Der Schlaf der Vernunft

Seit Jahrtausenden erschafft der Mensch Monster, um auf diese Weise seinen Ängsten ein Gesicht zu geben

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

„Menschen brauchen Monster“, sagt Wissenschaftsjournalist Hubert Filser: weil die Ungeheuer als Seismografen menschlicher Ängste dienten. Während Legenden und Mythen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens lieferten, stünden die Ungeheuer für unterschiedlichste Formen der Angst, aber auch für verborgene Sehnsüchte und versteckte Fantasien. Wissenschaftler aus verschiedenen Fachbereichen setzen sich mit Filsers Thesen auseinander.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 1/2018 (Ausgabe 83), S. 65-67

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Noch heute beschleicht manche Eltern ein leichtes Unbehagen, wenn sie ihrem Nachwuchs die Märchen der Brüder Grimm vorlesen. Hänsel und Gretel, die von ihren Eltern im Wald ausgesetzt werden, Wölfe, die nicht nur kleine Ziegen, sondern ganze Menschen vertilgen, dazu ein Sammelsurium an bösartigen Stiefmüttern und anderen finsteren Zeitgenossen: Das sind wahrlich Stoffe, die zartbesaiteten Gemütern zu schaffen machen können. Vor gut 40 Jahren hat Bruno Bettelheim die elterlichen Sorgen zerstreut, weshalb der deutsche Verlag dem bis heute populärsten Werk des Kinderpsychologen, The Uses of Enchantment (sinngemäß „Vom Nutzen der Verzauberung“, 1976), gleich einen entsprechenden Titel gab: Kinder brauchen Märchen. Es wird kein Zufall sein, dass der Wissenschaftsjournalist Hubert Filser für sein Buch über die Welt der Mythen, Sagen und Ungeheuer einen ganz ähnlichen Titel gewählt hat: Menschen brauchen Monster ist eine kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der Frage, warum sich die Menschen seit der frühen Steinzeit Wesen ausdenken, die gleichermaßen beängstigend wie faszinierend sind. Diese Monster, schreibt Filser, seien „so vielgestaltig wie unsere kleinen und riesengroßen Ängste“ (2017, S. 11). Der Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, wäre demnach äußerst nützlich, denn sämtliche dieser Wesen dienen laut Filser einem bestimmten Zweck; manche repräsentierten zudem verborgene Sehnsüchte und versteckte Fantasien.
 

Die dunkle Seite

Neben den klassischen Götter- und Heldensagen bieten vor allem die Literatur und das Kino eine Vielzahl an Bestien und Ungetümen, die Filser in verschiedene Bereiche aufteilt: Monster aus der Natur stünden für mögliche Gefahren in unbekannten Gebieten (King Kong) oder aus dem All (Alien) sowie für Kräfte, die der Mensch entfesselt hat (Godzilla als Menetekel der Atomenergie). Erschaffene Monster (Frankensteins Kreatur, der Golem, Terminator) seien eine Warnung davor, die Grenzen der Wissenschaft zu überschreiten. Innere Monster (der prototypische Mr. Hyde, aber auch die Teenagermörder aus Filmreihen wie Halloween, A Nightmare on Elm Street oder Scream) repräsentierten die dunkle Seite des Menschen. Während man die Geschöpfe aus dem Reich der Untoten (Dracula, Nosferatu) vielleicht als Schatten der Vergangenheit bezeichnen könnte, betrachtet Filser die Zombie-Filme von George A. Romero (Die Nacht der lebenden Toten [USA 1968], Zombie [USA/I 1978]) als Reaktion auf die Folgen der Umweltzerstörung. All diese Wesen böten die Möglichkeit, sich mit den jeweiligen Ängsten auseinanderzusetzen. Die Monster hätten zudem eine pädagogische Funktion, „weil sie uns aufzeigen, wo unsere Grenzen liegen“ (ebd., S. 261).

