Fake News

Neue Forschungen zu einem uralten Phänomen

Clemens Schwender

Dr. Clemens Schwender ist Professor für Medienpsychologie und Mediengeschichte.

Auf der Jahrestagung der International Communication Association (ICA), die im Mai 2019 in Washington D.C. stattfand, wurde ein Thema besonders intensiv behandelt. 13 Sessions und 90 Vorträge haben das Stichwort „Fake News“ im Titel. Nimmt man die Begriffe „Desinformation“, „Lüge“, „Verschwörung“ und „Gerücht“ hinzu, kommt man auf deutlich über 100 Nennungen in den Beiträgen. Bei der Jahrestagung 2011 in Boston gab es keine zehn Jahre zuvor nur einen einzigen Vortrag mit dem Stichwort „Fake News“. Das Schlagwort „Propaganda“ wurde auf dieser Tagung meist in historischem Kontext zwischen den beiden Weltkriegen und dem Kalten Krieg thematisiert. Auf der Tagung kürzlich in Washington sind die historischen Bezüge in der Minderheit, dafür treten aktuelle Zusammenhänge wie „islamistisch“, „russische Nachrichten-Websites“ oder sogar „die Bundestagswahl in Deutschland“ in den Vordergrund.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 3/2019 (Ausgabe 89), S. 32-36

Vollständiger Beitrag als:

Neue Forschungen zu einem uralten Phänomen

Falschmeldungen und Medienfälschungen sind nichts Neues. Man denke an die TV-Beiträge von Michael Born, der Mitte der 1990er-Jahre immerhin wegen Betrugs für diverse Fälschungen verurteilt wurde; oder an die Fantasie-Rhetorik des irakischen Informationsministers, der 2003 angesichts von US-amerikanischen Panzern in Bagdad unbeirrt sagte: „Es gibt keine amerikanischen Ungläubigen in Bagdad. Niemals!“ Der Zweite Weltkrieg begann mit der Lüge, dass Polen das Deutsche Reich angegriffen hätte. Alles nichts Neues also?
 

„Na – hat’s geschmeckt?“

Kommunikation – das wird an den Beispielen deutlich – ist immer strategisch. Sie verfolgt eine Absicht, nämlich die Lenkung der Angesprochenen, etwas zu tun, zu lassen, oder ein positives Bild über den Urheber der Nachricht zu erzeugen. Bei der Berichterstattung über Ereignisse ist nicht nur dem Gedächtnis, sondern auch der subjektiven Sicht- und Darstellungsweise zu misstrauen. Das wusste schon der griechische Geschichtsphilosoph Thukydides:

Mühsam war diese Forschung, weil die Zeugen der einzelnen Ereignisse nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern je nach Gunst oder Gedächtnis.“

Es ist nicht nur böser Wille, der Lügen entstehen lässt. Bisweilen ist es angebracht, die Wahrheit zu verschweigen. Stellen Sie sich vor, Sie sind zum Essen eingeladen und die Schwiegermutter fragt: „Hat’s geschmeckt?“ Lüge ist ein natürlicher Bestandteil zwischenmenschlicher Kommunikation und muss insofern ein Teil der Kommunikationsforschung sein: Lügen zwischen Interessen und Intentionen, zwischen privat und öffentlich, zwischen Formulierung und Entdeckung. Ein guter Lügner braucht eine Vorstellung von dem, was das Gegenüber weiß und wissen kann. Zuhörer brauchen Merkmale für Glaubwürdigkeit. Sie können Aussagen für würdig erachten, dass sie diese glauben. Dies nimmt die Rezipienten in die Pflicht. In vielen Fällen bleibt dennoch nur das Vertrauen auf die Lauterkeit.

In der Werbung darf man nicht alles für wahr nehmen. So gehen Gerichte davon aus, dass ein verständiger Bürger davon ausgehen muss, dass die Einnahme eines Getränks keine Flügel verleiht. In der Werbung darf man ungestraft flunkern. Auch Eltern lügen ihre Kinder an, wenn sie ihnen erzählen, das Christkind würde Geschenke bringen. Man kann davon ausgehen, dass derartige Täuschungen zum Kulturgut gehören und keine andauernden psychischen Entwicklungsschäden nach sich ziehen.

Insofern wundert es höchstens, dass man sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bislang relativ wenig um individuelle und kollektive Wahrheitskonstruktionen gekümmert hat. Wirklichkeit ist nicht die Voraussetzung für Kommunikation, sondern deren Folge.

„Du sollst nicht lügen!“ ist ein Grundsatz der Erziehung. Wo immer das herkommt – in der Bibel steht es nicht. In der Lutherübersetzung heißt es stattdessen:

Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“

Das bezieht sich ausschließlich auf gerichtliche Falschaussagen. Die Lügen im Alltag betrifft dieser Satz nicht.

