Das Virus als Video-Menetekel

Der Corona-Call nach Coopetition in der TV-Branche

Frank Lobigs

Dr. Frank Lobigs ist Professor für Medienökonomie am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Er befasst sich insbesondere mit den medienwirtschaftlichen und publizistischen Auswirkungen der digitalen Transformation der Medien.

Die Coronakrise ist ein Menetekel für die deutschen Fernsehunternehmen: Um sich auch nach Corona in der digitalen Transformation gegen die US-amerikanischen Videostreaming- und ‑plattformriesen behaupten zu können, braucht die Branche mehr Kooperation. Die Medien- und Wirtschaftspolitik sollten geeignete Coopetition-Modelle fördern und nicht kartellrechtlich ausbremsen.

Printausgabe tv diskurs: 24. Jg., 3/2020 (Ausgabe 93), S. 44-48

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Das Coronaparadox auf dem TV-Markt

Paradox – dies ist ein Schlüsselwort, das in keiner Stellungnahme fehlt, die sich mit den Effekten der Coronakrise auf das TV-Geschäft beschäftigt. „Das hat es noch nie gegeben“, ist sich etwa RTL-Vermarktungschef Matthias Dang sicher – eine Explosion aller Reichweite- und Nutzungswerte auf den Zuschauermärkten, gleichzeitig ein beispielloser „Abriss“ auf dem Werbemarkt: „So abrupt und so tief wie diese Krise […] war noch keine“, stellte Dang Mitte Juni 2020 im Vodcast-Gespräch mit „Horizont“-Chefredakteur Volker Schütz fest.
 

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Die paradoxe Situation, die die Branche als so einmalig erlebt, schlägt sich natürlich auch in den Marktzahlen nieder: In einer Sonderanalyse zum Coronaeffekt sah etwa die AGF Videoforschung im April 2020 das TV-Lagerfeuer kräftig auflodern. Es werde deutlich mehr TV von deutlich mehr Menschen gesehen, belegten die AGF-Messungen, und selbst bei den jüngeren Zielgruppen erlebe das Fernsehen eine „Renaissance“.

Zeitgleich kamen indes die Spot-Stornierungen: Schon für den April hatten sich die TV-Werbe-Buchungen nahezu halbiert, noch über den Mai hinaus waren keine Verbesserungen in Sicht. Anfang Juni prognostizierte der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) für das Coronajahr 2020 einen Rückgang der Werbeinvestitionen von 10 bis 20 % – und dies auch nur für den Fall, dass die Lockerungen der Coronaeinschränkungen Bestand hätten. Schon 10 % wären indes ein Schock: Selbst im Finanzkrisenjahr 2009 betrug der Rückgang „nur“ 6 %, damals gingen die Werbeeinnahmen der Medien um gut 10 % zurück.
 

Die Coronakrise als Menetekel

Wäre der Coronaeinschlag nur eine heftige Delle in einem ansonsten nachhaltig stabilen Markt, müsste man sich, mindestens was die großen TV-Unternehmen RTL Deutschland (RTL) und Pro-SiebenSat.1 Media (P7S1) angeht, keine Gedanken machen. Bis in die letzten Jahre haben sie im klassischen Free-TV gute Gewinne gemacht, die das Bundeskartellamt in der Vergangenheit immer wieder auch mit einem „wettbewerbslosen Duopol“ auf dem TV-Werbemarkt in Verbindung gebracht hatte. Die insbesondere bei den Werbe-Vermarktungstöchtern IP Deutschland (RTL) und SevenOne Media (P7S1) realisierten Überschüsse flossen nicht nur an zufriedene Aktionäre, sondern oftmals auch in Großakquisitionen der Mutterkonzerne jenseits des TV- und Videokerngeschäfts.

Doch der Coronaeinschlag ist mehr als eine vorübergehende Renditenbelastung.

