DEFA-Kinderfilm als kulturelles Erbe und zeitgeschichtliche Quelle

Klaus-Dieter Felsmann

Klaus-Dieter Felsmann ist freier Publizist, Medienberater und Moderator sowie Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Ende der 1980er-Jahre befand sich der DEFA-Kinderfilm auf dem Höhepunkt seiner Reputation. Innerhalb von 40 Jahren war ein beachtliches Œuvre an staatlich geförderten und finanzierten Spielfilmen für Kinder im Babelsberger Studio entstanden. Bedeutung hatten die Filme seinerzeit nicht nur innerhalb der DDR, sondern auch international. Im Rückblick unterlag die Wahrnehmung diverser Perspektivwechsel.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 88-93

Vollständiger Beitrag als:

1988 erschien im Münchner Wilhelm Heyne Verlag ein Lexikon zum Kinderfilm in der Bundesrepublik Deutschland (Lukasz-Aden/Strobel 1988). Hier heißt es im Vorwort, dass 40 % aller relevanten Filme aus der ČSSR, aus Dänemark und aus der DDR kämen. Der Filmstock aus diesen drei Ländern bildete mithin das Fundament des Kinderfilmangebots im westlichen Deutschland der 1980er-Jahre. Von 230 vorgestellten Filmen kamen dabei 25 aus den Studios der DEFA. Ohne sie wäre das Kinderkino der Bundesrepublik, so wie es sich in den 1980er-Jahren etabliert hatte, wesentlich ärmer gewesen.

Seit 1983 erreichte etwa das in Essen gegründete Kinderfilmfestival im Ruhrgebiet alljährlich mehrere Tausend Kinder in Oberhausen, Mühlheim und Essen. Mit Ausnahme der ersten Veranstaltung waren hier immer DEFA-Filme vertreten und man versuchte von Anfang an, auch die Regisseure zu ihren Filmen einzuladen. 1986 gewann Helmut Dziuba mit Jan auf der Zille (1986) den damals erstmals vergebenen Hauptpreis, den Blauen Elefanten. 1988 fand auf dem Festival ein Workshop mit der Filmcrew von Kai aus der Kiste (1988) von Günter Meyer statt. Im September 1987 wurden in Walsrode die 1. Niedersächsischen Kinderfilmtage veranstaltet. Unter den fünf gezeigten Filmen war hier die DEFA mit Gritta von Rattenzuhausbeiuns (auch: Gritta vom Rattenschloss [1985]) vertreten. Zu den 2. Niedersächsischen Kinderfilmtagen 1989 hatte man Gunter Friedrich mit seinem Film Hasenherz (1987) eingeladen. Helmut Dziuba war damals längst einer der Stars nicht nur im Münchner Kinderkino im Olympiadorf. Rolf Losanskys Filme bestimmten die Programme in Kinderfilmveranstaltungen von Konstanz bis Oldenburg und kein Festival, ob groß oder klein, wollte auf Beiträge aus Babelsberg verzichten. In allen nicht gewerblichen Verleihstellen – in diesem Segment fand damals der Kinderfilm in erster Linie statt – lagen die DEFA-Filme an der Spitze der Ausleihzahlen. Herrmann Zschoches Film Philipp, der Kleine (1976) hatte sich dabei im Verlaufe von zehn Jahren zum Dauerbrenner im westdeutschen nicht gewerblichen Kinderkino entwickelt.