Allerdings gibt es einen Bereich, der sehr sensibel für Informationen und Tatsachenbehauptungen ist: Börsen handeln mit Zukunft. Das braucht Informationen. Und wo es keine gibt, werden bisweilen Gerüchte gestreut. Welche Informationen soll man glauben, wenn es zu viele und z.T. sich widersprechende gibt? Aus der Entscheidungspsychologie ist bekannt: Man entscheidet sich für das, was man subjektiv am ehesten glaubt. Und man glaubt das, was einem hilft.
 


Börsenteilnehmer brauchen schnelle Informationen, schneller als die Konkurrenz. Und so kann man nicht immer warten, bis und ob sich der Wahrheitsgehalt einer Aussage bestätigt. Untersuchungen in diesem Zusammenhang konnten zeigen, dass sich in den 20 Handelstagen vor der offiziellen Bestätigung eines Gerüchts eine Kurssteigerung von 7,5 % findet. Gerüchte, die sich später als wahr herausstellten, lösten eine stärkere Kurssteigerung aus als solche, die sich als falsch erwiesen. Möglicherweise sind Lügen hier ein Motor für selbsterfüllende Prophezeiungen. Zeit ist Geld. Rational macht es Sinn, an der Börse früh dabei zu sein. Im mittleren Abschnitt kann es auch rational sein, da Entscheidungen dann besser einzuschätzen sind. Stress beruht vor allem auf dem hohen Zeitdruck, weil Gerüchte wegen ihrer enormen Verbreitungsgeschwindigkeit oft Anlageentscheidungen binnen Minuten erfordern. Gerüchte – so ihre Definition – sind nicht bestätigte Informationen. Noch ist nicht zu erkennen, ob sie auf Wahrheit beruhen oder ob es sich um gezielte Falschmeldungen handelt. Rechtlich relevant sind Lügen im Zusammenhang mit Insiderhandel. Die heutige Rechtslage regelt diese ökonomisch sensible Lage: Das Anlegerschutzverbesserungsgesetz (AnSVG) hat den Begriff der Insidertatsache durch den der Insiderinformation ersetzt. Darunter versteht § 13 Abs. 1 Satz 1 des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) eine konkrete Information über nicht öffentliche Umstände, die geeignet sind, im Falle ihres Bekanntwerdens den Börsen- oder Marktpreis der Insiderpapiere erheblich zu beeinflussen. Eine solche Eignung ist gegeben, wenn ein verständiger Anleger die Information bei seiner Anlageentscheidung berücksichtigen würde. Und wer hier einer Lüge überführt wird, muss mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Ganz irdisch und ohne Warten aufs Jüngste Gericht.

 

Politische und mediale Veränderungen markieren die Gegenwart

Die Frage nach der aktuell engagierten Beschäftigung bleibt weiter offen. Politische und mediale Veränderungen markieren die Gegenwart. Durch das Internet und vor allem durch das Web 2.0 können traditionelle Nachrichtenanbieter wie Zeitungsverlage und Rundfunkanstalten umgangen werden. Sie sind nicht länger die alleinigen Torwächter zur medialen Welt. Die Akteure – Unternehmen, Politiker und Betroffene – formulieren selbst ihre Anliegen subjektiv und ungefiltert und bieten diese auf allgemein zugänglichen Plattformen an: Facebook, YouTube und Twitter unterminieren die traditionellen Massenmedien. Dies hat Folgen für die politisch Handelnden. Propaganda und Verschwörungstheorien haben es leichter, wenn man den Instanzen, die besonnen mit der Verbreitung von Nachrichten umgehen sollen, ausweichen kann.

Die Tagung in Washington reflektiert diese Umstände. Der Name des US-Präsidenten Donald Trump findet sich 34 Mal in den Ankündigungen der Präsentationen. 2011 kam der Name Obama 18 Mal vor, wobei zu einem Drittel Michelle Obama gemeint war. Desinformation gehört heute mehr oder minder offen zur politischen Strategie. Die Faktenchecker der „Washington Post“ sammelten akribisch und nennen eine Anzahl von über 10.000 Lügen oder missdeutenden Inhalten in Donald Trumps Reden, Interviews und Twitter-Nachrichten. Auch Populisten hierzulande belegen ihre Haltungen durch erfundene Berichte und Meldungen, die die Angst der Bürger schüren, um sie zu Wählerinnen und Wählern der eigenen Partei zu machen.

