„Der Druck auf die Kleinen lenkt von der Verantwortung der Großen ab“

Christina Heinen im Gespräch mit Kai-Uwe Hellmann

Die Forderung, nachhaltig und verantwortungsbewusst zu wirtschaften, wird längst nicht mehr ausschließlich an Unternehmen gerichtet, auch der Verbraucher soll seinen Konsum an ethischen Maßstäben ausrichten. Wie ist die Forderung nach einem moralisch einwandfreien Konsum zu bewerten, kann man so wirklich etwas bewirken? Dr. Kai-Uwe Hellmann, Professor für Konsum- und Wirtschaftssoziologie an der Technischen Universität Berlin, forscht zu der gesellschaftlichen Bedeutung des Konsums. tv diskurs sprach mit ihm über die identitätsstiftende Funktion des Konsums, die Bindung an (Sender‑)Marken und darüber, wie Glaubwürdigkeit entsteht.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 1/2020 (Ausgabe 91), S. 36-40

Vollständiger Beitrag als:

Wirkt Konsum tatsächlich identitätsstiftend?

Auf den ersten Blick würde man diese Frage sogleich bejahen wollen. Allzu offensichtlich spielt der Konsum, ob bei der Ernährung, der Kleidung, gewissen Marken oder dem Urlaub, für die persönliche Identität vieler Personen eine herausragende Rolle. Dieser bedeutende Sozialisationsfaktor wurde auch schon für Kinder gut untersucht. Und es ist ja sicher nicht schwer, einem Großteil der Werbung entsprechende Botschaften zu entnehmen: lebensstilorientiert, personalisiert, zielgruppenspezifisch. Konsum deckt sicher einen enorm großen Bereich in unserem Leben ab, genießt für viele allerhöchste Aufmerksamkeit, sicher mehr als Politik oder Wissenschaft. Konsum begleitet unseren Alltag fast durchgängig. Dass vor diesem Hintergrund der Konsum für unsere persönliche Identität eine bedeutende Rolle spielt, liegt eigentlich auf der Hand. Zugleich ist die Forschung zu dieser Fragestellung gar nicht so großartig, wie man vielleicht denken mag, eher überschaubar. Man versichert sich dieser Verbindung oftmals allzu voreilig. Aber groß angelegte Studien mit repräsentativem Anspruch, die dieser Frage wirklich einmal auf den Grund gegangen wären, gibt es kaum. Vielleicht ist dies auch gar nicht mehr nötig, wenn man mit wachen Augen unterwegs ist. Aber es liegen dafür kaum evidenzbasierte „harte“ Befunde vor.

Woher kommt es, dass der Konsum eine so große Bedeutung für das Selbstverhältnis und das Verhältnis zu anderen erlangen konnte?

Ich würde hier zunächst historisch argumentieren. In vormodernen Gesellschaften war das Selbstverhältnis in erster Linie durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie bzw. Schicht geregelt. Selbst- und Fremdverhältnis waren fast synonym zu sehen. Denn Individualisierung, wie wir das heute in diesem hypertrophen Ausmaß kennen, gab es damals kaum. Konsum hatte dementsprechend auch längst nicht den Stellenwert wie heutzutage. Man konsumierte gemeinsam und durchweg so, wie es sich gehörte und allgemein vorgegeben war, ohne darüber spezielle Distinktions- oder Positionsgewinne zu seinen Nächsten erzielen zu wollen. Vielmehr war der weitgehend gleichförmige Konsum aller Familien- bzw. Schichtmitglieder eine Funktion der sozialen Integration, der Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit. Heutzutage ist der Trend zur fortschreitenden Individualisierung, selbst wenn sich die sozialen Unterschiede in rein dekorativen Elementen erschöpfen sollten, nur symbolhaft und rein äußerlich wirkend, eindeutig vorherrschend. Die Orientierung an Traditionen hat demgegenüber stark nachgelassen. Es gibt zwar weiterhin noch Familien und Schichten, mittlerweile sagen wir eher Lebensstile dazu. Doch diese sind längst nicht mehr so leistungsstark und allumfassend für die je eigene Lebensführung. Angesichts dieser Veränderungen ist unser Selbstverhältnis nicht mehr einfach von außen vorgegeben, sondern wird quasi zur lebenspolitischen Herausforderung jedes Einzelnen. Denn nunmehr müssen wir selber entscheiden und uns darauf festlegen, wer wir sein und wie wir leben wollen. Und hierbei liefert Konsum eine ganz eigene Welt der Möglichkeiten. Gleichsam wie in einem Kaufhaus, wo wir zwischen Tausenden von Waren auswählen können, stellt sich uns der Konsum als ein Universum von Lebenswegen und -varianten dar, zwischen denen man frei wählen zu können glaubt, so die fantastische Imagination der Werbung. Kurzum: Konsum ist zu einer zentralen Substitutionsoption für die Gestaltung unseres Selbstverhältnisses wie auch unseres Verhältnisses zu anderen geworden. Durch und über Konsum nehmen wir unsere Positionierung im sozialen Raum maßgeblich vor. Er ist eine sehr verbreitete, sehr überzeugende und durchaus wirkungsmächtige Möglichkeit geworden, um sich selber zu definieren, zu kreieren, zu präsentieren und zu transformieren, um Kontakte mit anderen zu knüpfen und sich von anderen wiederum abzugrenzen. In gewisser Weise füllt moderner Konsum ein größer werdendes Vakuum aus, das der stetige Traditionsschwund im Laufe der (post‑)modernen Gesellschaft hinterlässt, und wir alle bedienen uns relativ naiv immer gerade dort, wo es uns opportun erscheint, und sei es eben der Konsum. Insofern hat man es mit einem mehrdimensionalen Prozess zu tun, mit Verlust und Gewinn, mit Nachfrage und Angebot.

