Film als ambivalente Herausforderung

Über ethische Aspekte der Filmrezeption

Marcus Stiglegger

Prof. Dr. Marcus Stiglegger ist Film- und Kulturwissenschaftler an der Universität Mainz und der Filmakademie Ludwigsburg, Vorsitzender der Filmbewertungsstelle und Autor zahlreicher filmwissenschaftlicher Publikationen.

An Hochschulen und im öffentlichen Diskurs tauchen vermehrt Forderungen nach „Trigger-Warnungen“ auf, die auf eine „Risikominderung“ der Filmrezeption gerichtet sind. Höchste Zeit, über die ethischen Aspekte einer ambivalenten Filmwahrnehmung neu nachzudenken.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 60-64

Vollständiger Beitrag als:

 

1.

Nimmt man Ethik grundsätzlich an als die Idee vom sittlich richtigen und somit verantwortungsbewussten Handeln, muss man sie zugleich in den unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen der Medienwelt immer neu überprüfen bzw. etablieren. Medienethik betrifft sowohl die Produktion wie auch die Distribution, Rezension und natürlich die Rezeption durch die Medienkonsument*innen. Begründen lässt sich die Medienethik auf der Basis kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnisse mit erweitertem Blick auf jene zusätzlichen Einflüsse und Faktoren, die im Prozess der medialen Kommunikation zusammenwirken.

Ethisch handeln bedeutet grundsätzlich, gute und richtige Handlungsentscheidungen auf Basis nachvollziehbarer, widerspruchsfreier Prinzipien herzuleiten bzw. Entscheidungen zumindest im Rahmen solcher Grundsätze zu treffen. Wer ethisch handelt, agiert daher im Rahmen der Voraussetzungen im Idealfall richtig. Unter Ethik versteht man also jenen Teilbereich der Philosophie, der sich mit den Voraussetzungen und der Bewertung menschlichen Handelns befasst (Reiner 2010). Er strebt zudem das umfassende methodische Nachdenken über die Moral an, welche sich im Gegensatz zur Ethik nach spezifischen begrenzten Wertesystemen richtet. Im Zentrum steht die Reflexion des Handelns mit Blick auf seine Begründbarkeit. Daher muss Ethik letztlich Moral kritisch reflektieren (Leschke 2003; Sorgner 2006).
 

2.

Moral ist die alltägliche praktische Anwendung der Ethik. Eine moralische Handlung wird dabei von einer Gruppe im Sinne einer spezifischen Wertegemeinschaft als „richtig“ angesehen. Auch wenn die Moral sich auf ein Normensystem bezieht, das versucht, „richtiges Handeln“ zu beschreiben, und somit auch für alle verbindlich sein soll, ist gerade diese Perspektive kritisch zu betrachten: Im eigenen Normensystem kann Moral durch Prinzipien oder Werte klar definiert sein, sie richtet sich dennoch nach willkürlich vereinbarten Grundsätzen (Scherenberg 2006). Im Sinne einer religiösen Moral z.B. mag es den Tatbestand der Blasphemie geben, der in deren Sinne unmoralisch einzustufen wäre – die Voraussetzungen dafür basieren jedoch auf einer Behauptung (es gibt einen Gott, der beleidigt werden kann), was unter objektiven Maßgaben nicht bindend sein kann. Blasphemie mag für die Vertreter*innen einer christlichen oder muslimischen Moral gravierend sein, aus universalethischer Perspektive ist diese Handlung jedoch subjektiv. Moral ist somit ein System von Werten, die für die Gemeinschaft allgemein verbindlich etabliert werden sollen. Je diverser diese Gemeinschaft ist, umso unterschiedlicher sind deren unterschiedliche Moralitäten: Da sich mehrere Normensysteme definieren lassen, müssen logischerweise auch verschiedene Moralen existieren. Hier kommt nun die Ethik ins Spiel. Ethik beschreibt nach rationalen Grundsätzen, wie unterschiedlichste Werte und Meinungen so vermittelt werden können, dass sie gesellschaftlich überhaupt lebbar sind.
 

3.

