Fußball als parasoziales Übungsfeld

Joachim von Gottberg, Fabian Lamster

Die meisten Fußballfans binden sich emotional an einen Verein und oft auch an bestimmte Spieler. Wenn die Nationalmannschaft siegt oder verliert, kann das die Stimmung einer ganzen Nation positiv oder negativ beeinflussen. Fußball scheint über die sportliche Attraktivität und den Unterhaltungswert hinaus vor allem für Fans eine Bedeutung für das eigene Gefühlsmanagement und die Entwicklung von Wertvorstellungen zu haben. Vieles spricht dafür, dass die parasoziale Interaktion, die seit Langem bei Fernsehmoderatoren oder Schauspielern vermutet wird, auf die mediale Beziehung der Fans zu Fußballspielern ebenso oder vielleicht sogar noch stärker zutrifft.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 4/2018 (Ausgabe 86), S. 68-71

Vollständiger Beitrag als:

Als soziale Wesen haben natürlich auch Fußballfans das Bedürfnis, Beziehungen einzugehen und die Gesellschaft anderer zu suchen (vgl. Buunk 2002, S. 417). Soziale Kontakte helfen, mit Stress und belastenden Situationen besser umzugehen. Zudem „füttern“ sie ihren Informationsdrang, erhalten Rückmeldungen zu den eigenen Gefühlen und Gedanken, indem sie sich sozial mit anderen Menschen vergleichen, Beziehungen mit ihnen eingehen und ihr soziales Netzwerk erweitern.

Dieses Grundbedürfnis findet sich auch beim Rezipieren audiovisueller Medien wieder. Bei jedem medialen Rezeptionsvorgang finden Interaktionen zwischen Rezipienten und Medienpersonen statt, die allerdings – im Gegensatz zu realen zwischenmenschlichen Kontakten – einseitig verlaufen (vgl. Hartmann 2004, S. 113). Der Rezipient befindet sich in einer Scheininteraktion, die Donald Horton und Richard Wohl bereits 1956 in einem Essay erstmals erwähnten und als „para-social interaction“ (Horton/Wohl 1956, S. 215), als parasoziale Interaktion (PSI) bezeichneten. Sie hatten mehrere TV-Sendungen ausgewählt, um herauszufinden, ob zwischen Rezipienten und den Fernsehpersonen eine Beziehung existiert, die einer realen Sozialbeziehung ähnelt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Rezipienten nicht passiv, sondern aktiv das Fernsehangebot rezipieren und parasoziale Prozesse zwischen ihnen und den Fernsehpersonen stattfinden. Die Medienperson bekommt von diesen Interaktionen seitens des Rezipienten nichts mit und kann dementsprechend auch nicht auf sie reagieren. Darum sind parasoziale Interaktionen auch als „asymmetrische Interaktionsform“ (Schramm u.a. 2002, S. 439, zitiert nach Schweiger 2007, S. 121) zu sehen, die laut Hartmann automatisch stattfinden, sobald eine Medienfigur vorhanden ist (vgl. Hartmann u.a. 2004, S. 30 ff.).

Eine parasoziale Interaktion wird durch kognitive, affektive und konative Prozesse herbeigeführt.

Auf kognitiver Ebene konzentriert der Rezipient seine Aufmerksamkeit auf die Medienperson, bewertet ihr Aussehen sowie ihr Verhalten und unternimmt einen sozialen Vergleich, findet Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur eigenen Persönlichkeit oder aktiviert sein Vorwissen zu ihr, um es im erneuten Rezeptionsvorgang anzuwenden und zu erweitern.

Darüber hinaus verstärken affektive Prozesse eine parasoziale Interaktion, wenn der Rezipient die Emotionen einer Medienperson sieht und verarbeitet und diese bei ihm selbst ähnliche Emotionen hervorrufen.

Aber nicht nur kognitive und affektive, sondern auch konative Vorgänge können bei einer PSI beteiligt sein. Hierbei handelt es sich um alle beim Rezipienten sichtbaren Reaktionen auf eine Medienfigur, die sich in Gestik, Mimik und verbalen Äußerungen auf ihn übertragen.