Wenn man sich die hohe Bedeutung des Konsums für das Selbstverhältnis und die Vergemeinschaftung vergegenwärtigt, wird es plausibel, dass der Konsum auch im Hinblick auf seine ethische Vertretbarkeit und sein Verhältnis zu eigenen und den Wertmaßstäben der anderen hinterfragt wird. Wie bewerten Sie die inzwischen ja mit einem gewissen sozialen Druck verbundene Forderung, nachhaltig und verantwortungsbewusst zu konsumieren?

Einerseits ist es naheliegend und durchaus nachvollziehbar, wenn bei den mit der Nachhaltigkeitsthematik verbundenen Problemen auch jeder einzelne Konsument mehr zur Verantwortung gezogen wird, dass man an sie oder ihn appelliert, mehr Verantwortung zu zeigen und nachhaltiger zu konsumieren, keine Frage. Andererseits darf doch hinterfragt werden, welche Motive und Strategien hinter solchen Appellen stecken. Denn es wäre viel effektiver, wenn der Staat entsprechende Regeln erlassen würde, an die sich alle halten müssen, die nicht nachhaltig produzieren und distribuieren, als dass zu weitgehend unkoordinierten und anonymen Massenaktionen aufgerufen wird, „boycotts“ wie „buycotts“, die am Ende dann, betrachtet man etwa die einprozentigen Anteile echter Bioprodukte am deutschen Lebensmitteleinzelhandel, kaum die Massen ergreifen, sondern sich im Klein-Klein verlieren. Irgendwie lenkt der Druck auf die Kleinen von der Verantwortung der Großen ab. In der Richtung passiert mir zumindest zu wenig, ob es den neuen Klimakompromiss, die Zurückhaltung bei der Verschmutzung der Welt durch Plastik oder die Schonung des Flugverkehrs betrifft, um nur Beispiele zu nennen. Klar, man muss die Menschen mitnehmen, man darf sie nicht völlig überfordern. Aber diese mediale Stimmungsmache, diese hohen Erwartungen, die man in diesem Zusammenhang auf die Konsumentinnen und Konsumenten richtet, erscheinen mir kaum mehr als mediales Getöse, laut, aber wirkungslos. Ändert deswegen jemand seine Lebensführung? Geht es wirklich um Verantwortungsbereitschaft oder um Verantwortungszustimmung? Ist dies nicht ebenso eine Blase, die sich ihrer selbst absolut gewiss ist und das Evangelium vor sich herträgt? An wen richtet sich diese frohe Botschaft? Und von wem wird sie so eifrig verbreitet? Ist dieser Diskurs geeignet, alle zu adressieren und erfolgreich zu mobilisieren? Oder ist es nicht vielmehr ein Elitendiskurs, ein Diskurs der Bessergestellten und Besserwisser? Wie bringt man diese Botschaft an den einfachen Mann, die reiche Frau? Was ist mit der Weltbevölkerung? Wo tauchen die in diesem Diskurs auf?

Wie könnte man den Diskurs über Nachhaltigkeit konstruktiver führen?

