Fernsehen: durch die Augen direkt in den Bauch

Wie Medienbilder Emotionen erzeugen

Dorothea Adler, Frank Schwab

Film und Fernsehen bewegen uns nicht nur aufgrund der zugrunde liegenden Story, vielmehr löst bereits das Bildmaterial in uns Emotionen aus. Aufgrund von Bildkomposition und Perspektivenwahl bietet das Bild seinem Betrachter diverse Interpretationsangebote, die mit emotionalen Reaktionen beantwortet werden. Inwieweit Bilder dazu in der Lage sind und inwieweit die Evolution unseres kognitiven Apparats dafür verantwortlich ist, wird in folgendem Beitrag erläutert.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 1/2018 (Ausgabe 83), S. 32-37

Vollständiger Beitrag als:

Emotionalisierende Bilder – wie man den Zuschauer bewegt

Der kleine tote Flüchtlingsjunge Aylan Kurdi am Strand in den Nachrichten (2015) – Entsetzen. Jack und Rose am Bug der Titanic (USA 1997) – Freude. Amon Göth schießt auf Juden in Schindlers Liste (USA 1993) – Verachtung. Samara Morgan kriecht aus dem Fernseher in The Ring (USA/Japan 2002) – Furcht. Film und Fernsehen lösen in uns Emotionen aus. Wir lassen uns von dem, was auf der Leinwand oder dem Bildschirm passiert, mitreißen oder nehmen die Perspektive eines bestimmten Protagonisten in einer Story ein, fühlen mit ihm und sind von der Szenerie vollkommen eingenommen. Aber auch andere durch Medien vermittelte Ereignisse werden von uns durch emotionale oder moralische Urteile bewertet. Sie lösen Entrüstung aus, versetzen uns moralisch in Zorn oder in vollste Demut und Dankbarkeit.

Grund hierfür ist, dass unser Geist bzw. kognitiver Apparat das Ergebnis eines jahrtausendelangen evolutionären Anpassungsprozesses in einer Welt ist, in der moderne Medientechnologien – wie wir sie heute kennen – so noch nicht existierten (Tooby/Cosmides 2008). Die überlebenswichtigen mentalen und körperlichen Mechanismen unserer Vorfahren, der Jäger und Sammler, greifen jedoch noch heute (ebd.) – auch im Umgang mit Medien. Daher reagieren Menschen auf mediale Inhalte zumindest in Teilen sehr ähnlich wie auf reale Ereignisse (Schwab/Unz 2011). Was auf dem Bildschirm passiert und in bewegten oder unbewegten Bildern gezeigt wird, löst in uns emotionale Reaktionen aus. Wir freuen uns mit dem Biest, als er seine Belle bekommt (Die Schöne und das Biest [USA 2017]), fürchten uns vor Pennywise in Es (USA/CAN 2017) oder ekeln uns vor der alten, entstellten Frau in der Badewanne in Shining (GB/USA 1980). Aber auch reale Ereignisse – in Nachrichten oder Dokumentationen dargestellt – werden von uns mit teilweise starken Gefühlen beantwortet. Emotionalisierende Bilder beeinflussen unser Spendenverhalten, unseren Konsum und unsere politischen Entscheidungen sowie Einstellungen. Unbestritten ist, dass Emotionen ein zentraler Bestandteil der Film- und Medienrezeption sowie -nutzung sind.
 


Emotionen – immer gleich und doch stets anders

Will man die Wirkung von Bildern auf die Emotionen des Rezipienten näher beleuchten, muss man zunächst das Blickfeld auf den Begriff der Emotion richten. Dabei ist sie weitaus mehr als „nur ein Gefühl“, sondern wird durch zahlreiche Charakteristika definiert: Sie ist 1) subjektiv, baut auf 2) kognitiven Urteilen auf, wird 3) körperlich erlebt und 4) hat meist einen spezifischen Ausdruck sowie 5) eine motivationale Neigung als Folge (Rothermund/Eder 2011). Ausgelöst wird dabei eine Emotion von einem bestimmten Ereignis – sei es real oder medial vermittelt. Teilweise erleben wir das Gesehene regelrecht mit, beurteilen es individuell unterschiedlich und sortieren es gleichfalls verschieden ein. Wir spüren Schmetterlinge im Bauch oder haben ein unangenehmes Bauchgrimmen – je nachdem, wie unsere Urteile ausfallen. Die Urteilsdimensionen sind recht ähnlich (etwa: Neuartigkeit, Angenehmheit, Relevanz, Bewältigungsfähigkeit, Fairness oder Normverträglichkeit), unterschiedlich sind jedoch die subjektiven Einschätzungen.