Anhand der Veröffentlichungen der 1980 in München von Christel und Hans Strobel gegründeten Vierteljahresschrift „Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz“ (KJK) ist sehr gut abzulesen, wie der Prozess der Integration von DEFA-Filmen in die Kinderfilmarbeit der Bundesrepublik verlief. In erster Linie wurde nicht über politische Rahmenbedingungen reflektiert, sondern das Augenmerk lag auf den Filmen und deren potenziellem Wert für das eigene Kinderkino. In Heft sechs berichtet Bernt Lindner erstmals vom DDR-Kinderfilmfestival GOLDENER SPATZ in Gera. Er stellt fest:

Auffällig war die Zurückhaltung in politischen und agitatorischen Parolen während des Festivals sowie in den offiziellen und inoffiziellen Diskussionen und Gesprächen. Es festigte sich der Eindruck, als wolle die DDR den Kinderfilm aus der früheren politischen Isolation herausführen in ein offeneres, fröhlicheres pädagogisches Klima“ (Lindner 1981).

Als Steffen Wolf zwölf Jahre zuvor 1969 seine verdienstvolle – weil in der Bundesrepublik Neuland betretende – Studie zum Kinderfilm in Europa veröffentlichte, war von einer differenzierten Sicht auf den DEFA-Film noch nichts zu spüren. So schrieb Wolf mit Blick auf die auch von ihm ausgemachten Erfolge in der Kinderfilmproduktion und ‑distribution der DDR:

Diese beispiellose Entwicklung ist in erster Linie allerdings nicht das Verdienst einsichtiger Pädagogen oder überragender filmischer Leistungen, vielmehr wurde sie ermöglicht und wird sie getragen von dem vielfach erklärten Willen der Regierung und der Partei, möglichst weitreichenden Einfluss auf die Erziehung, Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen auszuüben“ (Wolf 1969).

Was die Rahmenbedingungen anging, hatte Wolf natürlich recht. Doch seine Sichtweise ließ keinen Spielraum zwischen dem ideologischen Postulat der Machthaber und dem, was tatsächlich im Kunstwerk wahrnehmbar ist.
 

Zäsur 1989

Im Herbst 1989 hatte das Staatsvolk in der DDR keine Lust mehr, erbauliche und dabei hoch subventionierte Kinderfilme anzusehen und gleichzeitig morbide Lebens- und Arbeitsräume ertragen zu müssen. Es wollte auch nicht mehr von der Leinwand aus hören, dass man eine selbstständig denkende Persönlichkeit werden sollte – und dabei gleichzeitig eingemauert zu sein. Der Druck auf das System wurde so stark, dass es in kurzer Zeit zusammenbrach und der Weg für die deutsche Wiedervereinigung frei wurde.

In der Folge verschwanden so ziemlich alle staatlichen Einrichtungen der DDR. So auch die DEFA. Damit war der Riege der etablierten Kinderfilmregisseurinnen und ‑regisseure die ursprüngliche Arbeitsgrundlage entzogen. Zunächst gab es nicht zu Unrecht – man hatte ja schließlich im gesamten deutschen Kulturraum einen Namen – einige Hoffnung, im alten Metier weiterarbeiten zu können. Doch das erwies sich schnell als Trugschluss. Jetzt kamen die Regisseure nicht mit fertigen Filmen, sondern sie konkurrierten mit ihren westdeutschen Kollegen um die spärlichen Produktionsgelder.

Die DEFA-Leute waren hier die „Zuspätgekommenen“. Gleichzeitig änderte sich bald sowohl beim ZDF als auch in der ARD, die bisher wichtige Säulen für die Produktion von Kinderfilmen gewesen waren, die grundsätzliche Programmorientierung. Damit verloren jetzt auch herausragende Protagonisten des westdeutschen Kinderfilms wie Thomas Draeger (Metin [1979] u.a.) und Arend Agthe (Flußfahrt mit Huhn [1984] u.a.) ihre ursprüngliche Wirkungsbasis als Kinderfilmmacher.

Die noch 1990 auf der Berlinale geäußerte Hoffnung, künftig gemeinsam Großes leisten zu können, erwies sich somit in doppelter Hinsicht als Seifenblase. Erst nach der Jahrtausendwende entwickelte sich, angestoßen durch das Kuratorium junger deutscher Film, sehr langsam wieder eine Basis für eine originäre Kinderfilmproduktion.