Einerseits sollte Doppelmoral tunlichst unterbleiben, sonst macht man sich gleich unglaubwürdig. Andererseits hat sich diese mehrjährige Debatte inzwischen auf einem Level eingepegelt, das ebenso penetrant wie vage bleibt. Jeder soll nachhaltig handeln, aber kaum jemand weiß, wie man das pragmatisch umsetzt, gemäß den individuellen Lebensverhältnissen. Daraus resultiert eine gewisse Bewegungslosigkeit der Bevölkerung, mehrheitlich, die nicht genau weiß, was sie tun soll, ausgenommen ein kleines Grüppchen, das es besser weiß. Und in den Medien lässt sich ohnehin vieles fordern. Weil nun aber ganz unterschiedliche Publika involviert sind, von den Hochengagierten bis zu den Ignoranten, ähnlich dem Verlaufsschema der „Diffusion of Innovations“-Kurve von Everett Rogers, empfiehlt es sich vielleicht doch, gemäß der Unterscheidung „talk“, „decision“ und „action“ von Nils Brunsson aus dem Buch The Organization of Hypocrisy Scheinheiligkeit nicht zu verteufeln, sondern zu kultivieren und zu professionalisieren, um diesen Diskurs konstruktiver zu führen. Also unterschiedliche Botschaften auszusenden, die sich nicht zwingend in Deckung miteinander befinden müssen. Was bedeutet das konkret? Es geht darum, den Diskurs über Nachhaltigkeit einerseits deutlich zielgruppenspezifischer zu führen, gemäß den jeweiligen Lebensverhältnissen der adressierten Bezugsgruppen, um ihnen nur so viel abzuverlangen und nahezulegen, wie sie relativ geschmeidig in ihre laufende Lebensführung einzufügen vermögen, und das ist mal sehr viel, mal weniger bis kaum etwas. Andererseits täte diesem Diskurs etwas mehr soziologische Reflexion sicher gut, um diese unterschiedlichen Diffusions- und Lerngeschwindigkeiten angemessen einzuordnen und darüber nicht ungeduldig zu werden. Manche preschen vor und sind die Avantgarde, die sogenannten „Lead User“, andere stolpern hinterher, die sogenannten „Laggards“. Doch all diese unterschiedlichen Lebensstilgruppen habe ihre eigene Legitimität, ihre eigenen Bewegungsspielräume und Lernkapazitäten. Auf diese Unterschiede viel genauer einzugehen und eine differenziertere Umsetzungsstrategie zu verfolgen, erscheint mir konstruktiver, als ständig diesen medialen Druck gegenüber jedermann aufzubauen. Dies hat ja offenbar kaum Aussicht auf Erfolg.

Wie funktioniert die Bindung an eine Marke? Und unterscheiden sich Sendermarken diesbezüglich grundlegend von anderen Marken?

Themenwechsel, einverstanden. Zunächst zur Markenbindung. Bindung kann grundsätzlich extrinsisch oder intrinsisch motiviert sein. Ist sie extrinsisch, also durch äußere Anlässe bedingt, unterwirft man sich quasi einer Art Notwendigkeit, sozusagen einem Sachzwang, der einem auferlegt wird, dem man nicht einfach ausweichen, dem man sich nicht folgenlos entziehen kann. Man folgt, aber nicht ganz freiwillig – und womöglich nur so lange, wie der Zwang fortbesteht. Fällt dieser weg, fallen womöglich auch die Compliance und damit die Bindungsbereitschaft weg. Ganz anders bei einer intrinsisch motivierten Bindungsbereitschaft. Hier handelt man aus innerer Überzeugung, womöglich auch aus Einsicht in eine Notwendigkeit, aber diese Einsicht ist Ausdruck des inneren Wertesystems, der eigenen Weltanschauung. Und hier bleibt man sich auch treu, wenn Verhältnisse sich ändern mögen, weil die eigene Identität investiert wurde, weil es dann um die Frage geht: Wer bin ich? Was ist mir dieses Engagement wert? Wie viel bin ich mir selber wert? Mit Max Weber könnte man sagen: Extrinsisch motivierte Bindung ist zweckrational ausgerichtet, intrinsisch motivierte Bindung hingegen wertrational. Aber das ist nur eine Annäherung. Übertragen auf Marken würde dies bedeuten: Es gibt extrinsisch motivierte Markenbindung, etwa bei einer Mode, da macht man mit, weil andere mitmachen, es wirkt gewissermaßen eine Art Gruppendruck. Und wenn die Karawane weiterzieht, zieht man ebenfalls mit und lässt die eben noch gefeierte Marke oder Mode fahren, weil man an diese nur extrinsisch, an die Gruppe aber intrinsisch gebunden ist. Hat man es dagegen mit einer intrinsisch motivierten Markenbindung zu tun, dann tritt zwischen Person und Marke kaum noch ein intermediäres, vermittelndes Element, sondern man geht eine direkte Bindung ein, weil es genau diese und keine andere Marke ist, auf die man aus ist, weil sie etwa die perfekte Kongruenz mit der eigenen Persönlichkeit darstellt, weil die Resonanz zwischen beiden als unübertreffbar befriedigend empfunden wird. Zu Ihrer zweiten Frage: Sendermarken unterscheiden sich nicht von anderen Dienstleistungsmarken, sofern sie als Marken wahrgenommen werden. Wobei das Image einer halbwegs konsistenten Marke bei Fernseh- oder Rundfunksendern sicher nicht leicht erreichbar ist. Handelt es sich um einen Sender, von dem man typischerweise Trash erwartet, darf diese Erwartung ebenso wenig durchbrochen werden wie bei einem Sender, der für Hochkultur steht, Beispiel ARTE: Dieser Sender vertritt sicher einen eher hochkulturellen Anspruch, und ich vermute, das Stammpublikum bindet sich an diesen Sender, weil er überwiegend liefert, was er verspricht. Gleichwohl dürfte es bei diesem Überangebot an Unterhaltungsformaten nicht ganz leicht fallen, diesem Anspruch immer treu zu bleiben. Aber grundsätzlich sind Sendermarken auch nur Dienstleistungsmarken und müssen sich dem gleichen Markenregime unterwerfen, wie es generell Anwendung findet.