Gerade Bilder können intensive emotionale Reaktionen hervorrufen, da sie weniger Übersetzungsleistungen bedürfen. Denkt man an Filmmotive, die das Publikum besonders mitgerissen haben, kommen einem sofort klassische Bilder der Filmgeschichte in den Kopf – von Jack und Rose auf dem Bug der Titanic, die Szene aus Star Wars (USA 1980) zwischen Luke und Darth Vader, aber auch Nachrichtenbilder bringen uns zum Nachfühlen. Wir zeigen Verachtung für die Akteure eines Skandals und verurteilen weltpolitisches Geschehen. Wegen der Unfairness reagieren wir mit moralischem Ärger. Bilder wirken aber auch aufgrund der zugrunde liegenden Story. So kann man sich das Grauen und das Elend der Geschichte hinter dem Bild des ertrunkenen Flüchtlingsjungen (2015) erschließen. In unserer Vorstellung wird es die meisten von uns emotional tief bewegen. Aber auch die Bildinszenierung des kleinen leblosen Körpers in der Totalen am menschenleeren Strand, in kalten Farben gehalten, verstärkt unsere emotionalen Einordnungen, Interpretationen und auch körperlichen Reaktionen. Diese Emotionen wiederum orchestrieren – wie ein Dirigent – alle kognitiven Subroutinen der weiteren mentalen Verarbeitung.
 


Emotionale Bildinszenierung und Kamerasprache

Ein entscheidendes Charakteristikum von Film und Fernsehen ist, dass wir die sichtbare Szenerie nur begrenzt explorieren können. Denn was wir im Film zu sehen bekommen, ist bereits stark vorselektiert. So kann die Kamera als der bildende Rahmen angesehen werden, durch den wir die Szenerie betrachten (Schwab/Unz/Winterhoff-Spurk 2005). Die Kamerahandlung bestimmt allerdings nicht nur, welche Perspektive wir sehen, sondern auch die Eingebundenheit und Distanz des Zuschauers zum medial vermittelten Geschehen. All das hat einen Einfluss darauf, wie wir die Szene wahrnehmen und bewerten (ebd.). Um beispielsweise Spannung beim Betrachter aufzubauen, werden Protagonisten gezielt in den Fokus gerückt, Objekte oder Informationen weggelassen und auch perspektivische Verzerrungen vorgenommen (Mikunda 2002). Selbst die Kamerabewegung ist intendiert und beeinflusst die Wirkung des Bildes. So kann beispielsweise ein schneller und kraftvoller Schwenk der Kamera als ein aggressives Signal wahrgenommen werden und dadurch Spannung verstärken (ebd.). Unterhaltungs- und Informationsmedien bilden die Welt eben nicht ab, sie inszenieren sie und liefern mit der Inszenierung (emotionale) Interpretationsangebote. Wenn man so will Vorschläge, wie man etwas emotional „verstehen“ und welche subjektive Sichtweise man einnehmen soll (Schwender 2011). Ein weiteres Beispiel für einen geschickten Einsatz der Kamera ist das Mittel der Einstellungsgröße zur Erzeugung von Nähe und Distanz zu Protagonisten. Die Psychologie beforscht das – außerhalb der Medien – unter dem Schlagwort „Proxemik“. So sind Darsteller in der Totalen meist nur aufgrund charakteristischer Merkmale – wie z.B. Kleidung – zu erkennen, während Nahaufnahmen ein Gefühl von Intimität beim Betrachter erzeugen können. Die Einstellungsgröße kann dem Rezipienten auch etwas über das Verhältnis der Darsteller zueinander verraten (ebd.). Ein Beispiel hierfür liefert die Szene in Jerry Maguire – Spiel des Lebens (USA 1996). Als Jerry seiner Ehefrau in Anwesenheit ihrer tratschenden Freundinnen seine Liebe bekräftigt, werden durch eine geschickte Bildführung die Nähe und Intimität von Ehemann und Ehefrau dargestellt, obwohl diese sich an unterschiedlichen Stellen im Raum aufhalten.
 

