„Die Filme betrafen uns.“

„Generation 14plus“ bei der 70. Berlinale

Barbara Felsmann

Barbara Felsmann ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt „Kinder- und Jugendfilm“ sowie Autorin von dokumentarischer Literatur und Rundfunk-Features.

„Wir haben 28 Filme gesehen und jeder war wichtig“, heißt es in dem Fazit der Jugendjury von „Generation 14plus“. Und weiter: „Wir wurden berührt, schockiert, überrascht und wütend gemacht. Die Filme betrafen uns.“ Besonders interessant ist es, welche Produktionen die sieben Jugendlichen aus diesem insgesamt sehr anspruchsvollen und vielschichtigen Wettbewerb letztendlich ausgezeichnet haben. Es sind in erster Linie Filme, die sich mit gesellschaftlichen Konflikten und politischen Fragestellungen auseinandersetzen.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 2/2020 (Ausgabe 92), S. 5-9

Vollständiger Beitrag als:

So vergab die Jugendjury den Gläsernen Bären für den Besten Film an die bewegende und durch ihre poetischen Bilder bezaubernde Arbeit des in Kabul geborenen Regisseurs Atiq Rahimi, Notre-Dame du Nil (Our Lady oft the Nile). Die Koproduktion aus Frankreich, Belgien und Ruanda spielt in einem katholischen Mädcheninternat in Ruanda, Anfang der 1970er-Jahre. Hier, abgeschieden in den Bergen an einer der Quellen des Nils, werden die Töchter von hochrangigen Politikern, Militärs und Geschäftsleuten ausgebildet und auf ihre Zukunft als Landeselite vorbereitet. Der Großteil der Mädchen stammt vom Volk der Hutu, 10 % der Schülerinnen sind Tutsi.

Beschützt von der schwarzen Marienfigur, der Notre-Dame du Nil, gibt es ein solidarisches Einvernehmen zwischen den Mädchen, sind sie sich in ihren Träumen, ihrem Lebenshunger und ihrer Ausgelassenheit gleich. Doch die behütete Atmosphäre fernab von der gesellschaftlichen Realität wird erstmals heftig gestört, als das Mädchen Frida schwanger aus den Ferien zurückkehrt. Ihrem Traum, das Kind zusammen mit ihrem „Finanzier“, einem ausländischen Botschafter, aufzuziehen, wird abrupt ein Ende gesetzt. Frida überlebt die Zwangsabtreibung nicht, ihr Tod wird vertuscht, gesprochen werden darf darüber nicht.
 

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So richtig aber kommt das friedliche Zusammenleben im Kloster ins Wanken, als Gloriosa, die Tochter eines einflussreichen Hutu-Ministers, aus Eifersucht Hass gegen die wenigen Tutsi-Mädchen schürt. Als sie dann zu der verhängnisvollen Lüge greift, dass sie zusammen mit ihrer Freundin von Tutsi-Banditen überfallen worden sei, verwandelt sich das Internat zu einer von Soldaten bewachten Festung. Mit Unterstützung ihres Vaters setzt Gloriosa eine Spirale von Hass und Gewalt in Gang, die in der Vertreibung und Tötung der Tutsi-Schülerinnen gipfelt.
 

„Geographisch und kulturell so weit weg und uns dennoch nicht fremd“
 

Basierend auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Scholastique Mukasonga beschreibt Regisseur Atiq Rahimi sehr genau die Mechanismen, die gut 20 Jahre später in Ruanda zu dem verheerenden Völkermord an den Tutsi führten. Innerhalb dieses Mikrokosmos Klosterschule, in dem die Mädchen zunächst alle gleichgestellt sind und gut miteinander auskommen, sind es zunächst zwischenmenschliche Konflikte – wie Eifersucht, Neid, Streben nach Aufmerksamkeit, Liebe und Macht –, die dann zu einem unfassbaren Völkerhass führen. Atiq Rahimi findet dafür symbolträchtige Bilder und verleiht seiner Geschichte eine zeitlose und damit aktuelle Komponente. Nicht umsonst schreibt die Jugendjury in ihrer Preisbegründung, dass ihnen die Menschen in dem „packenden“ Film „nicht fremd waren“ und dass der Film „Diskussionen aufgeworfen“ habe. Es ist die gesellschaftliche Brisanz einerseits, die die Jugendlichen in ihren Bann gezogen hat, aber auch die Erzählweise. So heißt es am Schluss der Jurybegründung: „Politisch, poetisch, stilistisch und menschlich wurden wir überzeugt.“
 


