Eine Generation meldet sich zu Wort

Ergebnisse der aktuellen Shell-Jugendstudie

Daniel Hajok

Dr. Daniel Hajok ist Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Honorarprofessor an der Universität Erfurt sowie Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM).

Nachdem 1953 die erste Ausgabe erschien, meldet sich die Shell Jugendstudie nun zum 18. Mal zu Wort. Bereits im Titel wird auf das fokussiert, was mit Blick auf die junge Generation ohnehin in aller Munde ist: Bei den großen Themen bringt sich die Jugend wieder mit Nachdruck ein. Auch sonst gibt es Entwicklungen, die spannend sind.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 1/2020 (Ausgabe 91), S. 17-19

Vollständiger Beitrag als:

Leben in gewohnten Bahnen?

Zentrale Bezugspunkte im Leben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind von jeher die Beziehungen zu den eigenen Eltern und Gleichaltrigen, die Anforderungen schulischer (und beruflicher) Bildung sowie die (zunehmend mediatisierte) Freizeit, die immer mehr unter dem Eindruck von Streamingdiensten und Social-Web-Angeboten steht. Der kommunikative Austausch hat sich zwar weiter ins Netz verlagert, für die Jugend bleiben die Face-to-Face-Kontakte mit Freunden aber zentral: Die meisten haben „keine Freunde, mit denen ausschließlich Kontakt über soziale Medien besteht“. Die Zugänge zu Bildung sind noch immer entscheidend von der sozialen Herkunft determiniert, auch wenn die Bildungsambitionen der Jugendlichen angestiegen sind und die meisten heute das Abitur anstreben.

Mit dem Streben nach höheren Bildungsabschlüssen (Abitur und Studium) wird der Übergang von Schule zu Beruf wieder länger und viele verbleiben noch in der elterlichen Wohnung (mit ca. 21 Jahren sind es noch die meisten) – vor allem, weil es „für die gesamte Familie am bequemsten“ ist. Wie zu Beginn der 2010er-Jahre würde aber auch aktuell knapp die Hälfte „in eine eigene Wohnung ziehen, wenn sie es sich finanziell leisten könnten“. Das Verhältnis von Jugendlichen und Eltern ist weiterhin gut und in den letzten Jahren sogar (noch) besser geworden. Mittlerweile geben zwei von fünf Heranwachsenden hierzu an, „bestens“ miteinander auszukommen.
 


Entgegen landläufiger Meinung ist der Großteil der Jugend noch immer konfessionell gebunden, allen voran an die römisch-katholische und evangelische Kirche. Letztere hat allerdings an Bedeutung verloren, der Islam mit zunehmendem Migrationshintergrund von Heranwachsenden hinzugewonnen. Insgesamt betrachtet ist der Glaube an Gott bei der katholischen und evangelischen Jugend eher gering ausgeprägt, religiöse Praktiken (Beten etc.) werden von den meisten sehr selten oder nie ausgeübt. Wie zu Beginn der 2000er-Jahre ist formal aber auch aktuell nur knapp ein Viertel der Jugend keiner Religionsgemeinschaft zugehörig (in Ostdeutschland zwei Drittel).
 

Werte, die der Jugend wichtig sind

Ein besonderes Augenmerk legt die Shell Jugendstudie wieder auf die Wertorientierungen der jungen Generation. Sie sind in den letzten Jahren relativ stabil geblieben: Gute freundschaftliche, partnerschaftliche und familiäre Beziehungen stehen unabhängig von Herkunftsschicht, Migrationshintergrund und Geschlecht ganz oben. Den mit Abstand meisten sind zudem Eigenverantwortlichkeit, Recht und Ordnung, die Vielfalt der Menschen, Unabhängigkeit, das Leben in vollen Zügen genießen, Fleiß und Ehrgeiz, gesundheitsbewusst leben, die eigene Phantasie und Kreativität sowie das Streben nach Sicherheit wichtig.

Bei Berücksichtigung des Bildungshintergrundes der Eltern und des (materiellen) Wohlstandes der Haushalte lassen sich wieder markante „schichtspezifische Orientierungen“ identifizieren. Mit höherer Herkunftsschicht der Heranwachsenden nimmt die Wichtigkeit von Werten wie „Vielfalt anerkennen und respektieren“, „seine Phantasie und Kreativität entwickeln“, „sich politisch engagieren“ und „sich unter allen Umständen umweltbewusst verhalten“ zu. Für Heranwachsende aus den unteren Schichten haben demgegenüber „sich und seine Bedürfnisse gegenüber anderen durchsetzen“ und „von anderen Menschen unabhängig sein“ besonderen Wert.

Mit Blick auf einen Migrationshintergrund zeigt sich, dass für Heranwachsende aus arabischen, islamischen und osteuropäischen Herkunftsländern nicht nur der Glaube an Gott besonders wichtig ist. Nicht zuletzt ist ihr Benachteiligungsempfinden („gefühlte Ungerechtigkeit und Benachteiligung gegenüber anderen“) sehr hoch ausgeprägt; Wertorientierungen wie „fleißig und ehrgeizig sein“ und „einen hohen Lebensstandard haben“ sind ihnen wichtiger als den Heranwachsenden ohne Migrationshintergrund. Die weiblichen Heranwachsenden werden in der Studie als das „wertebewusstere Geschlecht“ herausgestellt, weil sie eine weniger materialistische, dafür aber umweltbewusstere Lebensführung und sozialere Orientierung haben als die männlichen.
 


