Eklig, aber faszinierend

Sechs Paradoxien bei der medialen Darstellung sexueller Vielfalt

Jens Förster, Manfred Nussbaum

Sexualität gehört genauso selbstverständlich zum Leben, wie sie tabuisiert wird. Auch was die Darstellung von Sex in den Medien angeht, schwanken Reaktionen zwischen Neugierde, Voyeurismus und Abwehr – bis hin zu Rufen nach Zensur. Kaum ein Thema, so scheint es, ruft derartig paradoxe Reaktionen hervor. Vor allem wenn es um Abweichungen von heterosexuell normierter Monogamie geht, sind diese Paradoxien offenbar. Da erzeugen Themen wie Transsexualität, Sadomasochismus oder Polygamie, um nur einige zu nennen, häufig neugieriges Staunen, aber zugleich Abwehr, Ekel und Scham. Oft besteht zudem ein Spannungsverhältnis zwischen Toleranz und Normen der politischen Korrektheit einerseits und religiösen und traditionellen Werten andererseits. Besonders schwierig wird es, wenn es darum geht, was Jugendliche wissen sollten und dürfen und wie abweichendes, aber legales Verhalten bewertet wird. Mit welchen Spannungen werden wir diesbezüglich konfrontiert?

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 4/2020 (Ausgabe 94), S. 44-49

Vollständiger Beitrag als:

 

Neuere Formate im TV (Prince Charming, Queen of Drags) haben das Thema „sexual diversity“ für sich entdeckt und stellen Menschen vor, die – zumindest statistisch – eine nicht normative sexuelle Identität oder Orientierung haben. Zudem klären sie über „bizarre“ Sexpraktiken und Fetische auf, wie Sex mit Autos (Objektophilie) oder mit in Fell verkleideten Partnern, Feeding (Dickfüttern des Partners) oder Squirting (weibliche Ejakulation). Zu den Formaten, die sich der genannten Themen annehmen, gehören: Extreme Love, Paula kommt – Sex und gute Nacktgeschichten oder Sex Klinik. Auch diese Serien werden häufig ambivalent in Bezug auf die Rezeption von Jugendlichen wahrgenommen: Wann handelt es sich noch um eine adäquate Aufklärung über Sex und sexuelle Identität und wann besteht die Gefahr einer sozialethischen Desorientierung?

Vielfach wird an dieser Stelle die Frage nach Richtig oder Falsch gestellt:

Was sollen wir 12­- oder 16-Jährigen zeigen und was nicht, weil es nachhaltig Angst auslöst oder sozialethisch irritierend nachwirken könnte? Ziel ist es also, bestehende Paradoxien aufzulösen.


Im Folgenden wollen wir uns einer vorschnellen Entparadoxierung und möglichen Forderung nach Widerspruchsfreiheit verweigern und stattdessen einige Paradoxien darstellen und sie bewusst machen. Dies in der Hoffnung, dass das Aushalten einer komplexen Spannung eine eigene Qualität bedeuten könnte, während eine vereinfachende Empfehlung im Sinne von „Das sollten Kinder (nicht) sehen“ Komplexität nur steigert. Menschliches Leben besteht darin, Widersprüche auszuhalten. Sie können im Diskurs verhandelt werden und, da sie immer in einer dynamischen Entwicklung sind, niemals algorithmisierbar sein: „Nur unter Einbeziehung aller Widersprüche kann die Sinnwelt den Charakter selbstreferentieller Geschlossenheit erreichen“ (Luhmann 1984, S. 138).
 

Erste Paradoxie: Aufklären versus „Die wissen doch eh schon alles.“

In unserer sexualpädagogischen Arbeit erleben wir bei Jugendlichen Unwissen und Neugier, was das Thema „Sex und sexuelle Diversität“ angeht. Zwar kann man wegen der weiten Verbreitung von Pornos heutzutage davon ausgehen, dass Kinder und Jugendliche Geschlechtsverkehr in recht frühem Alter gesehen haben. Sie haben auch viele Fragen, die sich ihnen, vielleicht auch durch den Konsum von Pornos, stellen. Mit gewisser Häufigkeit werden folgende Fragen gestellt:

  1. Wie geht Analverkehr?
  2. Kann man auch Sex mit Tieren haben?
  3. Wie schmeckt Sperma und warum stehen Frauen da so drauf?
  4. Wie schaffe ich es, einen Partner zu finden?
  5. Wie wird ein Mädchen schwanger oder auch nicht?