Parasoziale Interaktionen sind von unterschiedlicher Intensität. Dies hängt mit der parasozialen Verarbeitung des Rezipienten zusammen, der Medienfiguren verschieden wahrnimmt, die kognitiven, affektiven und konativen Prozesse unterschiedlich verarbeitet sowie unterschiedlich auf diese reagiert (vgl. Hartmann 2010, S. 49 ff.). Hartmann unterscheidet zwischen schwachen und starken PSI (vgl. ebd., S. 49 f.). Wie stark oder schwach eine Interaktion ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Je nach Persönlichkeit und Motivation können Ähnlichkeiten in Verhaltensweisen oder Charakterzügen zwischen Rezipienten und Medienfigur eine parasoziale Interaktion intensivieren, darüber hinaus spielt eine Rolle, ob die Medienperson dem Rezipienten aufgrund ihres Erscheinungsbildes gefällt. Das kann dadurch gelingen, dass sie für ihn attraktiv erscheint, erfolgreich ist oder sich sympathisch präsentiert.
 

Entstehung von parasozialen Beziehungen (PSB)

Je öfter sich parasoziale Interaktionen mit einer Medienperson wiederholen, desto eher kann beim Rezipienten das Gefühl entstehen, er würde sie gut und schon lange kennen. Aus den kognitiven, affektiven und konativen Prozessen, die parasoziale Interaktionen herbeiführen können, sowie nach deren parasozialer Verarbeitung kann sich eine einseitig geführte Scheinbeziehung, eine parasoziale Beziehung (PSB) entwickeln. Krotz definiert sie als „eine durch Gewohnheit, kognitive Operationen und Emotionen vermittelte situationsübergreifende Bindung“ (Krotz 1996, S. 80). Wie parasoziale Interaktionen können auch PSB unterschiedliche Formen annehmen (vgl. Hartmann u.a. 2006). Die Wissenschaftler untersuchten die parasozialen Beziehungen zwischen Rezipienten und Formel-1-Fahrern und stellten fest, welchen Einfluss diese auf das Spannungserleben haben. Sie unterschieden zwischen positiver und negativer PSB. Während sich eine positive parasoziale Beziehung durch ein grundsätzliches Interesse für die Medienperson auszeichnet, ist die negative parasoziale Beziehung von Desinteresse oder gar Antipathie gegenüber der Medienperson gekennzeichnet. Die Autoren betonen, dass es sich dabei nicht um gegensätzliche, sondern um verschiedene Formen der PSB handelt. Laut Gleich (1996) kann eine positive PSB zwischen dem Zuschauer und einer Medienperson der realen Sozialbeziehung zu einem guten Nachbarn gleichen. Besonders intensiv gelingt das mit gleichgeschlechtlichen Medienpersonen (vgl. Tukachinsky 2010). Die freundschaftliche PSB zu einem Formel-1-Fahrer wirkt sich dabei positiv auf das Interesse und die Spannung während des Rennens aus. Der Zuschauer nimmt die Perspektive seines gefühlten Freundes ein und fiebert für den Erfolg stärker mit, als wäre ihm egal, wer gewinnt.
 

Verstärker: soziale Medien

Verfügt ein Fußballspieler bereits über eine gewisse Prominenz, kann der soziale Vergleich mit ihm das Selbstwertgefühl des Rezipienten fördern (vgl. Gleich 2014, S. 250). Wenn der bevorzugte Fußballspieler vom Zuschauer wertgeschätzte Charaktereigenschaften zeigt, im Spiel Erfolg hat und dadurch Anerkennung und Bewunderung erfährt, kann der Fan an diesem Erfolg partizipieren und sieht sich selbst in einem positiven Licht (vgl. ebd., S. 247). Soziale Vergleiche stellen so psychologische Prozesse dar, aus denen PSI und PSB hervorgehen können (vgl. ebd., S. 250). Profifußballer scheinen besonders geeignet für einen parasozialen Kontakt, da sie gewissermaßen als private Personen ihren Beruf unter medialer Beobachtung ausüben. Sie vermitteln einen authentischen wie glaubwürdigen Eindruck.