Blieb also nach 1990 allein die Hoffnung auf den bis dato vielfach gelobten Kinderfilmstock der DEFA. Vielleicht könnte immerhin der, als eine Art kulturelle Mitgift, in den Prozess der Wiedervereinigung eingehen? Dieser Frage ging 1994/1995 ein Projekt in Potsdam nach, wobei eine Arbeitsgruppe, paritätisch besetzt mit Kinderfilmexperten aus Ost und West, sämtliche DEFA-Kinderfilme sichtete und einzuordnen versuchte. Über das Anliegen äußerte sich damals die Projektleiterin Ingelore König mit Blick auf die Filme:

Sie im öffentlichen Bewusstsein zu behalten, sie in verschiedenen Bereichen – wie auch immer – verfügbar zu machen, schien bei dem sich ausbreitenden ‚Verdrängungsmechanismus‘ nachgerade notwendig, denn ihre Vorführung und Diskussion könnte einen wichtigen Beitrag zur Förderung der Identität der Menschen in Ostdeutschland und zum Verständnis ihrer Mediensozialisation und ‑biografien leisten“ (König/Wiedemann/Wolf 1996).

Herausgekommen ist bei dem löblichen Unternehmen ein schönes Buch zum Thema. Die erhoffte öffentlichkeitswirksame Ausstrahlung erzielte das Gesamtprojekt seinerzeit allerdings nicht. Einer der damals aus dem Westen gekommenen Mitarbeiter, Christian Exner vom Kinder- und Jugendfilmzentrum in Remscheid, sagt heute, dass die angestrebte Wirkung deshalb nicht erreicht werden konnte, weil bereits die Diskussion in der Arbeitsgruppe durch ideologisch geprägte Kontroversen überformt war. Der westliche Blick war wieder in den 1960er-Jahren bei Steffen Wolf, der alles als Ausdrucksform der SED-Ideologie gesehen hatte, und der Osten wehrte sich gegen die Entwertung des durch eigene Arbeit Geleisteten. In den folgenden Jahren blieb es, trotz diverser Einzelinitiativen, bei einer geteilten Wahrnehmung des DEFA-Filmerbes. Leider scheint dies symptomatisch für die generellen Schwierigkeiten des Vereinigungsprozesses zu sein. Das Erbe der DDR wurde in erster Linie als problematische Hinterlassenschaft einer Diktatur gesehen. Inzwischen wird das wieder etwas differenzierter hinterfragt. Das ostdeutsche Gesellschaftsexperiment war nicht nur Diktatur und es war zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen. Statt stets zu fragen, wie durchherrscht jeglicher Lebenszusammenhang war, erscheint es zielführender, nach Formen von „Eigen-Sinn“ zu suchen. Den gab es nachweislich auch im Kinderfilm und er hat sich oft in vielfach abgestufter Auseinandersetzung mit den Machtstrukturen herausgebildet.
 

„Von Pionieren und Piraten“ – eine Tagung zum DEFA-Kinderfilm 2019

Unter diesem Motto trafen sich im Februar 2019 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den USA und aus Deutschland, um an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg aktuelle Forschungsergebnisse zum DEFA-Kinderfilm vorzustellen und zu diskutieren. Dabei ging es nach der Co-Tagungsleiterin Steffi Ebert um die Frage, wie die Filme durch die Gesellschaft geprägt waren und wie diese darin folglich sichtbar wird. Welche ästhetischen Strategien kann man unterscheiden und wie waren die cineastischen Produkte wiederum für die Gesellschaft prägend?Es ist ein Leichtes, den ersten ausdrücklich als Kinderfilm gedrehten Streifen der DEFA, Die Störenfriede (1953) von Wolfgang Schleif, wegen der hier zu erlebenden Erziehung von zwei Außenseitern zu guten Kollektivmitgliedern als Propagandafilm einzuordnen und ihn damit im Orkus der Geschichte zu versenken.
 