Ethik stammt von dem griechischen Wort „ēthos“ ab, welches übersetzt „Charakter“ oder „Sinnesart“ bedeutet. In der Antike war die Bedeutung des griechischen Wortes „ēthos“ dem lateinischen „mos“ ähnlich, woraufhin diese Begriffe oft synonym verwendet wurden. Als „moralis“ wurden jene Werte bezeichnet, die in der Gesellschaft allgemein anerkannt waren. Cicero übersetzte als Erster „êthikê“ in den seinerzeit neuen Begriff „philosophia moralis“. In dieser Tradition wird Ethik auch als Moralphilosophie bezeichnet (Sorgner 2006). Ethik beschäftigt sich also mit der Theorie der Moral. Somit kann man Ethik als die Wissenschaft der Moral betrachten, die diverse Moralen aufgrund ihrer Prinzipien analysiert und systematisiert. Während zahlreiche religiöse oder politische Moralen koexistieren, kann es theoretisch nur eine Ethik geben. Obwohl die Ethik hauptsächlich in der Philosophie beheimatet ist, wird sie auch in anderen Fachbereichen, z.B. in der Moraltheologie, Moralpsychologie oder der Moralsoziologie, betrieben – oder in Form der Medienethik, die Produktion, Distribution und Rezeption von Medieninhalten beleuchtet und die für die folgende Fragestellung von besonderem Interesse ist. Moral und Ethik sind sich also nur auf den ersten Blick ähnlich. Wenn moralisch sittlich bedeutet, wäre ethisch gleichbedeutend mit sittenwissenschaftlich. Daher sind moralische Auffassungen ethische Themen, die untersucht, bewertet und hinterfragt werden müssen.
 

4.

Speziell die Medienethik kann sich nicht in der individuellen Ethik erschöpfen, welche die Verantwortung ganz an den Rezipienten abgibt. Vielmehr ist gerade die Verantwortung der Medienproduzent*innen ein wesentlicher Aspekt. Dabei ist es nicht ratsam, die Grundlagen der Medienethik lediglich an eine spezifische Organisation (etwa den Deutschen Presserat, die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft oder die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen etc.) abzutreten und sich – in welcher Position auch immer – weitgehend frei von ethischen Problemen zu begreifen. Jeder Moment des medialen Produktionsprozesses ist für Fragen von Verantwortung relevant. Andererseits sollte die Bemühung um verantwortungsbewusstes Handeln nicht dazu führen, die Kompetenz und Mündigkeit etwa der Rezipient*innen grundsätzlich infrage zu stellen und eine Art Vorzensur vorzunehmen. Dabei ist ein Handeln nach grundlegenden Prinzipien gefragt, die sich vor allem der Wahrheit und Transparenz in der Medienproduktion sowie der Achtung dem Kommunikationspartner, etwa dem Publikum, gegenüber verpflichtet sehen.

Zensur ist eine Handlungsanweisung oder besser gesagt ein Handlungsverbot, das meist auf moralischer Basis gefordert wird, jedoch ethisch höchst zweifelhaft ist, da der Zensurwunsch einen bestimmten Wertekanon verabsolutieren möchte und andere Prinzipien diesem Wertekanon autoritär unterordnet. In einem demokratischen System wird Zensur prinzipiell abgelehnt, doch können Grenzen der Handlungs- und Meinungsfreiheit diskutiert werden, sofern ethisch überzeugend argumentiert werden kann, dass so existenzieller Schaden abwendbar wäre. Es ist auffällig, dass Zensurdebatten häufig anlässlich von Medieninhalten geführt wurden und werden, sodass die Medienethik als Bereich der praktischen Philosophie sowohl für die Medien­praxis als auch für die Medientheorie relevant ist.
 

5.

Warum sind es gerade filmische Inhalte, die zum Gegenstand moralischer Zensurdebatten werden? Das Medium des narrativen Films ist eine künstlerische Ausdrucksform der audiovisuellen Bewegtbildproduktion, die eine mitunter lebensnah anmutende Welt vor dem Publikum entstehen lässt. Audiovisuelle Reize werden sehr unmittelbar sinnlich wahrgenommen und können – wie die Neurowissenschaft teilweise belegen konnte – im Moment der Rezeption nicht unbedingt von real erlebten Ereignissen unterschieden werden. Ein naives Publikum reagiert auf die Simulation des Films also affektiv und impulsiv, mit einem hohen Maß an Emotionen. Die filmische Narration, das Einbinden der simulierten Ereignisse in eine nachvollziehbare Geschichte, kommt unserem Denken in sinngebenden Kontexten entgegen. Als später Erbe der mythischen Lagerfeuererzählung ist der narrative Spielfilm also befriedigende Sinngebung und sinnliche Provokation zugleich (Stiglegger 2006, S. 26 ff.).

