Die Aufschneider

Jenni Zylka

Jenni Zylka ist freie Autorin, Moderatorin und Filmkuratorin.

Von der im Januar gestarteten RTL-True-Crime-Dokumentation Obduktion ausgehend, befasst sich Jenni Zylka mit Pietät, dem Tod und dem öffentlichen Gestorbensein in TV-Formaten.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 80-81

Vollständiger Beitrag als:

 

Wer weiß schon, was nach dem Tod passiert. Gar nichts, sagen die einen, verweisen auf die Putreszenz und das dazugehörige Fest für die Maden bzw. auf verscharrte Asche, die in Deutschland aufgrund des sogenannten „Friedhofszwangs“ nicht einmal über Lieblingsgegenden oder Gewässern ausgestreut werden darf. Die anderen meinen zu wissen, dass das Nachleben einiges zu bieten hat, und zwar nicht nur für die Hinterbliebenen: Wie das Paradies aussieht, ob mit oder ohne Harfen und Huris, ob man sich in der Hölle, dem Limbus, dem Olam Haba oder dem Nirwana wiederfindet, ob man reinkarniert, wahlweise in einem anderen (hoffentlich keinem Wurm-)Körper oder als Seele – darüber diskutieren Gläubige, Agnostikerinnen und Agnostiker genauso wie Atheistinnen und Atheisten seit Anbeginn der Welt.

Jetzt kommt, jedenfalls in Deutschland, eine erstaunliche Frage dazu: Möchte man nach seinem Tod eventuell gern von dem Schauspieler Jan Josef Liefers, dem Berliner Rechtsmediziner Prof. Dr. Michael Tsokos und dessen Team vor laufender Kamera obduziert und später in der Primetime des Privatfernsehens gesendet werden?! Die im Januar gestartete RTL-True-Crime-Dokumentation Obduktion hat schon mit der ersten Folge viel Aufmerksamkeit generiert – und gibt sowohl aus kultureller als auch aus Jugendschutzsicht einiges her.
 

TV Now: Obduktion – Echte Fälle mit Tsokos und Liefers (2021)



In der 90-minütigen Pilotsendung befassen sich Tsokos und der Tatort-Pathologe Liefers – der eine professionell, der andere als „Repräsentant des medizinisch interessierten Zuschauers“ – mit zwei echten Leichen, deren Todesursache zum Zeitpunkt des Filmens nicht feststand. Auf der Bildebene bleibt das Format dabei detailliert, aber zurückhaltend – man sieht Körper inklusive Blut und Innereien, Gesichter und Geschlechtsteile sind geblurrt, Organe werden nach und nicht bei der Entnahme gezeigt. Ärztinnen und Ärzte sowie die Pathologie-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter verhalten sich respektvoll und sachlich.

In einem der Fälle handelte es sich um einen nicht identifizierten Toten, die Obduktion an dem Unbekannten, der an einem öffentlichen Ort aufgefunden wurde, sollte Fremdverschulden ausschließen. Die Umstände des anderen Todes deuteten auf Suizid hin, diesen Verdacht musste die Berliner Rechtsmedizin durch eine Obduktion überprüfen.

Die Meinungen über Zulässigkeit und Programmierung einer Ausstrahlung der Dokumentation gehen weit auseinander. Aber vorausgesetzt, dass eine solche medienöffentliche Obduktion nie nach „natürlichen“ Toden stattfindet, sondern immer einen Anlass braucht (eine Straftat, die rechtlich verfolgt werden müsste, soll ausgeschlossen werden) und eine Erlaubnis der Angehörigen (sofern sie bekannt sind): Wo genau sitzt das unangenehme Gefühl? Kann tatsächlich eine „Totenruhe“ gestört werden, wenn ein Leichnam untersucht wird? Ist es pietätlos, einen toten Körper zu zeigen? Und wem gegenüber wäre es das?