„Motiviert, gemeinsam für unsere Werte einzustehen“
 

Gleich mehrere Filme im diesjährigen „Generation“-Programm beschäftigten sich mit den negativen Folgen der Globalisierung, wie beispielsweise die deutsch-mongolische Koproduktion Die Adern der Welt oder der Dokumentarfilm Perro von Lin Sternal. In Die Adern der Welt schildert Regisseurin Byambasuren Davaa, international bekannt durch ihren Film Die Geschichte vom weinenden Kamel, wie in der mongolischen Steppe einer traditionell lebenden Nomadengemeinschaft von globalen Bergbaukonzernen die Existenzgrundlage genommen wird. Auf der Suche nach Gold wird hier die Natur zerstört, damit werden die Nomaden um die Weideplätze für ihre Schaf- und Ziegenherden gebracht. In Perro ist es der El Gran Canal, ein Bauvorhaben in Nicaragua, für das mehr als 120.000 Menschen, hauptsächlich indigene Bevölkerungsgruppen, zwangsumgesiedelt werden sollen. Auch der 12‑jährige Joshua, von allen Perro genannt, ist davon betroffen. Als der einzige Lehrer von der Schule abgezogen wird, muss Perro seine Großmutter verlassen und zu seiner Tante in die Stadt ziehen. Auf seinem Weg in die unbekannte Zukunft wird er von der Berliner Dokumentarfilmerin Lin Sternal begleitet, die den schwierigen Prozess eines Abschieds und eines Neuanfangs unsentimental und konzentriert einfängt.

Die „Fridays for Future“-Bewegung, die ja vor allen Dingen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen getragen wird, spielte noch in keinem der Wettbewerbsbeiträge eine Rolle. Allerdings widmeten sich zwei Dokumentarfilme Protestbewegungen aus der Gegenwart und Vergangenheit. In dem Kurzformat Comrades geht es um die Massenproteste in Hongkong im Juli 2019. Filmemacher Kanas Liu hat sich mit seiner Kamera unter die – zumeist jungen – Demonstrierenden gemischt und dokumentiert auf eindrucksvolle Weise, wie sich solch eine Massendemonstration im Hinterland organisiert, wie Solidarität geübt und zur Besonnenheit und Gewaltlosigkeit aufgerufen wird.

Dagegen beleuchtet die Journalistin und Filmemacherin Rubika Shah in ihrem abendfüllenden Dokumentarfilm White Riot die „Rock Against Racism“-Bewegung in England Ende der 1970er-Jahre. Während dort die neofaschistische Partei British National Front immer mehr erstarkt, beginnt sich eine antirassistische Jugendbewegung, die in der Rock- und Punkmusik eine wesentliche Rolle spielt, zu formieren. Zu den ersten Aktivisten gehört der Musikfotograf Red Saunders. Er gründet zusammen mit Gleichgesinnten das Fanzine „Temporary Hoarding“ und die Bewegung „Rock Against Racism“, in der Bands wie „The Clash“, „Joy Division“, „Sham 69“ oder „The Specials“ auf der Bühne starke Zeichen gegen Rassismus setzen und für mehr Toleranz und Gerechtigkeit kämpfen.
 


So collagenhaft wie das Magazin „Temporary Hoarding“ damals gestaltet wurde, kommt auch Rubika Shahs Film daher. In rasanter Schnittfolge werden hier Interviews mit Zeitzeugen und Aktivisten von „Rock Against Racism“, Dokumentaraufnahmen von Protesten und Konzerten, Zeitungsausschnitte, originelle Animationen, Fotos und natürlich viel Musik zu einem lebendigen, mitreißenden Bild dieser Bewegung zusammengefügt. Gleichwohl zeichnet dieser Film aber auch den alltäglichen Rassismus der 1970er-Jahre in England nach, der teilweise fatale, heutige Züge aufweist. Das muss auch die Jugendjury von „Generation“ so empfunden haben. Sie zeichnete White Riot mit einer lobenden Erwähnung aus. In ihrer Begründung heißt es u.a.: „Wir wurden motiviert, gemeinsam für unsere Werte einzustehen und all die Ungerechtigkeit, die wir spüren, in die Welt hinauszuschreien. Gegen Rassismus, gegen Diskriminierung. The fight is far from over!“


„Krieg ist, wenn Leute schießen. Und andere Leute schießen auf die Leute, die zuerst geschossen haben.“
 