In seiner recht kurzen Genese seit 1895 hat der Film Strukturen der Vereinnahmung, Manipulation und Verführung entwickelt, die sich sehr unterschiedlich nutzen lassen: als eskapistische Unterhaltung, als engagiertes Kunstwerk oder gar als ideo­logische Propaganda. Diese seduktive Vieldeutigkeit hat einen Teil der modernen Gesellschaften von jeher verunsichert, und die Zensurdebatten der bildenden Kunst und der Literatur setzten sich mit vielfacher Energie in der Filmdebatte fort. Dabei ist zu bedenken, dass sich die moralischen Wertesysteme sei 1895 mitunter stark verändert haben. Während man erst sehr spät Tierschutz in Filmproduktionen bedachte, war die Debatte um den nackten Körper sehr früh präsent und führte zu einer Koexistenz offizieller Kommerzproduktion und Undergroundfilmkultur, zu der auch die Produktion früher Pornografie zählte, die der Zensur buchstäblich im Hinterzimmer entging. Allerdings wurden auch bereits in der Stummfilmära medienethische Debatten geführt: So erntete David Wark Griffiths The Birth of a Nation (1915) mit seiner unverhohlenen Ku-Klux-Klan-Propaganda bereits in seiner Entstehungszeit massive Proteste, was u.a. zu Griffiths Folgefilm mit dem Titel Intolerance (1916) führte, der ethische Themen der Menschheitsgeschichte deutlich verantwortungsvoller beleuchtete. Aus gegenwärtiger Perspektive ist es allerdings sehr erschreckend, welche Mittel Griffith für einen zweifellos rassistischen Film mobilisieren konnte. Medienethisch erfordert die Diskussion dieses spezifischen Films, der filmästhetisch von großem Einfluss war, eine umfassende Einbettung in den Zeitkontext und eine Beleuchtung der Rezeptionsgeschichte. An diesem Punkt lässt sich auch die große Bedeutung der Filmgeschichtsschreibung betonen, denn wie aus der allgemeinen Historiografie lässt sich auch im filmischen Bereich vieles über die damalige Zeit, die Probleme und Werte der Gesellschaft lernen. Dazu kommen Aspekte der Filmsoziologie mit Blick auf die Darstellung von „race“, „class“ und „gender“. Mit dem Filmkritiker und -theoretiker Siegfried Kracauer (1985, S. 371 ff.) kann man vom Film als einem gesellschaftsseismografischen Medium ausgehen, das seinen Entstehungskontext vielschichtig reflektiert.

Eine Entsprechung zu diesen filmhistorisch basierten ethischen Fragestellungen stellt die Diskussion um die deutschen „Vorbehaltsfilme“ dar. Dabei geht es um die Frage, wie schädlich die Rezeption nationalsozialistischer Propagandafilme und ideologisch gefärbter Spielfilme heute noch ist. Das reicht von drastisch antisemitischen Hetzfilmen wie Der ewige Jude (1940) von Fritz Hippler über vermeintliche Dokumentarfilme wie Triumph des Willens(1935) von Leni Riefenstahl bis hin zu subtiler codierten Melodramen wie Opfergang (1944) von Veit Harlan. Auch hier ist eine historische Kontextualisierung Voraussetzung einer zeitgemäßen Rezeption.
 

6.

Die Rezeption historischer Filme kann durchaus aus zeitgemäßer Perspektive neu durchdacht werden, doch wäre es wenig produktiv, Kunstwerke früherer Jahrzehnte oder Jahrhunderte einfach nach gegenwärtigen Standards zu bewerten und gegebenenfalls zu ignorieren, weil sie gegenwärtigen Werten widersprechen mögen. Das wäre so, als gliederte man bestimmte historische Ereignisse aus der Geschichtsschreibung aus, weil sie weltanschaulich bedenklich erscheinen. Im Gegenteil: Es ist gerade wichtig, den Blick auf die unangenehmen Aspekte der Vergangenheit zu richten, um daraus für die Gegenwart zu lernen. Es ist also nicht wünschenswert, ideologisch fragwürdige und doch einflussreiche Filme wie The Birth of a Nation oder Jud Süß (1940) von Veit Harlan aus dem Kanon auszugliedern. Vielmehr sind sie einer umso intensiveren kritischen Neubetrachtung zu unterziehen, die den historischen Kontext produktiv einbezieht.
 