Im Christentum, das bis ins 6. Jahrhundert eine „Präexistenzlehre“ vertrat (Seelen existieren schon vor der Entstehung des dazugehörigen Körpers), sowie im Judentum und dem Islam löst sich die Seele nach Ansicht der meisten Gläubigen nach dem Tod aus der Körperhülle, um später (z.B. nach dem Jüngsten Gericht) geläutert ewig zu bestehen. Eine Unversehrtheit der körperlichen Hülle ist somit schnell nicht mehr relevant, bisweilen und wenn alles gut läuft, ist diese Hülle eh rechtschaffen alt und verbraucht – allzu problematisch dürfte das Obduzieren derselben nicht sein. Denn die Ruhe einer Seele kann dadurch nicht gestört werden, hat sie sich doch längst im wahrsten Wortsinn aus dem Staub gemacht.

Aber falls sie doch irgendwo unsichtbar im Raum sitzt und sich ärgert, weil sie Jan Josef Liefers als TV-Pathologen schon zu (eigenen) Lebzeiten schlimm fand? Dann hängt sie anscheinend mehr an der Hülle und am Diesseits, als es die meisten Religionen zulassen. Ihr bliebe noch, ihr Missfallen durch Spuken kundzutun – an Geister jedoch glauben nur wenige Menschen.

Pietätlosigkeit gegenüber den Angehörigen ist ebenfalls kaum zu beweisen: Im vorliegenden Fall wurden keine Angehörigen gefunden bzw. hatten die Angehörigen keine Bedenken. Ein Gefühl der Pietät sollte man natürlich auch gegenüber Fremden entwickeln. Doch was genau ist pietätlos daran, einen toten Körper respektvoll zu untersuchen?
 

Trailer: Das letzte Wort (2020)



Dass der Tod ein großes Tabu sei, welches verkleinert gehöre, auch, um weniger verkrampft trauern zu können – in diesem Spirit sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder fiktionale Formate wie Six Feet Under – Gestorben wird immer oder Das letzte Wort  entstanden, die den Umgang mit dem Tod als Umgebung für menschliche Dramen nutzen und sich nebenbei zwanglos mit ihm auseinandersetzen. Die deutsche Miniserie Unter Freunden stirbt man nicht, in der eine Clique den Tod eines Freundes eine Weile verheimlicht, versucht ganz aktuell eine unkonventionelle Annäherung. Im Jahr 2007 erzählte der chinesische Regisseur Zhang Yang eine ähnliche Geschichte: In seiner Tragikomödie Nicht ohne meine Leiche transportiert ein Wanderarbeiter den Leichnam seines Freundes 1.700 Kilometer durch China und gibt ihn dabei mit einigen Tricks als Lebenden aus.
 

Trailer: Unter Freunden stirbt man nicht (2020)



„Der Tod gehört zum Leben“ – das ist unterm Strich die Botschaft all dieser Narrative. Und: Unsere Sterbekultur aber integriere den Tod nicht, sie schiebe ihn von sich. Wenn das so ist, könnte dann ein angemessen respektvoller Umgang mit toten Körpern nicht auch beinhalten, dass man sich diese tatsächlich anschaut? Wenn es nur um die Trauer geht, die Hinterbliebene empfinden und an die sie ängstlich denken, sobald sie sich durch ein solches Format der Sterblichkeit alles Lebendigen bewusst werden, dann dürfte man den Tod eh gar nicht mehr erwähnen. Weder im Fernsehen noch in der Zeitungsanzeige.

Der Tod darf nicht zu Unterhaltungszwecken ausgeschlachtet werden, das ist das letzte Argument gegen eine Sendung wie Obduktion. Doch Unterhaltung ist ein weiter Begriff – und mit dem Thema „Tod“ lassen sich auch dazugehörige Gefühle (Leid, Trauer, Wut) abhandeln. Was sich alle fiktionalen Dramen zunutze machen, in denen jemand stirbt, und alle Krimis, bei denen ein Mord zwar nur der Einsatzpunkt der Handlung ist, die aber ohne ihn nicht funktionieren. Öffnet – nach einer ähnlichen Befürchtung – eine solche Dokumentation dem respektlosen Umgang mit dem Tod also Tür und Tor? Im besten Fall öffnet es die Tür zu einem generellen Umgang.

Denn weil der Tod zu jedem Leben gehört, ist es vielleicht endlich an der Zeit, sein Verhältnis zu ihm auszuweiten. Was noch lange nicht heißt, dass man sich von Liefers untersuchen lassen muss. Nicht mal über meine Leiche.