen, sondern eben auch zum Treten und Schießen benutzt, ist eher etwas für Männer. Wenn z.B. Büchsen oder Steine herumliegen, dann schießen Jungs sie sofort weg, während die Mädchen Angst um ihre schönen Schuhe haben. Sie wurden ja auch so erzogen. Aber auch nicht alle Mädchen sehen das so, das darf man nicht verallgemeinern. Der Fußball ist inzwischen technischer und zivilisierter geworden. Er wird stärker reguliert, die Spieler werden stärker kontrolliert. Das hatte eine Öffnung für Mädchen und Frauen zur Folge.

Frauenfußball war vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) von 1955 bis 1970 verboten. Was war der Grund?

Es gab Ärzte, die der Meinung waren, dass Frauen irgendwelche Fähigkeiten verlieren und dass sie vermännlichen und schwerer gebären können. Ich glaube, der Hintergrund ist immer gewesen, dass man Angst hatte, dass sich die Frauen männlicher Kontrolle entziehen.

Fußball spielt vor allem im Fernsehen eine sehr große Rolle …

Es ist ein enorm telegener Sport. Die Übertragungstechniken sind großartig. Man kann alles wunderbar live mit Kameras verfolgen. Das Spielfeld ist groß genug, und sehr viele Aktionen spielen sich im Mittelfeld ab. Fußball ist inzwischen auf das Fernsehen angewiesen, ganz eindeutig. Als einen entscheidenden Punkt in dieser Entwicklung kann man die Einführung des privaten Fernsehens sehen, die dem Profifußball sehr viel Geld gebracht hat. Die Konkurrenz wurde größer. Das ging los mit der Sendung ran auf SAT.1 mit Reinhold Beckmann. Er hatte Kenntnisse und Gespür für Inszenierungen, er hatte vorher Videoclips gemacht, und so etwas eignete sich auch gut für Kurzdarstellungen wie in der Sportschau, in der man dann von einem Spiel sieben oder acht Minuten sehen konnte. SAT.1 hat dann die Rechte für die Bundesliga-Berichterstattung ersteigert. Die öffentlich-rechtlichen Sender sind dabei zunächst zurückgefallen. Dann haben sie begriffen, dass die Dramatisierung, die durch Beckmann eingeführt wurde, durchaus Zukunft hatte und vor allem jüngere Zuschauer für dieses Format gewinnen würde. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben dann mitgeboten und am Ende haben sie auch Beckmann eingekauft, der die Sportschau modernisiert hat. Dadurch wurde der Fußball immer populärer und erreichte neue Zuschauergruppen. Neben den männlichen Jugendlichen und Erwachsenen im Alter von 25 bis 50 Jahren wurden sowohl die Jüngeren als auch die Älteren und die Frauen erreicht. Die Fußballweltmeisterschaft 1974 als Großereignis mit Titelgewinn hat dazu beigetragen, dass Vertreter der oberen Schichten begannen, sich für Fußball zu interessieren. Die Stadien waren modernisiert worden, später kamen dann die VIP-Lounges dazu, sodass sich das Stadion auch nutzen ließ als Treffpunkt und exquisiter Ort, an dem man Geschäfte macht. So erreichte man das Interesse von den unteren bis zu den oberen Schichten, die dann in den 1990er-Jahren dazukamen.

Verhaltensweisen wie Killerinstinkte und Aggressivität wollen wir in unserer Gesellschaft eher kleinhalten. Ist das beim Fußball so ähnlich wie in einem Action- oder Horrorfilm, wo man Gefühle, Aggressionen oder auch Angst ausleben kann, ohne dass es wirklich gefährlich wird?