Die Thesen klingen sehr plausibel. Aber halten sie auch einer eingehenden Betrachtung stand? Durchaus, findet der emeritierte Erziehungswissenschaftler Ben Bachmair (ehemals Universität Kassel), und das heute womöglich noch mehr als früher:

Der Mensch braucht Sinnstrukturen, die der Alltag allein nicht liefert.“

Mythen hätten den Menschen schon immer geholfen, „den Sinn ihres Handelns auf einem einfachen Niveau herzustellen. Sie sind so aufgebaut, dass die Menschen das Hier und Jetzt mit der Welt außerhalb ihres Alltags in eine Spannung bringen können. Sie erinnern uns daran, dass es nicht nur ein Diesseits, sondern auch ein Jenseits gibt.“ Die alten Griechen hätten zu diesem Zweck die Welt der Götter oder die Unterwelt des Todes und der Dämonen herangezogen. In unserer heutigen säkularen Alltagswelt hätten die Medien diese Rolle übernommen. „Der Mensch lebt ständig mit der Angst, sein Alltag könne in Gefahr geraten: Der Boden bricht weg, und wir purzeln geradewegs in die Hölle. Berichte über Katastrophen und Tragödien sorgen dafür, dass wir diese Angst nie verlieren, weil sie uns daran erinnern, dass unsere Sicherheit trügerisch ist. Fiktionale Geschichten erfüllen einen ähnlichen Zweck. Unsere Welt ist durchtechnologisiert, aber wir ahnen: Es gibt noch eine zweite Ebene; und dieser Ebene geben Romane, Filme oder Video- und Computerspiele ein Monstergesicht. Viele Menschen empfinden die Basis ihres Lebens als unsicher, es brechen Löcher auf, und aus diesen Löchern glotzen merkwürdige Monster heraus.“
 

Zombies sind auch nur Konsumtrottel

Auch der Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger teilt Filsers Einschätzung:

Monster sind ein Mittel zur Komplexitätsreduktion externalisierter Ängste, die auf diese Weise leichter handhabbar sind.“

Die Einteilung der Monsterwelt hält er ebenfalls für einleuchtend, wie er am Beispiel von Mary Shelleys 1818 entstandenem Buch Frankenstein oder der moderne Prometheus erläutert: „Kernmotiv ist die tief verwurzelte Angst des Menschen in der Frühzeit der Industrialisierung vor den neuen technologischen Möglichkeiten. Frankensteins aus Leichenteilen zusammengesetztes und mithilfe von Elektrizität zum Leben erwecktes Monster ist der Versuch, einer diffusen Angst ein Gesicht zu geben und sie auf diese Weise beherrschbar zu machen.“ Das gelte im Grunde für alle klassischen Monster, „bei denen leicht erkennbar ist, welche Ängste sie symbolisieren und somit rationalisieren. Es ist kein Zufall, dass Romero den größten Teil der Handlung von Zombie in einem Einkaufszentrum angesiedelt hat: Der Zombie ist auch nur ein Konsumtrottel.“ Hallenberger geht davon aus, dass der Bedarf an Ungeheuern aller Art heute eher noch größer ist als früher: „Die meisten Menschen haben die Welt schon immer als unübersichtlich wahrgenommen, aber heutzutage wird Gesellschaft zunehmend komplexer; somit wächst auch das Verunsicherungspotenzial.“ Bis zum 18. Jahrhundert sei der Lebensweg vom Moment der Geburt bis zum letzten Gang im Prinzip vorbestimmt gewesen. „Angst war in hohem Maß über die Religion organisiert, sowohl hinsichtlich ihrer Erzeugung wie auch ihrer Ableitung: Wer ein gottgefälliges Leben führt, kommt in den Himmel, allen anderen droht die Hölle. Verursacht wurden die Ängste durch natürliche Phänomene, die aus heutiger Sicht leicht erklärbar sind, jahrtausendelang aber überirdischen Mächten zugeschrieben wurden: Wird die Ernte durch ein Unwetter vernichtet, hat sich der Zorn der Götter entladen.“ Die Industrialisierung beschere dem Menschen beinahe unbegrenzte Möglichkeiten, aber auch die Unsicherheit sei entsprechend gewachsen: „Es ist ein Unterschied, ob Wien von den Türken erobert wird oder ob ein ganzer Kontinent infolge einer radioaktiven Katastrophe zugrunde geht. Das ist die Globalisierung des Unglücks: Alles, was passiert, kann noch in Tausenden Kilometern Entfernung eine Resonanz verursachen. Die Orientierungserfordernisse sind daher viel größer geworden. Es gibt unendlich viel mehr Weltwissen als vor 100 Jahren, aber die Aufnahmekapazität des Menschen ist nicht mitgewachsen.“
 