Wie entsteht ein konsistentes, glaubwürdiges Markenimage?

Zunächst sollte zwischen Produkt und Marke unterschieden werden. Produkt ist das, was die eigentliche Leistung erbringt, Marke das Vertrauen, das man in das Leistungsversprechen dieses Produkts legt. Während das Produkt nach Einführung sofort verfügbar ist, entsteht eine Marke erst über die Zeit, indem anfangs Bekanntheit aufgebaut und später dann Vertrauen gebildet wird. Marke ist im Grunde selber ein Produkt, und zwar das Produkt der Kommunikation über das eigentliche Produkt. Damit eine Marke entsteht, sollte darauf geachtet werden, dass der Kunde an jedem Kontaktpunkt, über den er mit dem Produkt in Berührung kommt und Erfahrung mit ihm oder über es macht, möglichst nur genau das erlebt und erfährt, was ihm über die Kommunikation auch angekündigt und versprochen wurde. Eine gute Marke zeichnet sich dadurch aus, dass die Versprechungen, die man mit ihr verbindet, durchweg auch gehalten werden. Je mehr dies gelingt, je mehr der Kunde den Eindruck gewinnt, dass er sich auf das Produkt hundertprozentig verlassen kann – und dies ist eine Frage des professionellen Managements von Produktqualität und Markenkommunikation –, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass darüber ein konsistentes, glaubwürdiges Markenimage entsteht.

Können Sie ein Beispiel nennen für eine Dienstleistungsmarke, bei der das gelungen ist?

Da muss ich kurz improvisieren, indem ich mich auf die Expertise anderer verlasse. Auf dem diesjährigen KulturInvest!-Kongress in der Zeche Zollverein in Essen wurde der Kulturmarken-Award vergeben. Als die Europäische Kulturmarke des Jahres 2019 wurde jazzahead! gekürt – mit der Begründung, dass diese internationale Musikmesse durch eine besonders nachhaltige und konsequente Markenführung, Markenidentität und Positionierung überzeugt habe. Durch ihre unverwechselbare Kommunikation habe jazzahead! inhaltliche Konsequenz in Philosophie und Werten bewiesen. So das Urteil der Jury. Dieser Verweis ist natürlich nur behelfsmäßig einzuschätzen. Denn eine solche ganzheitlich wie nachhaltig angelegte Überprüfung der Markenperformance eines bestimmten Dienstleistungsunternehmens ist natürlich nicht einfach zu bewerkstelligen. Um ehrlich zu sein: Mir ist keine Studie bekannt geworden, die einen solchen Prüfansatz wirklich umfassend und wiederholt angewendet hätte, zumindest keine öffentlich publizierte. Aber darum ginge es: einen Rundumblick, eine Panoramaprüfung für Dienstleistungsmarken ins Werk zu setzen. Andernfalls bleibt der Nachweis oberflächlich und vorübergehend, man konzentriert sich auf das, was leicht greifbar ist, wie Corporate Design, Webdesign, zehn Fokusgruppen und eine groß angelegte quantitative Kundenbefragung: Was dabei herauskommt, ist ungewiss, und welche Haltbarkeitsdauer dies hat, umso mehr.
 

Dr. Kai-Uwe Hellmann ist Professor für Konsum- und Wirtschaftssoziologie an der Technischen Universität Berlin.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).