Es ist ein kleiner Junge, der diese einfachen Worte über den Krieg in dem bewegenden Dokumentarfilm The Earth Is Blue as an Orange aus der Ukraine und Litauen formuliert. In ihrem Dokumentarfilmdebüt begleitet die in Kiew aufgewachsene Filmemacherin und Autorin Iryna Tsilyk eine alleinstehende Mutter und ihre vier Kinder durch die schwere Zeit des Krieges in der Ukraine. Dort, im Donezbecken, tobt seit fünf Jahren der Krieg. Um die schmerzhaften Erfahrungen zu verarbeiten und gegen „die Leere“ anzukämpfen, dreht eine der Töchter, Myroslava, einen Film über die Situation ihrer Familie. Mit dieser Arbeit möchte sie sich an der Filmhochschule bewerben, um „Kamera“ zu studieren. Für ihren Film macht Myroslava Interviews mit ihrer Familie, fragt nach den Traumata wie nach den Wünschen und Hoffnungen, spielt mit ihren Geschwistern schwierige Situationen nach, die sie erlebt haben, läuft mit der Kamera durch die Stadt, um Bilder vom „normalen“ Alltag im Krieg einzufangen. So lässt Myroslava für ihre Familie ein genaues, detailreiches Zeugnis von ihrem Überleben im Krieg entstehen, während Iryna Tsilyk dieses bewegende Dokument sowie den Entstehungsprozess einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Vor allem aber zeigt die Filmemacherin, wie dieser künstlerische Prozess allen Beteiligten in der Familie Flügel verleiht und die Schrecken des Krieges überstehen lässt.
 

„Ich werde am Leben bleiben. Wenn ich zu euch komme, werde ich eine alte Frau sein. Ich freue mich darauf.“
 

Das ist die Botschaft am Ende des stillen, berührenden Films Kaze no Denwa (Voices in the Wind) des japanischen Regisseurs Nobuhiro Suwa. Doch bis dahin hat die 17‑jährige Haru, dargestellt von dem jungen japanischen Topmodel Serena Motola, eine lange Reise durch ganz Japan vor sich. 2011, als Haru 9 Jahre alt war, verlor sie durch den damaligen Tsunami ihre Eltern und den jüngeren Bruder. Innerlich verabschieden konnte sich Haru bis heute nicht. Nun lebt sie bei ihrer Tante in Hiroshima. Als diese ins Krankenhaus muss und Haru allein zurückbleiben soll, bricht das Mädchen zusammen und macht sich auf den Weg in ihre Heimatstadt Ōtsuchi, die inzwischen wiederaufgebaut wurde. Auf ihrer Reise von Hiroshima über Tokio, Fukushima bis nach Ōtsuchi begegnet Haru vielen Menschen, die ihr helfen, die ihr Trost spenden oder durch eigene Verlusterfahrungen mit ihr das Leid teilen. Da ist die alte Frau, die sich nach dem Selbstmord ihrer Tochter in die Demenz geflüchtet hat und sich noch heute an den Atombombenabwurf in Hiroshima erinnert. Oder die kurdische Familie, die um ein Familienmitglied trauert, das abgeschoben wurde. Dann wird Haru von Morio mitgenommen. Dessen Zuhause ist sein Auto, nachdem er – wie man nach und nach erfährt – Frau und Tochter bei der Nuklearkatastrophe in Fukushima verloren hat. „Ich muss leben, damit es einen gibt, der die Erinnerungen an die Familie wachhält“, erklärt er Haru. Morio bringt das ihm fremde Mädchen nach Ōtsuchi, wo Haru zufällig die Mutter ihrer einst besten Freundin trifft, mit der sie damals vor dem Tsunami geflüchtet ist und die sie dabei verloren hat. Das ist wohl die ergreifendste Szene in diesem Film, als die Mutter realisiert, dass ihre Tochter nun auch nicht mehr ein Kind, sondern eine Abiturientin wäre. Doch erst als Haru die Grundmauern ihres Elternhauses und später das Windtelefon aufsucht, über das man mit den Toten sprechen kann, kann sie endlich von ihren Eltern und dem Bruder Abschied nehmen.
 


Kaze no Denwa wurde von der Internationalen Jury von „Generation 14plus“ mit einer lobenden Erwähnung bedacht. In ihrer Begründung heißt es: „Wir waren von diesem sanften und zugleich epischen Roadmovie mit seinem eindringlichen Finale, das zugleich niederschmetternd wie auch erhebend ist, tief bewegt. In unseren so schweren Zeiten ist es wichtiger denn je, sowohl Raum für die Leere des Verlusts als auch für die Wärme des menschlichen Miteinanders zu lassen – etwas, dass diesem Film gleichermaßen mit Anmut und Kraft gelingt.“ Mit Kaze no Denwa hat Nobuhiro Suwa keinen vordergründig politischen Film geschaffen – und doch beschäftigt er sich darin mit den Auswirkungen von Katastrophen auf die Gesellschaft und jeden Einzelnen. Auf eindringliche Weise zeigt er, wie wichtig bei solchen Katastrophen, ob durch die Natur hervorgerufen oder durch Kriege oder – wie aktuell – durch eine Virusepidemie, Zusammenhalt, Fürsorge und Solidarität unter uns Menschen sind.
 

Anmerkung:

Auflistung aller Preis für „Generation Kplus“ und „Generation 14plus“