Das erklärt die Empörung vieler Wissenschaftler. Konnten sie bislang noch weitgehend auf die Berichte des sogenannten Qualitätsjournalismus vertrauen, müssen nun Begriffe wie „Nachrichten“, „Informationen“ und selbst „Wahrheit“ neu gedacht werden. Fragen sind aktuell zu stellen: Wie wird in sozialen Netzwerken Wirklichkeit verhandelt und hergestellt? Was sind Glaubwürdigkeitskriterien unter den Bedingungen widersprechender Fakten, während man gleichzeitig weiß, dass man Likes und Kommentare kaufen kann?
 

Die Quelle, die Botschaft und der Empfänger

Der Reporter Claas Relotius hat für das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ in seinen Arbeiten bis 2018 u.a. Personen erfunden, über die er berichtet hat. Tom Kummer verfasste im Jahr 2000 Interviews mit Hollywoodberühmtheiten, die er nicht getroffen hatte. Der Pulitzer-Preisträger Wayne Biddle untersuchte bereits vor Jahren mit seinen Studierenden an der Johns Hopkins University Strukturen und Sprache von Artikeln, die als erfundene Beiträge bekannt waren. Das Ergebnis überraschte seinerzeit die Forschergruppe: Sie konnten keine Auffälligkeiten bei den stilistischen Merkmalen erkennen, die eine Fälschung hätten offenlegen können.

Es gibt drei Dimensionen, wo die Glaubwürdigkeit erzeugt wird: die Quelle, die Botschaft und der Empfänger. Die Quellen sind die Berichter oder deren Organisationen. Sind es Reporter, schreiben sie über Spektakuläres, was sich ohne allzu großen Aufwand verfassen und gut verkaufen lässt. Sind es Betroffene selbst, stehen bisweilen deren politische oder ökonomische Interessen hinter den Botschaften. Sie streuen Gerüchte, um Stimmungen zu verbreiten, die ihre Anliegen befördern sollen.

Die Gestaltung der Nachricht selbst ist aus medienpsychologischer Sicht wichtig. Hier lässt sich untersuchen, wie Botschaften gestaltet sind, um Glaubwürdigkeit herzustellen. Dabei geht es um die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass eine Aussage als wahr angenommen werden kann, denn eine Gewähr für Wahrheit kann es nicht geben.

Die Quellen selbst lassen sich auf interne und externe Konsistenz prüfen. Stehen Teilbotschaften mit anderen im Widerspruch und bilden sie ein geschlossenes und stimmiges Gesamtbild? Diese Botschaften sind auch mit Fakten anderer Quellen vergleichbar und dürfen mit anerkannten Wahrheiten nicht im Widerspruch stehen.

Zur Überprüfung der Behauptung von Trumps damaligem Pressesprecher Sean Spicer, dass zur Inauguration des Präsidenten die größte Menschenmenge aller Zeiten anwesend war, muss man sie nur mit Fotos anderer Amtseinführungen vergleichen. Eigentlich hat Wikipedia eine hohe Glaubwürdigkeit. Doch auch diese Quelle ist nicht immer fehlerfrei. Karl-Theodor zu Guttenberg hat zehn Vornamen, doch Wikipedia nahm zunächst noch einen weiteren hinzu und führte auch „Wilhelm“ in der Liste auf. Für die Nutzer stellt sich hier das Problem, dass man kaum über das Wissen verfügt oder einen Zugang zu anderen Quellen hat. Das Genealogische Handbuch des Adels hätte helfen können. Aber wer hat das schon? Das Einzige, was bleibt, ist Vertrauen.

Auch der Empfänger bestimmt über den Wahrheitsgehalt einer Nachricht mit. Er überprüft, ob die Aussagen im Widerspruch zu eigenen für wahr gehaltenen Sätzen stehen. Dass Engel eine Angelegenheit erledigen, kann nur angenommen werden, wenn man an die Existenz von aktiv eingreifenden Engeln glaubt. Wenn eine Information ein akutes Problem löst, steigt die Glaubwürdigkeit. Wer z.B. unter Rückenschmerzen leidet, wird Hinweise und Tipps zur Schmerzminderung mit weniger Widerstand aufnehmen.
 

Die Aufgaben der Wissenschaft

Viele Themen der Washingtoner Tagung drehten sich um Fragen des Kontextes der Fake News. Hier ein paar Beispiele: Regionale Besonderheiten wurden präsentiert, die Motivation, unbestätigte Nachrichten selbst weiterzugeben oder ihnen offen entgegenzutreten und Korrekturen vorzunehmen. Können Algorithmen helfen, dubiose Botschaften zu erkennen?

Nicht die Methoden der Beeinflussung durch Lügen sind neu, sondern das Ausmaß, das neue Medien ermöglichen. Insofern muss sich die Wissenschaft mit den alten Mustern beschäftigen und die neuen Bedingungen berücksichtigen.