Gefühlvolle Nahaufnahmen und andere visuelle Verstehensangebote

Besondere Bedeutung haben Nahaufnahmen des menschlichen Gesichts, wobei die Mimik als eine Art Fenster zu der Psyche des anderen angesehen werden kann. Denn durch sie kann sich eine Person, indem sie kleinste emotionale Regungen vermittelt, anderen ganz ohne Worte öffnen (Schwab/Unz 2011). In der Forschung wird dabei angenommen, dass der mimische Ausdruck eine biologische Basis besitzt, da u.a. spezifische Emotionen kulturübergreifend gezeigt und erkannt werden (ebd.). Das Signalisieren und Erkennen des emotionalen Zustandes war für unsere Vorfahren von zentraler Bedeutung. Empfand beispielsweise jemand Angst, diente dies den anderen als Signal von Gefahr (Tooby/Cosmides 2008). Durch das richtige Einordnen des Gefühls von Angst konnten somit auch andere Mitglieder der Gruppe in Alarmbereitschaft versetzt werden, soziale Gruppen konnten sich so emotional synchronisieren und motivational aneinander ausrichten. Emotionen waren und sind also auch für den Aufbau und Erhalt sozialer Beziehungen von Bedeutung (Fischer/Manstead 2007). Liebevolle Gefühle rufen beispielsweise in uns ein Bedürfnis nach Nähe hervor, Freude führt dazu, dass wir positive Erlebnisse miteinander teilen möchten. Weiter helfen uns Emotionen aber auch, uns innerhalb eines sozialen Gebildes zu positionieren und von anderen abzugrenzen (ebd.). So führt beispielsweise die Angst vor einer Person tendenziell dazu, dass wir uns von dieser distanzieren möchten, Verachtung geht mit dem Wunsch einher, dass die Person aus unserer sozialen Gruppe ausgeschlossen werden soll (ebd.). Diese evolvierten Mechanismen nutzt der Regisseur, aber auch der Fotograf geschickt für ein emotionales Film- und Bilddesign und der Schauspieler kann durch sein schauspielerisches Talent den Rezipienten von seinem scheinbaren emotionalen Befinden überzeugen. Erinnern wir uns daran zurück, dass wir – insbesondere, wenn wir in eine Geschichte eintauchen – medial vermittelte Ereignisse ähnlich zu realen Ereignissen verarbeiten. Je nachdem, ob der Zuschauer nun einen Protagonisten sympathisch oder unsympathisch findet, werden entsprechende empathische oder weniger empathische Gefühle (man hofft das Beste für ihn versus man wünscht ihm alles Unheil) auch bei ihm ausgelöst – ähnlich wie bei sozialen Beziehungen in unserem realen Leben. Wir fühlen mit dem Protagonisten, wenn wir ihn mögen – und umgekehrt funktioniert das auch, wenn der Darsteller als unsympathisch eingestuft wird. Da die Emotionen aber medial vermittelt und als nicht authentisch eingestuft werden, spricht man in beiden Fällen von Kommotion bzw. Mit-Emotion (Scherer 1998). Und diese wird insbesondere durch die Darstellung des mimischen Ausdrucks vermittelt. Nicht ohne Grund werden hochemotionale Szenen durch Nahaufnahmen des Gesichts hervorgehoben. Denn dies ruft neben dem oben beschriebenen Gefühl der Intimität auch starke Emotionen hervor, indem wir die Mimik des Protagonisten entschlüsseln. Man denke nur an die Szene in The Green Mile(USA 1999) kurz vor Johns Hinrichtung. Durch die nahen Aufnahmen der Gesichter aller Beteiligten wird die Trauer der Protagonisten direkt ersichtlich und für den Rezipienten spürbar. Auch ein Zuschauer, der erst zu dieser Szene einschaltet, wird sich der Beziehung und Gefühle aller Beteiligten – auch ohne Worte – bewusst.
 