Es geht häufig darum, Gesetzesgrundlagen zu vermitteln (z.B.: dass Sex mit Tieren nicht erlaubt ist, obwohl Kinder Pornos darüber gesehen haben), Druck zu reduzieren (z.B.: „Es ist okay, wenn du mit 14 noch keinen Geschlechtsverkehr gehabt hast“) und das Thema multiperspektivisch zu beleuchten (z.B.: „Es gibt viele Varianten und viele Sichtweisen auf das Thema“, oder „Sperma spielt bei Livesex nicht diejenige Rolle, die es in Pornos spielt“ etc.). Ziel der sexualpädagogischen Arbeit ist es, Kindern und Jugendlichen die Entwicklung einer eigenen sexuellen Identität zu ermöglichen, gemäß Art. 2 des Grundgesetzes (GG).

Zudem besteht ein Teil der Aufklärung darin, neue Fragen zu stellen. Dringend nötig erscheint uns die Nachfrage nach Wissen um sexuell übertragbare Krankheiten, das in der Generation der jetzt 12-­ bis 18­‑Jährigen eine sehr geringe Rolle zu spielen scheint. Im Sexual-­Education­-Format Sex Klinik (TV NOW, Folge 001) bekennen sich viele Protagonistinnen und Protagonisten im Wartezimmer zu ungeschütztem promiskem Geschlechtsverkehr, „weil Kondome irgendwie stören“. Die Ärzte der Sendung raten ihren Patienten, die mit zahlreichen Fragen kommen („Sind meine Schamlippen nicht viel zu groß?“, „Was muss ich beim Analverkehr beachten?“, „Welche Stellungen kann ich mit meiner dicken Partnerin probieren?“), zu STI-­Tests [STI = sexuell übertragbare Infektionen, Anm. d. Red.]. Oftmals scheint es das erste Mal zu sein, dass die Klientinnen und Klienten einen Test machen und dessen Relevanz begreifen. Ein Teil der Spannung ergibt sich dadurch, dass erst am Ende die Testergebnisse vor laufender Kamera präsentiert werden. Was passieren würde, wenn ein Test positiv ausfiele, wird weniger thematisiert. Lediglich wird im Wartezimmer darüber geredet, dass man nicht gerne Sex mit jemandem hätte, der HIV­-positiv wäre. Das klingt ehrlich, impliziert aber genau jene Ausgrenzung, gegen die Aidshilfen seit Jahrzehnten ankämpfen. Hier stellt sich die Frage, ab welchem Alter Jugendliche in der Lage sind, solche Aussagen kontextualisieren zu können.

Themen, die Jugendliche durchaus bewegen, werden allerdings verhandelt – so werden sowohl die Analdusche als auch die „besten Positionen“ für Analverkehr und für Sex mit dicken Menschen von den Ärzten erläutert. PrEP, das Medikament, dessen Einnahme vor Ansteckung mit HIV schützt (aber nicht vor anderen STIs!), wird genauso erklärt wie der Umstand, dass Sperma bei manchen Männern klumpiger ist als bei anderen.
 

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Wenig wissen Kinder und Jugendliche über die Sexualität und das Leben der LGBTI­-Gemeinschaft. „Die Lebensrealität von Lesben, Schwulen und Trans kommt so gut wie gar nicht vor“, monierte der Lesben- und Schwulenverband 2019 über das TV-­Programm (vgl. Ehrenberg 2019). Daran ändere sich auch nichts durch Programme wie Queen of Drags (mit Heidi Klum), in denen Transsexuelle bzw. Transgender-­Menschen zwar gezeigt, aber ihr alltägliches Leben und ihre Geschichten nur oberflächlich erzählt würden. Genrebedingt geht es bei diesem Schönheitswettbewerb um das Aussehen, womit eben auch das Stereotyp bedient wird, Transsexuellen gehe es vor allem um das Äußere. Andere wichtige Themen wie etwa Mobbing, berufliche Karrieremöglichkeiten, Beziehungen etc. werden kaum thematisiert. Lesben kommen kaum (noch) vor und bei der Darstellung schwuler Männer dominieren stereotype Darstellungen, die eher eindimensionale Bilder erzeugen als aufklären.