7.

Film ist Simulation und Form. Selbst in seiner dokumentarischen Form kann Film nicht deckungsgleich mit der Realität betrachtet werden. Die Gewalt eines Actionthrillers hat mit realer Gewalt ebenso wenig gemein wie die keimfreie Sexualität einer Hollywoodromanze oder die Akrobatik eines Hardcorefilms mit alltäglicher Erfahrung. Gewalt und Sexualität sind Ausdrucksformen filmischer Grammatik und sollten als solche verstanden und gelesen werden. Die Reduktion dieser Ausdrucksformen auf die zweidimensionale Vermittlung im Film schafft eine Distanz, die es dem Publikum ermöglicht, in der Realität unerträgliche Phänomene ohne physische Konsequenzen zu bezeugen und symbolisch mitzuerleben. Siegfried Kracauer betrachtete die Filmprojektion metaphorisch als „Medusas Spiegelbild“ (ebd., S. 395 f.). Auf der Leinwand können wir der (realen) Massentötung von Tieren (in Das Blut der Tiere [1949] von Georges Franju) ebenso beiwohnen, wie wir mit dem Protagonisten von Der Junge im gestreiften Pyjama (2008) von Mark Herman die Gaskammer von Auschwitz betreten. All das ist auf der Leinwand denkbar und wäre im realen Leben unerträglich oder fatal.

Film konfrontiert uns mit symbolischen Grenzerfahrungen, die nicht mit realen, existenziellen Erfahrungen verwechselt werden sollten. Der Zensurimpuls basiert auf einer mutwilligen Verwechslung von Inszenierung, Simulation und Realität. Statt vor dem simulierten Grauen zu flüchten, gilt es, die filmischen Ausdrucksformen, zu denen auch die scheinbar explizite Darstellung von Sexualität, Gewalt und Tod gehört, verstehen und gegebenenfalls selbst umsetzen zu lernen. Einen Film zu drehen, erfordert ethische Überlegungen – ebenso wie eine reflektierte Filmrezeption. Und eine ethische Reflexion sollte nicht auf Basis einer verabsolutierten persönlichen Moral erfolgen.
 

8.

Film zu studieren, bedeutet, Film als Kunstform ernst zu nehmen und nicht auf einen Aspekt der risikofreien Unterhaltung zu reduzieren. Film kann uns mit ethischen Herausforderungen und philosophischen Grundfragen konfrontieren, die unser Alltag nicht bereithalten mag. Und so kann Film als Bildungsmedium betrachtet werden, an dem wir unsere Kompetenzen erproben und weiterentwickeln. Als Filmrezipient*in hat man die Möglichkeit, sich symbolisch mit Grenzbereichen des Lebens auseinanderzusetzen (Krieg, Verlust, Abschied, Tod, Krankheit, Verrat), ohne unter den existenziellen Konsequenzen zu leiden. Daran ist es möglich, zu wachsen, die eigene Kompetenz auszuprägen, sich über den Umweg der Medienerfahrung auch mit sich selbst auseinanderzusetzen.
 

9.

Im akademischen Diskurs wird immer wieder gefordert, „Trigger-Warnungen“ auszusprechen, wenn es um extreme filmische Ausdrucksformen geht. Solche Warnungen vor plötzlichen Schock­erfahrungen sollen die Möglichkeit eines präventiven Entziehens aus der sinnlich-affektiven Einflusssphäre des Filmwerkes gestatten. Doch Film ist keine „safe zone“, im Gegenteil: Film arbeitet ganz vorsätzlich mit überraschenden, schockierenden, ­provokativen und belastenden Ausdrucksformen, sie sind Teil seiner medialen Grammatik. Auch die Unberechenbarkeit dieser Ausdrucksformen gehört zum Filmerleben. Wer also analytisch oder selbst kreativ mit filmischen Ausdrucksformen umgehen möchte, sollte mit diesen Ausdrucksformen vertraut sein. Es kann nicht nur um die „angenehme Erfahrung“ gehen.