Emotionalisierende Bilder – wie Medieninszenierungen Unsere Emotionen parasitieren

Allerdings lässt sich die emotionale Wirkung eines Bildes nicht hundertprozentig vorhersagen. Die Zuschauer sind keine biologisch determinierten Äffchen, die auf einen Stimulus immer gleich reagieren (das tun noch nicht einmal die Äffchen). Wie das Bild auf uns wirkt, ist auch von unserer individuellen Verfassung abhängig (Schwab/Unz 2011): Welche Normen habe ich? Was habe ich bereits erlebt? Wie mächtig und kompetent erlebe ich mich? Etc.). Und inwieweit uns eine Medienakteurin oder ein Medienakteur sympathisch oder unsympathisch erscheint, ist auch nicht immer gleich – man denke nur an Mr. White aus Breaking Bad oder verschiedene Politikerinnen und Politiker. Halten wir fest: Medien und Medienschaffende parasitieren unsere archaischen kognitiven Mechanismen, die für die Entstehung von Emotionen zuständig sind. Etwa durch eine geschickte Bildkomposition und/oder überzeugende schauspielerische Leistung und/oder eine geschickte Inszenierung kann man emotionale Urteile teilweise lenken. Hin und wieder gehen wir da gerne mit und genießen es, ein wenig verführt und unterhalten zu werden, ab und an aber fühlen wir uns auch bedrängt und gesteuert und reagieren erneut – ganz emotional – auf diese Übergriffe. Das Zitat aus dem Titel „Fernsehen: durch die Augen direkt in den Bauch – unter Auslassung des Kopfes“ von Günter Gaus stimmt eben doch nur so halb. Zum einen ist unser Kopf stets involviert, zum anderen ist das „direkt“ kaum haltbar angesichts der vielen vermittelnden emotionalen Urteilsprozesse, die unseren Gefühlsregungen zugrunde liegen.
 

Literatur:

Fischer, A. H./Manstead, A. S. R.: Social Functions of Emotion. In: M. Lewis/ J. M. Haviland-Jones/L. Feldman Barrett (Hrsg.): Handbook of Emotions. New York 20073, S. 456‑468
Mikunda, C.: Kino spüren. Strategien der emotionalen Filmgestaltung. Wien 2002
Rothermund, K./Eder, A.: Motivation und Emotion. Wiesbaden 2011
Scherer, K. R.: Emotionsprozesse im Medienkontext: Forschungsillustrationen und Zukunftsperspektiven. In: Medienpsychologie, 4/1998/10, S. 276‑293
Schwab, F./Unz, D.: Untersuchung der mimischen Kommunikation: Das Facial Action Coding System als Forschungsmethode. In: T. Petersen/C. Schwender (Hrsg.): Die Entschlüsselung der Bilder. Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation. Ein Handbuch. Köln 2011, S. 223‑245
Schwab, F./Unz, D./Winterhoff-Spurk, P.: MEDIASCOPE – Ein System zur Inhaltsund Formalanalyse medialer Angebote. In: Zeitschrift für Medienpsychologie, 17/2005, S. 110‑117
Schwender, C.: Bewegtbildanalyse. In: T. Petersen/Ders. (Hrsg.): Die Entschlüsselung der Bilder. Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation. Ein Handbuch. Köln 2011, S. 87‑101
Tooby, J./Cosmides, L.: The evolutionary psychology of the emotions and their relationship to internal regulatory variables. In: M. Lewis/J. M. Haviland-Jones/L. Feldman Barrett (Hrsg.): Handbook of Emotions. New York 20073, S. 114‑137

Dorothea Adler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Medienpsychologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

Dr. Frank Schwab ist Professor für Medienpsychologie am Institut Mensch-Computer-Medien der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.