Christian Rüdiger von der Freien Universität Berlin stellte sich auf der Tagung aber die Frage: Wie wird im Film utopische Gemeinschaftsbildung als emotionale Ebene in Bild und Ton gestaltet? Dabei fand er aus filmästhetischer Sicht auch Elemente des Heimatfilms. Das hat eine hochinteressante Dimension, wenn man weiß, dass der Regisseur Wolfgang Schleif nach Abschluss der Dreharbeiten die DEFA verließ und im Westen Deutschlands 1955 mit Die Mädels vom Immenhof erfolgreich reüssierte.

Sonja Klocke von der University of Wisconsin-Madison sah den von Heiner Carow gedrehten Sheriff Teddy (1957) als aufschlussreiche Quelle sozialer Genauigkeitsdarstellung. Sie hat den Film als kulturpolitisches und soziales Zeugnis gelesen, was symptomatische Aussagen für die Sozialisation der deutschen Nachkriegsgeneration in Ost und West ermöglicht.

Henrike Hahn aus Leipzig interpretierte die Darstellung des Neubaugebiets in Insel der Schwäne (1983) von Herrmann Zschoche als symbolischen Raum für Konflikte einer modernen Industriegesellschaft.

Sebastian Schmideler, ebenfalls aus Leipzig, sah angesichts von Günter Meyers Spuk im Hochhaus (1982) im Plattenbau einen symbolischen Raum für die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in Form der fantastischen Überhöhung.

Benita Blessing von der Oregon State University hat aufgezeigt, wie sich die Rolle der Vaterfigur vom positiv konnotierten und Geborgenheit gebenden Familienoberhaupt bis hin zur Feier des vaterlosen Lebens Ende der 1980er-Jahre entwickelt hat. Für sie war der DEFA-Kinderfilm ein Vorreiter für die Akzeptanz von verschiedenen Familienkonstellationen gewesen.

Die Tagung in Halle hat neue Perspektiven mit Blick auf den DEFA-Kinderfilm eröffnet. Es war zu erleben, dass diesbezüglich noch lange nichts „ausgeforscht“ ist. Der Filmstock ist eine interessante filmhistorische Fundgrube. Er vermittelt ein recht anschauliches und authentisches Bild hinsichtlich sozialer Strukturen innerhalb eines Systems, das vor 30 Jahren verschwunden ist, dessen Prägungen aber in den dort aufgewachsenen Menschen (und in ihnen nachfolgenden Generationen) virulent weiterhin vorhanden sind. Prägungen, die man in einer produktiven Auseinandersetzung durchaus als Zugewinn wahrnehmen sollte.*

Anmerkung:

* tv diskurs hatte im Vorfeld der DEFA-Kinderfilmtagung ein Interview mit der Mitorganisatorin Dr. Steffi Ebert geführt: Weinert, B.: Große Hinwendung zum Kind“. Fachtagung zum Kinderfilm der DEFA. In: tvdiskurs.de, 04.02.2019 (letzter Zugriff: 18.04.2019)
 

Literatur:

König, I./Wiedemann, D./Wolf, L. (Hrsg.): Zwischen Marx und Muck. DEFA-Filme für Kinder. Berlin 1996 (hier S. 11 f.)

Lindner, B.: Nationales Festival „Goldener Spatz“ für Kinderfilme der DDR im Kino und Fernsehen vom 6. bis 13. Februar 1981 in Gera. In: Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz, 6/2/1981, S. 13 – 17

Lukasz-Aden, G./Strobel, C.: Der Kinderfilm von A – Z. München 1988

Wolf, S.: Kinderfilm in Europa. Darstellung der Geschichte, Struktur und Funktion des Spielfilmschaffens für Kinder in der Bundesrepublik Deutschland, ČSSR, Deutschen Demokratischen Republik und Großbritannien 1945 – 1965. München-Pullach/Berlin 1969