TV-­Soaps (Verbotene Liebe, GZSZ, Lindenstraße oder auch Unter uns) zeigen regelmäßig schwule Charaktere. Häufig erscheinen sie aber nur kurz, wie ein unterhaltsamer bunter Pinselstrich, der den Gesamtplot auflockert, anstatt ihn etwa zu tragen. Die Dargestellten sind meist gut aussehend, verhalten sich wie der „liebe Junge von nebenan“, leben fast immer monogam, und ansonsten wird so wenig von ihnen erzählt, dass man nicht einmal weiß, ob sie irgendwo in der Großstadt schwule Freunde haben. Vielfalt scheint es bei homosexuellen Menschen kaum zu geben; im besten Falle sind sie genauso wie die Heterosexuellen und fallen nicht weiter auf. Eine Ausnahme ist das Grimme­-Preis­-nominierte Format Prince Charming. In dieser Datingshow à la Bachelor werden auch Lebensgeschichten erzählt. Stefan Vobis, Mitglied der Nominierungskommission, hebt lobend hervor: „In einer Zeit, in der man Morddrohungen so schnell bekommt wie ein Like, finde ich das schon mal sehr mutig. Und ich finde auch die redaktionelle Entscheidung der Macher mutig, Themen wie Anal Bleaching und den lockeren Umgang mit der, in diesem Falle schwulen Sexualität, zu erzählen“ (Vobis, zitiert nach Kram 2020). Allerdings ist sich auch die LGBTI­-Gemeinschaft nicht darüber einig, wie beispielsweise ein Schwuler dargestellt werden sollte. Es gibt durchaus Subgruppen, die sich wünschen, so porträtiert zu werden, als gäbe es keinen Unterschied, und wieder andere, die einfordern, dass auch nicht normatives (sexuelles) Verhalten Schwulsein ausmacht.
 

Zweite Paradoxie: pubertäre Neugierde versus Abscheu, Schamgefühl und Ekel

Auffallend ist das Interesse von 12-­ bis 18‑Jährigen an ekligen Themen. Unter Jugendlichen kursieren nicht selten grenzüberschreitende Clips. Viral gingen Filmclips, wie z.B. Two Girls One Cup, in dem eine Frau nackt in ein übergroßes Rotweinglas kotet und zwei weitere an dem Haufen lecken. Auch wenn erziehende Systeme hier zumeist überfordert reagieren, sind solche Verhaltensweisen vielleicht nur die drastisch übersteigerte Fortsetzung von kindlichem „bathroom humor“ – auf einer Stufe mit Furzkissen und Stinkbombe. In der Pubertät werden zudem stark verankerte Hygieneregeln infrage gestellt und umgelernt. Während man als Kind noch gelernt hat, sich nach der Berührung der Geschlechtsorgane und des Afters die Hände zu waschen, zeigen die Pornos auf den Schulhöfen plötzlich so etwas wie Fellatio und Cunnilingus oder eben „Ekligeres“.

Die Auseinandersetzung mit stark sozial diskonformen Inhalten erlaubt Jugendlichen sozialpsychologisch gesehen eine Standortbestimmung: „So bin ich, das will ich tun, und das will ich nicht.“ Jugendliche suchen in der Pubertät nach ihrer Identität und testen Grenzen aus – sie experimentieren, schauen sich um, wie weit sie gehen würden und was sie tatsächlich an anderen Menschen sexuell interessiert.
 


Formate wie Extreme Love bedienen diese Neugierde. Beispielsweise wird eine stark übergewichtige junge Frau von ihrem Partner mit einem Trichter gefüttert, damit sie irgendwann 1.000 Pounds wiegt und unbeweglich wird – was beide als „Feeding­-Fans“ erregt. Oder da ist Kyle, ca. 30 Jahre, der mit Marge, 91, ein sexuelles Verhältnis hat – und nebenher noch mit anderen älteren Frauen. Genauso wie die transsexuelle Misty, die ihren Traummann John heiraten will, kämpfen diese – in dem Format meist jungen – Protagonistinnen und Protagonisten um Verständnis und Akzeptanz in ihren Familien – und werden mitunter unter Tränen von ihren Eltern akzeptiert.

Wie durch einen übergroßen Zerrspiegel durchleben diese Scripted-­Reality-­Darsteller ähnliche Loslösungskämpfe und ‑ängste wie die pubertierenden Zuschauer („Werde ich so, wie ich bin, wohl akzeptiert?“) sowie die Suche nach der eigenen sexuellen Identität („Und was will ich denn, sexuell?“). In Formaten wie Prince Charming werden sexuelle Identitätskonflikte der Vergangenheit geschildert – und lassen die der Zuschauer (möglicherweise auch der heterosexuellen?) lösbarer erscheinen.