Ich glaube schon. Es gibt ja Katastrophen in Spielen, die mit einem Horrorfilm vergleichbar sind, wie das 0:2 gegen Südkorea. Alle, die das gesehen haben, auch die Spieler, waren geradezu gelähmt vor Horror. Außerdem war sofort die Angst vor den Folgen da. Diese Angst wurde im Grunde genommen bis heute nicht bewältigt und sie wird auch noch weiter lähmend wirken. Die Angst, zu versagen, ist gewaltig, was wir nun bei der deutschen Mannschaft zum ersten Mal seit 2002 wieder erlebt haben. Aggressivität wird im Fußball nur kontrolliert zugelassen, quasi als gezähmte und beherrschte Aggressivität. Wenn festgelegte Grenzen überschritten werden, fliegt der Spieler vom Platz. Dennoch werden Spieler auch dazu erzogen, ihre Vitalität bis zu einem bestimmten Grad als Aggressivität zu zeigen. Das ist mehr oder weniger notwendig für ein Spiel, wenn man sich wehrt und sich aufbäumt gegen eine Niederlage. Das ist ja genau das, was wir bei der deutschen Mannschaft während der WM vermisst haben, dass da einer mal die anderen anschreit und nach vorne peitscht. Solche Leute hatten wir sonst auch immer in der deutschen Mannschaft. Das waren nicht die sympathischsten Kumpel, aber das waren die, die die Mannschaft nach vorne getrieben haben. Das gehört mit zum Fußballspiel. Man kann nicht nur durch Schönspielerei oder großartige Passzirkulation ein Spiel gewinnen. Da weiß man nicht, wer das Tor schießen soll. Hier liegt auch das Problem der deutschen Mannschaft. Das soll keine Abwertung eines schönen, eleganten, feinen Fußballspiels sein, aber Fußball lässt eben auch bestimmte Formen von gebremster, beherrschter Aggressivität zu – und zwar mehr als andere Sportarten. Genau das macht Fußball interessant. Dort finden sich Verhaltensweisen, die wir in unserer Gesellschaft sonst nicht dulden. Beim Fußball werden sie bis zu einem bestimmten Maße zugelassen, aber eben immer nur bis zu einem bestimmten Maße.

Ist Fußball ein Symbol dafür, dass das Aggressive in uns steckt, was wir aber durch Regeln kontrollieren müssen?

So kann man Fußball interpretieren. Dafür spricht auch, dass man die Hand nicht benutzen darf. Nach allgemeiner Übereinstimmung ist die Hand das Organ der Kultur. Die Hand formt Zeichen, mit der Hand kann man Gerätschaften herstellen, man kann Ton kneten und Gefäße produzieren. Die Schrift entsteht aus dem Handgebrauch. Es gibt einen ganz engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Sprechens und des Handgebrauchs. Durch die Aufrichtung des Menschen ist die Hand frei geworden für andere Dinge als die, die sie vorher erledigen musste, als sie noch an der Fortbewegung beteiligt war. Das fiel durch den aufrechten Gang weg. Stattdessen entstand ein Handgebrauch mit freier Verfügbarkeit der Finger, die dann z.B. auch für Zeichen benutzt werden konnten. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Entstehung des freien Handgebrauchs und dem Fortschritt der Zivilisation, nicht nur auf der ersten Ebene der Entstehung der Sprache oder des Zeichengebrauchs, sondern auch bei höheren Zivilisationsstufen, z.B. bei der Entwicklung von Werkzeugen und Instrumenten, die wir mit der Hand bedienen. Auf der höchsten Entwicklungsstufe entstehen dann die Musikinstrumente. Das alles gibt es aber nicht für den Fuß – für den gibt es das Tanzen und das Marschieren. Dagegen besitzt die Hand eine unendliche Palette von Möglichkeiten. Das kann man auch daran sehen, dass das Motorikzentrum der Hand ein riesiges Hirnareal in Anspruch nimmt. Den Fuß hingegen kann man nicht so präzise steuern. Auch für trainierte Profis ist immer eine Portion Zufall und Glück notwendig, um Tore zu schießen. Das macht den Fußball so spannend: die Mischung aus Können und Glück.

Ähnlich wie bei Schauspielern und Popstars entwickelt der Fußballfan so etwas wie eine parasoziale Beziehung zu den Spielern.

Ja, das glaube ich schon. Man schaut Fußball ja nie passiv. Es mag natürlich Zuschauer geben, die sich einfach auf die Couch legen, Chips essen, Bier trinken und Fußball schauen. Ich kenne aber nur Menschen, die gleichzeitig extrem gespannt und angespannt zuschauen. Je wichtiger das Spiel ist, desto größer ist am Ende auch die Erschöpfung des Zuschauers. Es findet eine ständige Beteiligung der Aufmerksamkeit und jener Muskelgruppen statt, die bei den Spielern gerade beansprucht werden.