Niemand hört dich schreien

Der Diplom-Psychologe und Autor Gerhard Bliersbach interessiert sich vor allem für die Rolle, die die filmischen Monster im Zusammenhang mit den archaischen Ängsten spielen:

Sie sind die verkörperlichten Symbole, in denen wir gefahrlos unsere archaischen existenziellen Ängste wiederbeleben können.“

Der Psychotherapeut erinnert an das Motto, mit dem 1979 für Alien geworben worden ist: „Im Weltraum hört dich niemand schreien.“ Die Fremdheit der Monster, „vor denen wir uns fürchten, verdeckt den Schrecken, den man empfindet, wenn man sich im Zustand höchster Angst selbst fremd wird.“ Das Unheimliche, verweist Bliersbach auf Freud, sei vor allem deshalb unheimlich, weil es versteckt heimlich sei: „Monster sind Verkörperlichungen und Symbolisierungen unserer archaischen Ängste, die schwer zu greifen sind. Die Angst ist im Gegensatz zur Furcht ein unklarer und daher nicht fassbarer Affekt. Furcht bezieht sich auf Gefahren, die wir kennen. Ängste dagegen basieren auf ganz frühen Erfahrungen, die uns immer noch in den Knochen stecken. Ein Säugling z.B. wird von existenziellen Ängsten befallen, wenn seine Bedürfnisse nicht in gewohnter Weise gestillt werden.“ Diese Ängste tauchten in bestimmten Lebensphasen wieder auf, etwa in Form von Albträumen, die ein Teil des Verarbeitungsprozesses seien. „Aber die Ursachen verschwinden nicht, sie können jederzeit wieder zum Leben erwachen. Deshalb schauen wir mit wohligem Gruseln zu, wenn wir uns in der Sicherheit eines Kinosaals oder des heimischen Wohnzimmers befinden und sich jemand anders mit solchen Ängsten rumplagen muss.“ Medien wie Zeitung, Fernsehen und Internet wiederum erinnerten mit ihren Schreckensmeldungen an die Brüchigkeit des Alltags, „aber die Redaktionen sortieren und kommentieren diese Meldungen. Auf diese Weise werden die ständigen Beunruhigungen und Irritationen in eine Form gebracht.“ Das gelte auch für Spielfilme. Das Gesamtwerk Alfred Hitchcocks lebe geradezu davon, „dass sich im Alltag Abgründe auftun, die am Ende aber doch noch irgendwie überbrückt werden.“ Der moderne Mensch habe „ein tiefes Bedürfnis, sich seiner Existenz, seiner inneren Ordnung und der Sicherheit seines Gefüges zu versichern. Diese Absicherung läuft permanent, aber unterhalb unserer Bewusstseinsebene. Das gilt für alle Lebenslagen. Wir leben in einer ständigen Vergewisserung unseres Lebenskontextes, wir müssen uns andauernd überzeugen, dass das Eis, auf dem wir stehen, auch massiv genug ist, um uns zu tragen.“ Wie Hallenberger, so spricht auch Bliersbach davon, dass die Verunsicherungen ständig zunehmen. Als Beispiel führt er die Digitalisierung an, die vielen Menschen „wie ein undurchdringliches Labyrinth“ erscheine: „Dauernd tun sich Abgründe auf, die jene archaischen Ängste in uns wachrufen, mit denen wir schon als Säugling konfrontiert worden sind. Auslöser können ganz banale Dinge sein: ein Computer, der nicht funktioniert, oder ein Auto, das nicht anspringt.“ Hallenberger erwähnt in diesem Zusammenhang das Phänomen der sogenannten Horrorclowns als „Metapher für die bodenlose Verunsicherung.“ Wie in Stephen Kings Roman Es entpuppe sich ausgerechnet der lustige Clown als böse. „Die Botschaft ist klar: Traue nichts und niemandem!“
 