Jugendliche sind häufig neugierig, wie andere mit dem Thema „Sex“ umgehen, wie diejenigen, die abweichendere Interessen haben, akzeptiert werden. Anfänglicher Ekel vor bzw. Distanzierung von bestimmten Gruppierungen könnte durch virtuellen Kontakt ebenfalls reduziert werden (Schiappa u.a. 2007). So erscheint Misty sympathisch, auch wenn sie davon erzählt, dass sie neben Brüsten noch einen Penis hat und ihren Freund John das beim ersten Mal abgestoßen habe. Ihr Happy End samt Hochzeit und rührenden Reaktionen der Mütter mag auch die Angst oder die Unsicherheiten vor Transgender­Menschen nehmen, genauso wie es in Formaten wie Queen of Drags geschehen könnte.
 

Dritte Paradoxie: politisch korrekt versus Sexualität ist wild und unfair

Streng genommen ist jede sexuelle Präferenz eine Diskriminierung, denn sie basiert auf einem kategorialen Urteil, bei dem Individualität keine Rolle spielt. Wenn jemand auf „blonde Männer steht“, dann wählt er oder sie Menschen aufgrund eines Gruppenmerkmals aus – während dies bei einer Personalentscheidung im öffentlichen Dienst z.B. strafbar wäre, ist es nicht gegen die Norm, wenn in Datingsendungen etwa Frauen äußern, dass sie große Männer mit großen Schwänzen wollen oder eher nicht auf Dicke oder Schwarze stehen. Auch auf Sex­-Dating-­Apps wie Tinder oder Grindr kann man lesen „no Asians please“, „nur bis 30 bitte“, „bitte heterolike und keine Tunten“. Sex ist unfair, scheint es, und doch dürften solche „Geschmacksvorgaben“ diejenigen verletzen, die systematisch von vielen aussortiert werden.

Schwierig wird es, wenn z.B. in der Sex Klinik eine Ärztin vermutet, dass der Ausfluss einer Patientin, die auf Schwarze steht und oft ungeschützten Sex mit Männern hat, auf einen unterschiedlichen PH-­Wert der Genitalsekrete bei Weißen und Schwarzen zurückgehen könnte. Wenn das Ganze noch in eine Sprache gekleidet ist, in der von „Fremdfamilien von Bakterien“, „Kolonien“ oder „Familien von Bakterien, die reinkommen“, die Rede ist, dann könnten Assoziationen wie „Sex mit Schwarzen ist gefährlich“ in den Köpfen der Zuschauer entstehen (vgl. Förster 2020).
 


In der deutschen Fassung von Extreme Love bindet Paula (aus Paula kommt) potenziell problematisches Verhalten durch ihre Kommentare in sozial akzeptierte Wertegerüste ein. Sie ist es, die kritisch bezüglich eines Mormonenpriesters mit zwei Frauen die Frage stellt, warum denn eine Frau nicht zwei Männer haben könnte. Dadurch wird ein Diskurs angeregt, der Präsentiertes als subjektive Beobachtung relativieren kann.

In der Sex Klinik versuchen die Klientinnen und Klienten, sexuelle Vielfalt möglichst cool zu behandeln, sie schlittern nicht selten in unfreiwillig komische Situationen – vor lauter politischer Korrektheit. So behauptet die Klientin Aurora Melodie: „Was mich ja total reizt, ist, ’ne Transe zu haben, weil ich ja bi bin. Da ist ja alles dran, richtig geil.“ Womit auch eine Objektifizierung von Transgender­-Personen vermittelt wird und die irrwitzige Einschätzung, dass Menschen aus dem LGBTI-­Spektrum Sex promisk leben und mit fast jedem schlafen würden.

Sexuelle Identitäten haben nicht selten mit körperlichen Transformationen zu tun. Hier fällt auf, dass bei Trans­-Personen die schwerwiegenden Operationen selten diskutiert werden. Politisch korrekt verhalten sich aber die Ärzte bezüglich (unnötiger) Schönheits­-OPs. „Du hast ganz normale Schamlippen, Schatzilein, du hast keine Riesenlappen. Du hast eine ganz, ganz süße kleine Mumu hier.“ Und wenn ein Partner mit seiner übergewichtigen Partnerin nach besseren Positionen fragt, weil er nicht von allen Seiten „drankommt“, wird nicht etwa ein Diätplan entworfen oder eine Psychotherapie empfohlen, sondern dazu geraten, es doch von hinten im Stehen zu probieren.
 