Der Begriff „Trigger“ ist der Psychotherapie entlehnt und bezeichnet den Auslöser einer Retraumatisierung von Menschen mit realen traumatischen Schockerlebnissen. Solche Auslöser können im Grunde alles sein: Gerüche, Gegenstände, Farben etc. Bei einer filmbezogenen „Trigger-Warnung“ soll es jedoch eher darum gehen, allzu überraschende oder schockierende Momente zu vermeiden. Was darunter zu verstehen ist, ist jedoch hochgradig subjektiv. Am ehesten entspricht dem z.B. die „content warning“, die auf US-amerikanischen Tonträgern vor „explicit language“ warnt. Es ist also denkbar, sich vorab zu informieren, was in einem Film zu erwarten ist, um subjektiv zu entscheiden, wie man möglicherweise darauf reagiert. Eine professionelle Beschäftigung mit dem Medium setzt jedoch eine grundsätzliche Offenheit in der Beschäftigung mit dessen genuinen Ausdrucksformen voraus, selbst wenn diese subjektive Grenzen berühren.
 

10.

Wenn man sich professionell mit dem Medium Film beschäftigen möchte, praktisch oder theoretisch, sollte man gewillt sein, sich dessen ethischen Herausforderungen zu stellen und auf diese Weise die eigene Medienkompetenz und Filmbildung auszuprägen. Die filmische Simulation sollte dabei nicht mit der Realität selbst verwechselt und der Film wiederum nicht automatisch affirmativ zu seinem Thema interpretiert werden. Ein Film über Rassismus etwa ist nicht automatisch „rassistisch“, auch wenn hier entsprechende Situationen inszeniert werden. Und einen Film angemessen zu analysieren, den man nicht komplett gesehen hat, ist kaum möglich. Die Qualität eines Films korreliert nicht mit dem subjektiven Geschmack oder dem subjektiven momentanen Empfinden. Die analytische Betrachtung von Filmen setzt voraus, dass man trainiert, subjektives Erleben während der Rezeption mit einer reflektierenden Selbstbeobachtung zu koppeln und diese Beobachtungen in die Analyse einfließen zu lassen. Dieser Vorgang setzt eine Ambiguitätstoleranz voraus: d.h., auch persönlich nicht favorisierte Aspekte und Positionen zuzulassen, zu durchdenken und zu kontextualisieren.

Das Sprechen über Filmerfahrung sollte also die Moralisierung vermeiden und aktiv nach einem ethisch ausgehandelten Diskurs suchen. Es geht nicht darum, subjektive Werte auf den Film anzuwenden und ihn daraufhin zu überprüfen, sondern sich umgekehrt zu fragen: Was weiß der Film, das ich nicht weiß? Welche Erfahrung vermittelt der Film ungeachtet meiner Erwartungen? Wie kann ich das Erfahrene kontextualisieren?

Im filmanalytischen Diskurs wird es zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen – dabei ist es wichtig, diese anderen Perspektiven grundsätzlich zuzulassen. Subjektive Befindlichkeit und eigene Moral sollten nicht zu einem universalen Maßstab erhoben werden, da dies das potenzielle Ende des Diskurses bedeuten kann. Ideologische und dogmatische Positionen fördern identitäre Positionen und verhindern einen Erkenntnisprozess, der als dynamische Aushandlung begriffen werden sollte. Die diskursive und reflektierende Beschäftigung mit Film ist eine Herausforderung, die vor allem im professionellen Kontext sehr fruchtbar sein kann und das eigene Denken erweitert. Diese Chance sollten wir ergreifen: herauszufinden, was das Kino weiß, das wir (noch) nicht wissen …
 

Literatur:

Kracauer, S.: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1985

Leschke, R.: Einführung in die Medienethik. Stuttgart 2003

Reiner, H.: Ethik. Eine Einführung. Oberried 2010

Scherenberg, P.: Kritische Medien-Wahrnehmung. Grundlegung einer praktischen Medien-Ethik. Hamburg 2006

Sorgner, S. L.: Grundlagen der Medienethik. In: N. Knoepffler/P. Kunzmann/I. Pies/A. Siegetsleitner (Hrsg.): Einführung in die Angewandte Ethik. Freiburg im Breisgau 2006, S. 135 –154

Stiglegger, M.: Ritual & Verführung. Schaulust, Spektakel und Sinnlichkeit im Film. Berlin 2006