Der Rücktritt Mesut Özils aus der Nationalmannschaft war im medialen Sommerloch ein Topthema. Medienwissenschaftlich war das sehr spannend. Quasi aus dem Nichts wurde ein Bild so skandalisiert, dass Özil dem DFB Rassismus vorwarf.

Es geht ja nicht um Özil alleine, es geht ja im Wesentlichen um Fragen, die für unser Land im Augenblick eine große Bedeutung haben, nämlich um Rassismus und Integration. Wir haben ein Konzept des DFB, das im Einklang stand mit allen möglichen anderen politischen Vorstellungen davon, wie man Ausländer, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, aber nach deutscher allgemeiner Auffassung immer noch als Ausländer gelten, behandelt. Es wird dann gesagt: Das sind Deutsche mit ausländischen Wurzeln, diese sind zu integrieren und das geschieht z.B. über Fußball. Dazu nennen wir ein paar Nationalspieler mit ausländischen Wurzeln, die als Musterbeispiel gelten, wie gut Integration in Deutschland gelungen ist. Nun kommt der Fall Özil und man stellt fest: Deutscher ist er schon mal nicht geworden. Er ist irgendwo noch Türke geblieben, er verweist auch noch auf „zwei Herzen in seiner Brust“ und macht vollkommen klar, dass er türkisch fühlt. Das wird in der aufgeheizten Debatte um Flüchtlinge von der Alternative für Deutschland (AfD) etc. sofort dahin gehend schief interpretiert, dass er letzten Endes ein Türke geblieben, also nicht integriert ist. Von einem Nationalspieler wird als selbstverständlich erwartet, dass er deutsch denkt und fühlt. Hier werden also verschiedenste Dinge miteinander vermischt, die zwar verknotet sind, aber die man schön auseinanderhalten muss. Es wird gesagt, dass ein Nationalspieler ein Vorbild für die Jugend sein muss, was ich für eine völlige Übertreibung halte. Ein Nationalspieler ist vielleicht ein Vorbild dafür, wie man Fußball spielt oder wie ein Fußballer sein Leben gestaltet, aber für mich ist er doch nicht ein Vorbild dafür, wie ich mein Leben führe. Muss ein Nationalspieler deutsch denken? Die Hauptsache ist doch, dass der Spieler wirklich gut für die deutsche Mannschaft spielt. Dann wird erwartet, dass der Spieler sein deutsches Inneres nach außen kehrt, etwa beim Singen der deutschen Nationalhymne. Das ist wirklich der letzte Blödsinn. Jahrzehntelang hatten wir die größten deutschen Fußballer, die nicht eine Zeile der Nationalhymne mitgesungen haben. Plötzlich greift nationalistisches Denken darauf zu – vor allem für die Nationalspieler mit ausländischen Wurzeln. Bei uns findet das Rassistische in den Hasskommentaren der Social Media statt. Ich habe mal angefangen, darin zu lesen, aber nach zehn Minuten meinen Computer ausgeschaltet, ich bin dann an die frische Luft gegangen, weil ich das nicht mehr aushalten konnte.

Ist dieser Hass oder Rassismus durch die sozialen Netzwerke entstanden oder war er vorher undercover schon immer da und wird nur plötzlich sichtbar?

Das ist etwas, was sichtbar wird. Und das ist wahrscheinlich das einzig Akzeptable an der Krise, die das ausgelöst hat. Deswegen ist das auch keine belanglose Geschichte. Sie hat aufgrund der Reaktionen vieler Deutscher etwas nach oben gebracht und deutlich gemacht: Es gibt in den unteren Ligen, an der Basis etc. einen Haufen Rassismus. In einem Bericht im „Tagesspiegel“ hat ein türkischer Fußballer und Journalist darüber geschrieben, wie er in den Berliner Ligen ganz unten behandelt worden ist. Einer unserer Doktoranden hat das genau erforscht und konnte es bestätigen: Es gibt da nicht nur einen latenten, sondern einen ganz offenen Rassismus. Der kommt manchmal ganz nett daher mit: „Ey du, Ali, komm mal her, hol mal den Ball.“ Da wird dann Ali als halbes Schimpfwort oder als Synonym für „du Ausländer“ verwendet. Aber wenn man selbst Ali heißt, ist das nicht schön. Oder wenn ständig von „Kümmeltürken“ die Rede ist oder davon, dass sie ja doch nicht gut Fußball spielen können. „Ihr Türken, ihr seid ja zu egoistisch mit dem Ball“ oder ähnliche Dinge, die da ständig gesagt werden. Auch in den Schüler- und Jugendligen etc. gehört das zur Tagesordnung. Aufgrund der ganzen Propaganda, die der DFB gemacht hat und wohinter auch die Kanzlerin stand und alle möglichen Politiker, die ja nun nicht in die unteren Berliner Ligen gehen, um sich anzuschauen, was da so gefällig ist, wurde geglaubt, dass Sport wunderbar integriert. Aber nein, das tut er eben nicht. Sport ist sehr körperlich, und aufgrund von Unterschieden des Körperlichen, von verschiedenen Verhaltens- und Reaktionsweisen und unterschiedlichen Gefühlen entstehen ganz banale Gemeinheiten, die aber sofort einen rassistischen Anstrich bekommen.