Vierte Paradoxie: Voyeurismus versus Tabuisierung

In einigen Formaten zeigen die Protagonisten ihren Körper oder ihre Geschlechtsteile (Naked Attraction – Dating hautnah, aber auch Promi Big Brother, Sex Klinik), und sie reden über Sex wie über den letzten Einkauf auf dem Wochenmarkt (Matthias Mangiapane in Promis unter Palmen: „Ich habe Fußballer gevögelt.“). Da Sex immer noch ein Tabu ist, wirkt fast jede Darstellung auch voyeuristisch – selbst wenn sie aufklärerisch gemeint sein sollte. Eine „gute“ Sprache zu finden, ist dabei eine starke Herausforderung; das geht auch Sexualpädagoginnen und ‑pädagogen so. Akzeptiert wird dabei oftmals eine „medizinische“ Ausdrucksweise, wie sie von den Ärzten z.B. in der Sex Klinik genutzt wird und wie wir sie aus früheren Formaten (Erika Berger, Wa(h)re Liebe mit Lilo Wanders oder von dem amerikanischen Vorbild Dr. Ruth) kennen. Damit wirkt Sex aber merkwürdig distanziert – wer benutzt schon Worte wie „Vulva“ oder „vaginale Corona“, „Penis“ oder „Geschlechtsverkehr haben“ im Alltag?
 


Dagegen könnte der „Jargon der Straße“, wie ihn die Klienten der Sex Klinik sprechen, schockierend wirken. Ähnlich wie bei Big Brother hat man hier den Eindruck, einem realen Gespräch zwischen Menschen einer anderen sozialen Klasse zuzuhören. Aber unterhalten sich Paare heutzutage wirklich über Sex, indem sie „ficken“, „vögeln“ oder „bumsen“ dazu sagen? Wie nennen sie ihre Geschlechtsteile? Und wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die kindliche Scham durch solche Vulgarität nachhaltig berührt wird? Hier – so scheint es uns – liegt allerdings eher ein gesellschaftliches Problem einer allgemeinen Tabuisierung vor, was eine angemessene Sprache über ein wichtiges Thema verhindert. Wie würden wir über Sex reden, wenn er weniger tabuisiert würde?
 

Fünfte Paradoxie: Störung versus „Vollkommen okay – wenn einvernehmlich“

Viele Varianten von der Norm abweichenden Sexualverhaltens sind nicht strafbar, werden aber trotzdem stigmatisiert. Nicht selten werden psychologische Erklärungsversuche bemüht. Vor allem Paula hält sich nicht zurück, Menschen in Extreme Love Bindungsprobleme per Ferndiagnose zu unterstellen – da wird der 19‑jährigen Reba, die einen 60­‑Jährigen heiratet, ein Vaterkomplex diagnostiziert und einem Objektophilen, der Sex mit Autos hat, eine auf Bindungsproblemen beruhende Angst, sich auf wirkliche Beziehungen einzulassen. Auch dem Sklaven Fluffy, der seine Identität freiwillig gewählt hat, werden Beziehungsprobleme unterstellt. Natürlich kann von solchen Formaten keine psychologische Diagnose auf wissenschaftlichem Niveau verlangt werden (und Paula tut das immer vorsichtig und im Konjunktiv!), allerdings könnten solche Zuschreibungen alle unterstellten Versuche zunichtemachen, für Toleranz zu werben. Zudem halten solche Erklärungsmodelle psychologischer Forschung selten stand und können eher als ein Joining­-Versuch mit den Zuschauern via Populärpsychologie bewertet werden.

Außerdem neigen Eltern dazu, sich ein Leben für ihre Kinder zu wünschen, das „unproblematisch“ verläuft, womit sie häufig nach wie vor ein Familienleben mit Kindern meinen. Da erleichtert es sicherlich, wenn Fluffys Verhalten, der in Lack und Leder durch den städtischen Park geführt wird, nicht nur als „kinky“, sondern auch als gestört im Sinne von „nicht nachahmenswert“ bewertet wird. Wenn es um das eigene Kind geht, schwindet oftmals die Bedeutung von Werten der Toleranz.
 