Brauchen Kinder Monster?

Erwachsene Menschen scheinen die Monster also in der Tat ebenso sehr zu brauchen wie Kinder die Märchen. Aber brauchen auch Kinder Monster? Nach Ansicht von Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend und Bildungsfernsehen (IZI, München), bieten Monster den Kindern die Möglichkeit, sich mit jenen Anteilen ihrer Persönlichkeit auseinanderzusetzen, die gesellschaftlich nicht erwünscht seien: „Wir wünschen uns Kinder, die freundlich, gut gelaunt, sozial, höflich und nicht zu wild sind. Wenn sie sich anerkannt und geliebt fühlen, versuchen die Kinder, diesen Ansprüchen weitestgehend zu genügen. Figuren, die wild, rau und unzivilisiert sind, helfen ihnen, zumindest in ihrer Fantasie auch die anderen Teile ihres Selbst zuzulassen.“ In diesem Sinne erwiesen sich Monster also als hilfreich, zumal auch die spielerische Verkörperung eines solchen unbändigen Wesens ausgesprochen lustvoll sein könne. Entscheidend sei allerdings, „dass diese Monster aktiv genutzt werden und beherrschbar sind.“ Das Gegenteil seien Ungeheuer, „die die Kinder in Angstzustände versetzen oder sie in ihrer Entwicklung und Bewegungsfreiheit begrenzen. Der Gedanke an ein Monster unter dem Bett kann körperliche Angstzustände hervorrufen. Die Vorstellung eines Monsters, das hinter einer bestimmten Ecke des Schulwegs lauert, kann die gesamte Freude an der Schule verderben.“ Erwachsene nähmen diese seelischen Nöte der Kinder jedoch oft nicht wahr: „Typischerweise erschreckt der Vater aus Spaß sein Vorschulkind und übersieht dabei, wie verängstigt es ist und wie sehr es diese Hilflosigkeit hasst.“ Götz hatte im Rahmen eines weltweiten Projekts in den letzten Monaten viel mit Flüchtlingskindern zu tun und hat festgestellt, „dass Kinder mit traumatischen Erlebnissen Monster fantasieren, die ihnen ein Gefühl tiefster Hilflosigkeit vermitteln.“ Diese Kinder bräuchten Menschen, „die sie sensibel unterstützen. Wenn sie anfangen können, über die Monster zu sprechen, sie zu malen und sich gegen sie zu wehren, ist der erste Schritt getan.“ Solchen Ungeheuern ist sie auch schon bei Erwachsenen begegnet, die düstere Erinnerungen an kindliche Medienerlebnisse mit sich herumtragen und sich deshalb z.B. jedes Mal überwinden müssen, in einem dunklen Gewässer zu schwimmen; im See könnte ja aller Logik zum Trotz ein weißer Hai lauern. Das, sagt Götz, seien Monster, „die kein Mensch braucht und über die die Erwachsenen auch nur sehr ungern sprechen.“
 

Literatur:

Bettelheim, B.: Kinder brauchen Märchen. Stuttgart 1977
Filser, H.: Menschen brauchen Monster. Alles über gruselige Gestalten und das Dunkle in uns. München 2017