Er ist auch ein medienwirtschaftliches Menetekel: Die deutsche TV-Branche wird in der Coronakrise gewissermaßen von ihrer eigenen ökonomischen Zukunft heimgesucht. Denn Corona wird nun endgültig die unvermeidliche Zäsur in der digitalen Transformation des deutschen TV-Marktes markieren: Das lukrative alte Fernseh-Werbegeschäft wird im Vergleich zur Vor-Corona-Zeitrechnung zügig schrumpfen, und zugleich sind die deutschen TV-Unternehmen im digitalen Streaminggeschäft keine Marktmatadore mehr, sondern nur noch vergleichsweise kleine Opfer einer unerbittlichen Plattform- und Streamingrevolution durch die US-amerikanischen Internetgiganten wie Google (YouTube), Amazon und Netflix. Seit zwei Jahren kennen die Aktienkurse von ProSiebenSat.1 Media und der RTL-Group deshalb nur noch eine Richtung: abwärts. Die Werte von Amazon und Netflix erreichen indessen in der Coronakrise Rekordniveaus; Netflix avancierte als Krisengewinnler gar zum „wertvollsten Medienunternehmen der Welt“.

In der TV-Branche passiert also das, was die Wirtschaftsexperten auch generell erwarten: Die Coronakrise wird der umfassenden Plattformrevolution von Wirtschaft und Gesellschaft – also dem Prozess der Disruption und Transformation zunehmend vieler Wirtschaftsbranchen und Gesellschaftsbereiche durch die marktmächtigen Tech-Giganten – einen zusätzlichen mächtigen Push geben und die ökonomische Macht in Deutschland weiter in Richtung Tech-Konzerne verschieben.
 

Übermacht der US-Streamingriesen

Vom AGF-bejubelten Zwischenhoch in der Fernsehnutzung darf sich somit niemand blenden lassen. Es ist genauso klar und ausschließlich coronabedingt wie der parallele Absturz der Werbemärkte. Die Übernachfrage hat sich stark auf die Coronaberichterstattung der Sender gerichtet – aus publizistischer Sicht ein verdienstvoller Erfolg, in etwas sarkastischer ökonomischer Rechnung nur ein Danaergeschenk der Krise: hohe Kosten, null Erlöse. Sollten sich die Zeiten normalisieren, wird sich die Übernachfrage des Publikums schneller wieder verflüchtigen, als sich die Werbemärkte erholen können.

Was indes bleiben wird, ist eine weitere strukturelle Verschiebung der Videonachfrage zu den großen kostenpflichtigen Streamingplattformen Netflix und Amazon Prime Video. Auch hierfür lieferte die AGF mit den im Juni 2020 publizierten Ergebnissen der TV-Plattform 2020-I-Studie erste Zahlen: Bereits in den ersten Wochen des Lockdowns lag die Nutzung der beiden auch in Deutschland marktbeherrschenden Angebote deutlich über den Werten vom Herbst 2019; seit Beginn der halbjährlich durchgeführten Studie im Frühjahr 2017 hat sich die Nutzung von Netflix mehr als verdreifacht, die von Amazon Prime Video mehr als verdoppelt. Allen aktuellen Marktprognosen zufolge wird sich diese Entwicklung fortsetzen. Medienökonomisch betrachtet geht die Übermacht der US-amerikanischen Streaminganbieter dabei vor allem auf weltweit genutzte Größenvorteile zurück.
 

Dominanz von Google und Facebook auf dem Onlinewerbemarkt

Laut der Goldmedia-Studie Streaming Market Germany 2020 wird der gesamte Video-on-Demand-Markt in Deutschland im Umsatz von 4,3 Mrd. Euro im Jahr 2020 auf 6,5 Mrd. Euro im Jahr 2024 anwachsen. Das Marktvolumen läge dann bereits weit über dem Gesamtumsatz des klassischen Fernsehens. Enthalten sind hier allerdings auch Schätzungen für die Einnahmen mit In-Stream-Werbespots, die der ZAW für 2019 auf 780 Mio. Euro beziffert.

Doch auch beim Onlinewerbemarkt gilt, dass die heimischen Medienunternehmen an den wachsenden Einnahmen nur einen erschreckend marginalen Anteil haben. Der In-Stream-Video-Werbemarkt wird dabei von YouTube und Facebook dominiert, wobei die besondere Marktbedeutung von YouTube als marktbeherrschende Plattform für werbefinanzierte Videoinhalte im Web-TV-Monitor 2019 (Goldmedia) deutlich nachgezeichnet wird. Im gesamten Onlinewerbemarkt sind indes die Gesamtkonzerne Google (Google Search, YouTube, Google-Ads-Netzwerke) und Facebook (Facebook, Instagram, Facebook Audience Network) als duopolistisch marktbeherrschend zu bezeichnen.