Sechste Paradoxie: „Keine schlafenden Hunde wecken“ versus „Sexuelle Identität ist angeboren“

Zu guter Letzt mag der – politisch meist als inkorrekt bewerteten – Frage nachgegangen werden, ob sozial/sexuell von der Norm abweichendes Sozialverhalten nicht auf Kinder übergreifen kann, wenn sie dieses im Fernsehen beobachtet haben: „Wird mein Junge schwul, wenn er zu viele Schwule im Fernsehen sieht?“ Hier kann aufgrund der Forschung und der eigenen sozialpädagogischen Arbeit eine Paradoxie dann doch entkräftet werden.

Die sexuelle Identität bzw. Orientierung bildet sich schon früh heraus. Jugendliche, die schwul, lesbisch, transgender etc. sind, werden ihre Identität sowieso irgendwann finden (vgl. z.B. das Gutachten der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld zu Konversionstherapien 2019). Ihnen können Vorbilder und Geschichten aber wiederum dabei helfen, den Mut zu fassen, ihr Leben zu leben.1 Positiv zu nennen ist die sehr entspannte und komische Darstellung aller möglichen sexuellen Themen in der Netflix-­Spielfilm-­Serie Sex Education, die auch Diskriminierung thematisiert, aber in der eine Atmosphäre der Annahme vorherrscht, die den Protagonistinnen und Protagonisten viel Raum für Entwicklung gibt.

Schlafende Hunde werden durch Medienkonsum also nicht geweckt – sie sind in der Regel längst hellwach.
 


 
Anmerkung:

1 Vgl. die Broschüre des Jugendnetzwerks Lambda Bayern e.V. Akzeptrans*. Arbeitshilfe für den Umgang mit transsexuellen Schüler_innen, die gratis zu erhalten ist und erziehenden Systemen als Ratgeber dienen mag. Ebenso empfehlenswert ist die Broschüre der BZgA Sexuelle Vielfalt und Coming-out. Ein Ratgeber für Jugendliche.
 

Literatur:

Bundesstiftung Magnus Hirschfeld (Hrsg.): Abschlussbericht. Wissenschaftliche Bestandsaufnahme der tatsächlichen und rechtlichen Aspekte von Handlungsoptionen unter Einbeziehung internationaler Erfahrungen zum geplanten „Verbot sogenannter ,Konversionstherapien‘“ in Deutschland zum Schutz homosexueller Männer, Frauen, Jugendlicher und junger Erwachsener vor Pathologisierung und Diskriminierung. Berlin 2019

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.): Sexuelle Vielfalt und Coming-out. Ein Ratgeber für Jugendliche. Köln 2018

Ehrenberg, M.: LGBTI-Check. Wie divers ist das deutsche Fernsehen?In: Der Tagesspiegel, 22.06.2019. Abrufbar unter: https://www.tagesspiegel.de (letzter Zugriff: 24.09.2020)

Förster, J.: Schublade auf, Schublade zu – Die verheerende Macht der Vorurteile. München 2020

Jugendnetzwerk Lambda Bayern e. V. (Hrsg.): Akzeptrans*. Arbeitshilfe für den Umgang mit transsexuellen Schüler_innen. München 2015. Abrufbar unter: https://www.lambda-bayern.de (letzter Zugriff: 24.09.2020)

Kram, J.: Grimme-Preis-Nominierung für schwules TV-Dating „Prince Charming“. Interview zu den Hintergründen mit Stefan Vobis. In: Ich hab ja nichts gegen Schwule, aber … Das Nollendorfblog aus Berlin, 16.01.2020. Abrufbar unter: https://www.nollendorfblog.de (letzter Zugriff: 24.09.2020)

Luhmann, N.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984

Schiappa, E./Allen, M./Gregg, P. B.: Parasocial Relationships and Television: A Meta-Analysis of the Effects. In: R.W. Preiss/B.M. Gayle/N. Burrell/M. Allen/J. Bryant (Hrsg.): Mass Media Effects Research. Advances Through Meta-Analysis. Mahwah, NJ 2007, S. 301‑314

Dr. habil. Jens Förster ist Diplom-Psychologe, Therapeut, Coach, Autor und Unternehmensberater. Er ist Direktor des Systemischen Instituts für Positive Psychologie in Köln.

Manfred Nussbaum ist Diplomsozialarbeiter, Sexualpädagoge und Paar- und Familientherapeut. Er ist Direktor des Systemischen Instituts für Positive Psychologie in Köln.