Inzwischen teilen Fußballspieler nicht nur ihren Beruf, sondern auch ihr Privatleben medial mit. Vor allem über soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram teilen die Spieler ihre eigenen Medienbeiträge (Textnachrichten, Bilder, Videobotschaften), wodurch ergänzend die Bindung zu ihren Fans gepflegt wird. Die Beiträge können für zusätzliche kognitive, affektive und konative Prozesse beim Rezipienten sorgen. Sie dürften zwar im Vergleich zu einer Liveübertragung eines Fußballspiels schwächer ausgeprägt sein, aber sie aktivieren dennoch parasoziale Prozesse, die wiederum bestehende parasoziale Beziehungen beeinflussen.

Widerfährt dem Spieler ein Shitstorm oder ein Skandal, weil er beispielsweise durch einen Beitrag in sozialen Netzwerken für Diskussionen sorgt oder in der Öffentlichkeit negativ auffällt, kann sein Image Schaden nehmen.
 

Die symbolische Nähe zum Leben

Jedem Fußballspiel liegt ein inszenierter sportlicher Konflikt zugrunde, dessen Dramaturgie bis zum Abpfiff des Schiedsrichters unvorhersehbar ist, auch wenn sich bereits vor Beginn des Spiels bestimmte Tendenzen zum Spielausgang aufgrund von Vorabinformationen zu beteiligten Spielern und Mannschaften vornehmen lassen. Fußballspiele haben zumindest in Liga- und Turniersystemen einen seriellen Charakter mit wiederkehrenden Protagonisten, deren fußballerische Qualitäten dem interessierten Zuschauer bekannt sind. Das Spiel hat eine Eigendynamik und entwickelt sich meist anders als vorhergesagt. Gunter Gebauer (vgl. Fußball, Interview mit tv diskurs) weist darauf hin, dass der Spieler den Fuß erheblich weniger präzise kontrollieren kann als die Hand und dass deshalb trotz aller Präzision und des fußballerischen Könnens der Anteil von Glück und Zufall sehr hoch ist. Der Vorteil: Dadurch ist ein Fußballspiel bis zur letzten Sekunde spannend.

Das Spannungserleben steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Emotionen des Rezipienten während der Fußballübertragung. Gerade das Unvorhersehbare sorgt für ein ständiges Auf und Ab der Gefühle. So kann man sich mit der bevorzugten Mannschaft und ihren Spielern über gelungene Aktionen und Tore freuen, aber oft kann noch in letzter Sekunde die Wende eintreten. Dann sind die Enttäuschung und der Leidensdruck groß. Anders als beim Film ist beim Fußballspiel die Dramaturgie nicht planbar. Es kann extrem spannend, aber auch völlig langweilig sein. Und genau wie im Leben ist es ungewiss, ob es gut ausgeht.

Durch den festgelegten zeitlichen Rahmen eines Fußballspiels und der sich im Laufe des Spiels immer wieder ändernden Spielsituation müssen die Rezipienten gemäß der Mood-Management-Theorie von Dolf Zillmann stetig ihre Emotionen regulieren und versuchen, „negative Stimmungen […] zu überwinden bzw. positive Stimmungszustände aufrechtzuerhalten oder zu verbessern“ (Nölleke/Blöbaum 2012, S. 169). Es ist ein Übungsfeld: Wir können starke emotionale Schwankungen zwischen Erfolg und Misserfolg miterleben, ohne real in Gefahr zu geraten. Eine emotionale Grunderregung ist bei Fußballfans während der Rezeption der Fußballübertragung durchgehend vorhanden. Der Rezipient kann als Fußballfan dermaßen emotional in das Spielgeschehen und die Handlungen der Protagonisten involviert sein, dass er mit den meist verteilten Sympathien und Antipathien nicht nur am Erfolg und Misserfolg der Spieler, sondern der gesamten Mannschaft teilnimmt und diesen entsprechend affektiv verarbeitet, weil er in den inszenierten sportlichen Konflikt quasi involviert ist (vgl. Herrmann 1977, S. 33). Das kann wiederum – je nach Ausgang des Spiels – eine positive oder negative Wirkung auf das Selbstwertgefühl des Rezipienten haben. Darüber hinaus macht es einen Unterschied, ob die Übertragung allein oder mit mehreren Personen geschaut wird und ob sie im privaten oder öffentlichen Raum stattfindet. So konnte Horky (2009, S. 178 ff.) in seiner Untersuchung zu sozialpsychologischen Effekten bei der Rezeption von Mediensport in Gruppen nachweisen, dass die Zahl der Mitrezipienten, ihr Bezug zum jeweiligen Fußballspiel sowie ihre Beziehung untereinander einen Einfluss auf die Emotionalität jedes Einzelnen während der Rezeption hat. So können die Erregung und das Spannungserleben des Rezipienten signifikant erhöht werden (vgl. ebd., S. 183), sodass quasi eine Stadionatmosphäre im Kleinen entsteht.
 