Politisch interessiert, aber populismusaffin?

Zu einem der Schwerpunkte der Studienreihe, dem politischen Interesse und Engagement der Jugend, belegen die Daten im Langzeitvergleich: Bis in die 1990er-Jahre hinein waren die meisten an Politik (stark) interessiert. Bis Anfang der 2000er-Jahre hatte das Interesse dann deutlich ab-, in den folgenden Jahren wieder leicht zugenommen. Aktuell zeigen sich zwei von fünf Heranwachsenden politisch (stark) interessiert, wobei das Interesse wie gehabt im Altersverlauf an Bedeutung gewinnt und unter Studierenden am höchsten ist. Bei der gezielten Informationssuche haben Internetangebote und Social Media den klassischen Medien mittlerweile den Rang abgelaufen. Öffentlich-rechtliche Fernsehnachrichten und überregionale Tageszeitungen genießen dennoch deutlich höheres Vertrauen als YouTube, Facebook oder Twitter.

Mehr Bedeutung wird wieder dem eigenen politischen Engagement zugemessen: Jeder bzw. jedem dritten Jugendlichen ist es aktuell wichtig, sich „politisch zu engagieren“ bzw. sich „in Politik einzumischen“. Faktisch bleibt die Politikverdrossenheit aber auf hohem Niveau, die Studie beschreibt das politische bzw. soziale Engagement als leicht rückläufig. Ganz offensichtlich konnten die Anfang 2019 erhobenen Daten die Wucht der Fridays for Future-Bewegung noch nicht angemessen einfangen. Die Problemsicht der Jugend ist dennoch bereits von den Themen „Umweltverschmutzung“ und „Klimawandel“ dominiert. Den meisten machen zudem „Terroranschläge“, die „Wachsende Feindlichkeit zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen“, die „Wirtschaftliche Lage und steigende Armut“ sowie die „Ausländerfeindlichkeit“ Angst.
 


Bei der eigenen politischen Positionierung geht der Trend leicht nach links. Mittlerweile verorten sich zwei von fünf Heranwachsenden im politischen Spektrum (eher) links. Der allgegenwärtige Populismus polarisiert aber auch die Jugend insgesamt: „Kosmopoliten“ und „Weltoffene“ stehen dabei fast ebenso vielen „Populismus-Geneigten“ und „Nationalpopulisten“ gegenüber, dazwischen eine kleinere Gruppe von „Nicht-eindeutig-Positionierten“. Weniger Kontrolle, generelles Benachteiligungsempfinden und Distanz zu Vielfalt identifiziert die Shell Studie als typisch für die Affinität zum Populismus. Mit ihm steigen die Vorbehalte gegenüber „Fremden“ und sinkt die Demokratiezufriedenheit, die insgesamt, im Osten mehr als im Westen, zugenommen hat.


Der Blick auf die (eigene) Zukunft

Die Sicht der Jugend auf die Zukunft unserer Gesellschaft war zu Beginn und Ende der 1990er-Jahre von einer hohen Zuversicht gekennzeichnet und trübte sich in den 2000er-Jahren deutlich ein. Seit 2015 blickt nun wieder eine knappe Mehrheit zuversichtlich auf die Gesellschaft von morgen, die überwiegend schon jetzt als (sozial) gerecht empfunden wird. Auch auf die Europäische Union (EU) haben die meisten eine positive Sicht (vor allem die höher Gebildeten und die in Städten Lebenden). Im Osten wie im Westen verbinden die meisten mit der EU „Freizügigkeit (reisen, studieren, arbeiten)“ und „kulturelle Vielfalt“, „Demokratie“ und „Frieden“, „wirtschaftlichen Wohlstand“ und „soziale Absicherung“ (beides mit deutlichen Zugewinnen in den letzten Jahren), aber auch „Bürokratie“ und „Geldverschwendung“.

Überwiegend optimistisch sind die Heranwachsenden auch hinsichtlich ihrer eigenen Zukunft, was nicht zuletzt im Kontext der gestiegenen Zuversicht auf die eigene Bildungskarriere und der Chancen auf einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu sehen ist. Nachdem Mitte der 1990er-Jahre nur jede bzw. jeder Dritte (eher) zuversichtlich auf sein zukünftiges Leben geschaut hat, sind es seit Beginn der 2010er-Jahren wieder die meisten. Die Perspektiven der Jugend aus den oberen Herkunftsschichten haben sich im Kontext der wachsenden Sorge um Umweltverschmutzung und Klimawandel allerdings etwas eingetrübt. Demgegenüber blicken die Heranwachsenden aus der unteren Schicht wieder deutlich zuversichtlicher auf die eigene Zukunft.

Ein zentrales Zukunftsmodell bleibt die Gründung einer eigenen Familie. Mit unverändertem Stellenwert in den letzten 20 Jahren wünschen sich die meisten eigene Kinder. Knapp zwei Drittel der männlichen und fast drei Viertel der weiblichen Heranwachsenden möchten „später Kinder haben“, wobei ein gutes Verhältnis zu den eigenen Eltern einen „bestärkenden“ Einfluss auf den eigenen Kinderwunsch hat. Im Kontext der (noch immer) weitverbreiteten traditionellen Vorstellungen von Familie und Beruf wünschen sich die meisten Mädchen später Männer in der Rolle von Allein- bzw. Hauptversorgern, im Westen mehr als im Osten und in den Religionsgemeinschaften häufiger als unter den Konfessionslosen.