Sprechen wir zum Schluss über das Religiöse im Fußball. Sie haben sich damit ja auch beschäftigt.

Es wird gerne gesagt, dass Fußball eine Ersatzreligion sei. Das ist ein bisschen oberflächlich. Tatsache ist, dass Fußball religiöse Züge hat – bei Fans, bei gläubigen Anhängern einer Mannschaft oder bei den Verehrern von großen Fußballern. Da sind sehr viele Elemente, die wir in der christlichen oder katholischen Liturgie finden, wie in der Messe, bei Prozessionen oder Heiligenverehrung. Das setzt schon sehr früh im Kindesalter ein, denn Kinder neigen ja ohnehin sehr stark zu Verehrung, was teilweise bis ins Jugend- und Erwachsenenalter weitertransportiert wird. Es gibt beim Fußball ein großes Engagement, das wir auch aus kirchlichen Kreisen kennen. Es gibt vor allem einen Glauben an das Spiel und an die großen Spieler. Man glaubt, ein großer Spieler könne ein Spiel entscheiden und richten, man glaubt an eine Mannschaft. Dieser Glaube wird manchmal enttäuscht, wie wir das gerade erlebt haben. Und das ruft dann geradezu eine Glaubenskrise hervor. Das alles ist ganz ähnlich wie bei einer Religion – und vielleicht ist es auch bei manchen Fans tatsächlich eine Art Religion. Es besteht jedoch weniger eine Rivalität zwischen christlichem Glauben und Fußball, sondern eher eine Koexistenz, sodass man von einer Art Ergänzung oder Übertragung von religiösen Motiven sprechen kann. Fußball ist jedoch keine Religion im Sinne einer christlichen Religion – monotheistisch mit Auferstehungsvorstellungen, mit Vorstellungen des ewigen Lebens, mit dem Umgang mit Sünde, mit Vergänglichkeit, Tod und Sterben –, aber auch im Fußball gibt es so etwas wie Begräbnisse auf dem heiligen Rasen. In England ist es durchaus möglich, dass man seine Asche nach der Einäscherung auf dem Rasen seines Lieblingsvereins verstreuen lässt.

Diego Maradona wird von den Argentiniern schon ein wenig wie ein Heiliger verehrt …

Ja, es gibt eine Kirche in der Nähe von Buenos Aires, die ihm als Heiligen gewidmet ist. In Neapel ist er wie ein Stadtheiliger verehrt worden. Als der SSC Neapel nach langer Zeit wieder die italienische Meisterschaft gewann, fiel das zusammen mit Maradonas Verpflichtung für den Klub. Er hat dem Verein die Qualität eines der besten Vereine Europas gegeben, allein durch seine Präsenz im Spiel. Die Neapolitaner haben ihm in ihrem heidnisch grundierten Heiligenglauben einen Altar in der Altstadt errichtet. Dort gibt es einen kleinen Glasbehälter, in dem man Tränen von Maradona und eine Haarlocke von ihm aufbewahrt – wie in einem Reliquienschrein. Darin steckt natürlich auch ein bisschen Ironie, wie in Neapel die Kulte und der Glaube oft übersteigert sind, aber immer mit einem kleinen Augenzwinkern betrachtet werden.

Dr. Gunter Gebauer ist Professor i.R. am Institut für Philosophie an der Freien Universität Berlin.

Prof. Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und Chefredakteur der Fachzeitschrft tv diskurs.