Literatur:

Buunk, B.: Affiliation, zwischenmenschliche Anziehung und enge Beziehungen. In: W. Stroebe/K. Jonas/M. Hewstone (Hrsg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung. Heidelberg 2002, S. 415-447

Gleich, U.: Sind Fernsehpersonen die „Freunde“ des Zuschauers? Ein Vergleich zwischen parasozialen und realen sozialen Beziehungen. In: P. Vorderer (Hrsg.): Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen. Opladen 1996, S. 113-144

Gleich, U.: Parasoziale Interaktion und sozialer Vergleich. In: C. Wünsch/H. Schramm/V. Gehrau/H. Bilandzic (Hrsg.): Handbuch Medienrezeption. Baden-Baden 2014, S. 243-256

Hartmann, T.: Parasoziale Interaktionen und Beziehungen mit Sportstars. In: H. Schramm (Hrsg.): Die Rezeption des Sports in den Medien. Köln 2004, S. 97-120

Hartmann, T.: Parasoziale Interaktion und Beziehungen. Baden-Baden 2010

Hartmann, T./Daschmann, G./Stuke, D.: Parasoziale Beziehungen zu Sportlern. Eine empirische Studie am Beispiel von Formel-1-Fahrern. In: H. Schramm/W. Wirth/H. Bilandzic (Hrsg.): Empirische Unterhaltungsforschung. Studien zu Rezeption und Wirkung von medialer Unterhaltung. Erfurt 2006, S. 149-168

Hartmann, T./Schramm, H./Klimmt, C.: Personenorientierte Medienrezeption: Ein Zwei-Ebenen-Modell parasozialer Interaktionen. Zitiert nach: U. Gleich: Parasoziale Interaktion und sozialer Vergleich. In: C. Wünsch/H. Schramm/V. Gehrau/H. Bilandzic (Hrsg.): Handbuch Medienrezeption. Baden-Baden 2014, S. 243-256, hier S. 244

Herrmann, H.U.: Die Fußballfans. Untersuchungen zum Zuschauersport. Schorndorf 1977

Horky, T.: Sozialpsychologische Effekte bei der Rezeption von Mediensport in der Gruppe. In: H. Schramm/M. Marr (Hrsg.): Die Sozialpsychologie des Sports in den Medien. Köln 2009, S. 176-198

Horton, D./Wohl, R.: Mass communication and para-social interaction: Observations on intimacy at a distance. In: Psychiatry, 19/1956, S. 215-229

Krotz, F.: Parasoziale Interaktion und Identität im elektronisch mediatisierten Kommunikationsraum. In: P. Vorderer (Hrsg.): Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen. Opladen 1996, S. 73-90

Nölleke, D./Blöbaum, B.: Medial dabei statt mittendrin? Sportzuschauer als Medienrezipienten. In: B. Strauß (Hrsg.): Sportzuschauer. Göttingen 2012, S. 162-179

Schramm, W./Hartmann, T./Klimmt, C.: Desiderata und Perspektiven der Forschung über parasoziale Interaktion und Beziehungen zu Medienfiguren. Zitiert nach: W. Schweiger: Theorien der Mediennutzung. Eine Einführung. Wiesbaden 2007, S. 121

Tukachinsky, R.: Para-Romantic Love and Para-Friendships: Development and Assessment of a Multiple-Parasocial Relationships Scale. In: American Journal of Media Psychology, 3(1/2)/2010, S. 73-94

Prof. Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und Chefredakteur von tv diskurs.

Fabian Lamster hat in seiner Masterarbeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg seine Begeisterung für den Fußballsport und die Faszination für parasoziale Prozesse miteinander verknüpft.