In seiner Jahresbilanz 2019 kritisiert der ZAW das „außergewöhnliche Maß“ der Marktkonzentration, die drohe, „zukünftig weiter beschleunigt zu werden“, ungewöhnlich deutlich und fordert die Politik zu Gegenmaßnahmen auf. In einem aktuellen Leitartikel des Werbe- und Marketingfachblatts „Horizont“ schreibt Chefreporter Jürgen Scharrer in Bezug auf die Coronakrise:

„Sollten die US-Plattformen in der größten Werbekrise der jüngeren Geschichte tatsächlich ihre Marktanteile weiter massiv ausbauen – und sehr viel spricht dafür, dass genau das gerade passiert –, wäre das dramatisch […]. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Stabilität des deutschen Marktes und womöglich sogar die Medienvielfalt.“
 


Förderung von übergreifenden Coopetition-Modellen als Antwort

Wie soll die deutsche Medienpolitik, wie soll die deutsche TV-Branche auf solche Aussichten strategisch reagieren? Die Lösung lautet Coopetition: Kooperation („coop-eration“), die den publizistischen Wettbewerb („comp-etition“) stärkt!

Warum etwa gibt es in Deutschland noch keine übergreifenden Streamingplattformen der großen privaten und öffentlich-rechtlichen TV-Unternehmen wie die 2019 in Großbritannien gelaunchte BritBox und die im Herbst 2020 in Frankreich an den Start gehende Salto-Plattform? Die Vorteile liegen auf der Hand! In der Vergangenheit sind frühe Ansätze zu solchen Plattformen (Amazonas, Germany’s Gold) an Einsprüchen des Bundeskartellamtes gescheitert. Hier sollte das Kartellrecht endlich angepasst werden im Sinne eines stärker publizistisch statt nur ökonomisch ausgerichteten Wettbewerbsrechts.

Als vielleicht noch wichtiger erscheinen die Planung und Förderung eines übergreifenden Coopetition-Modells der publizistischen Medien für den Onlinewerbemarkt. Selbst die Werbewirtschaft und die werbungtreibende deutsche Industrie brauchen und wünschen sich eine qualitäts-, marken-, datenschutz- und demokratiekompatible deutsche Alternative zu den diesbezüglich fragwürdigen, aber derzeit noch konkurrenzlosen und marktbeherrschenden Werbesystemen von Google und Facebook. Es ist also an der Zeit, auch im Onlinewerbemarkt die Kräfte zum Aufbau eines gesamtwirtschaftlich sowie auch publizistisch wertvollen Gegengewichts zu bündeln. Anknüpfen könnte man z.B. an Login-Allianzen, wie etwa die stiftungsbasierte NetID-Allianz, und auch hier könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk als ein „market strengthener“ helfen. Wenn die Regierungskoalition für das Coronakonjunkturpaket nach Projekten für eine investive und nachhaltige Wirtschaftsförderung sucht: Hier wäre eines, das nicht nur dem ökonomischen, sondern zugleich auch dem publizistischen Wettbewerb dienen würde.

Grundsätzlich wäre es sinnvoll, die Etablierung solcher Coopetition-Modelle medienpolitisch aktiv zu fördern. Hier könnte Deutschland z.B. von der Schweiz lernen, wie ein Ländervergleich der medienpolitischen Förderung sinnvoller Medienkooperationen zeigt. Generell erscheint eine „kooperationsorientierte Weiterentwicklung der Medienordnung“ angesichts der Herausforderungen der fortschreitenden Plattform- und Streamingrevolution der Medien als geboten (vgl. näher Gostomzyk u.a. 2019). In Anbetracht der Pandemie gilt dies umso mehr: Corona calls for coopetition.
 

Literatur:

AGF Videoforschung GmbH: TV-Plattform 2020-I. Frankfurt am Main 2020

Goldmedia GmbH: Web-TV-Monitor 2019. Berlin 2019

Goldmedia GmbH: Streaming Market Germany 2020. Berlin 2020

Gostomzyk, T./Jarren, O./Lobigs, F./Neuberger, C.: Kooperationsorientierte Weiterentwicklung der Medienordnung. Studie im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft vbw. München 2019. Abrufbar unter: https://www.vbw-bayern.de