Das letzte Lagerfeuer der Nation

Selbst nach 1000 Folgen ist der TATORT immer noch ein Dauerbrenner

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Für viele endet das Wochenende mit dem Tatort am Sonntagabend. Und das schon seit 46 Jahren. Keine andere Krimireihe schafft es, so beständig Zuschauer vor den Bildschirmen zu versammeln. Der 1000. Tatort am 13. November 2016 bietet Anlass, nach den Ursachen des Erfolgs fragen.

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Diese Erfolgsgeschichte ist einmalig. Eine TV-Reihe, die sich seit 46 Jahren und tausend Filmen immer wieder neu erfindet und hartnäckig allen Veränderungen der Medienwelt trotzt: Das ist genauso bemerkenswert wie die Tatsache, dass die rund zehn Millionen Zuschauer, die das „Erste“ der ARD jeden Sonntag mit ihrem Tatort erreicht, aus allen Altersschichten stammen. Im Herbst 1970 konnten jedoch selbst Optimisten nicht ahnen, dass sich die Idee von WDR-Redakteur Gunther Witte zu einem der größten Schätze der ARD entwickeln würde. Selbst die Intendanten waren skeptisch, ob eine Krimireihe, die damals bloß einmal pro Monat ausgestrahlt wurde und deren Helden ständig wechseln, weil jeder ARD-Sender seinen eigenen Kommissar ins Rennen schickt, funktionieren würde.

Jedem Land sein Ermittlerteam

Und dann entpuppte sich ausgerechnet dieses föderale Prinzip, das das deutsche Fernsehen von allen anderen auf der Welt unterscheidet, als Basis des Erfolgs: Während sich Serienhelden irgendwann abnutzen, profitieren die Tatort-Ermittler davon, dass sie pro Jahr höchstens vier Einsätze haben. Auf diese Weise hat es beispielsweise die Ludwigshafener Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) auf stolze 27 Dienstjahre gebracht, dicht gefolgt von den Münchener Kollegen Batic und Leitmayr (Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec), die seit 1991 im Dienst sind. Der ständige Wechsel ist auch der Grund dafür, warum die Reihe immer wieder neue Teams problemlos integriert.

Natürlich empfängt das Publikum nicht alle mit offenen Armen; für das junge MDR-Trio aus Erfurt (2013/14) zum Beispiel war bereits nach zwei Fällen schon wieder Schluss. Aber die große Bandbreite an Charakteren sorgt dafür, dass die Krimis ganz unterschiedliche Vorzeichen haben und daher auch verschiedene Zielgruppen ansprechen: Wer’s eher heiter mag, bevorzugt die Herren Thiel und Boerne (Axel Prahl, Jan Josef Liefers) aus Münster, wem die Atmosphäre beim schießfreudigen Nick Tschiller (Til Schweiger) zu bleihaltig ist, fand in den Krimis aus Konstanz eine beschauliche Alternative. Zwar werden sich Klara Blum und Kai Perlmann (Eva Mattes, Sebastian Bezzel) demnächst verabschieden, aber ihre überwiegend im Schwarzwald ermittelnden Nachfolger aus Freiburg (Jochen Wagner, Eva Löbau) werden es ähnlich wie die noch halbwegs neuen Kollegen aus Franken (Dagmar Manzel, Fabian Hinrichs) sicherlich eher ruhiger angehen lassen.

Manchmal auch ein Experiment

Ständiger Wandel gehört also zu den Konstanten der Reihe, und das gilt nicht nur für die Darsteller: Während die Sender im TV-Alltag meist nach der Devise „Bloß keine Experimente“ handeln, dürfen die Autoren und Regisseure beim Sonntagskrimi optisch und inhaltlich immer wieder etwas Neues ausprobieren. Beste Beispiele sind der Odenthal-Krimi Tod im All (1997), in dem sogar Außerirdische mitmischten, sowie die vielfach ausgezeichnete Folge Im Schmerz geboren (2014): Der leichenreiche Film mit Ulrich Tukur als Hauptkommissar Felix Murot war eine Mischung aus Shakespeare-Drama und Western. Noch ungewöhnlicher war die Episode Wer bin ich? (2015): In dem verwirrenden Spiel mit Schein und Sein erlaubte sich der Hessische Rundfunk den Spaß, nicht etwa Murot, sondern seinen Darsteller unter Mordverdacht geraten zu lassen.

Aber bitte im Rahmen

Die Rahmenbedingungen sind dagegen unantastbar: Die Filme spielen stets in einer bestimmten Stadt oder Region, die Ermittler stehen im Mittelpunkt, die Geschichten müssen immer glaubhaft sein. Der vor einigen Jahren leicht gekürzte, aber ansonsten unveränderte Vorspann mit den Augen im Fadenkreuz und der unverkennbaren Musik von Klaus Doldinger markiert nun schon für diverse Kindergenerationen das Ende des Fernsehsonntags.

Es gilt auch die Regel, dass die Helden ohne jeden Zweifel die Guten sein müssen. Deutsche Zuschauer mögen es nicht, wenn ihre Kommissare keine weiße Weste haben; das macht den Tatort im Vergleich zu vielen ausländischen Krimireihen ebenfalls unverwechselbar. Gleiches gilt im Prinzip für die Dramaturgie: Die Geschichten beginnen mit einem Mord und enden mit der Überführung des Täters. Gegen diese Vorgabe darf jedoch hin und wieder verstoßen werden; selbst auf die Gefahr hin, dass Teile des Publikums enttäuscht sind, wenn der Täter (wie kürzlich in der Münchener Episode Die Wahrheit) nicht gefasst wird.

Auch Alexander Adolphs Jubiläumskrimi, der ebenso wie die Premiere vor 46 Jahren den Titel Taxi nach Leipzig trägt (Ausstrahlung am 13. November 2016), steht für die Experimentierfreude der ARD: Erstmals agieren die NDR-Ermittler Klaus Borowski (Axel Milberg) und Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) gemeinsam. Allerdings kann von ermitteln keine Rede sein, denn die beiden werden nach einer Tagung von einem ehemaligen Afghanistankämpfer entführt; die Handlung trägt sich größtenteils im Taxi zu.

Für den Marburger Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger, einem der klügsten Köpfe in Sachen Fernsehunterhaltung, ist gerade dieser Mix aus „Redundanz und Varianz“ das eigentliche Erfolgsrezept der Reihe:

Es gibt einen vertrauten Rahmen, aber innerhalb dieses Rahmens gibt es viele kleine und manchmal auch größere Abweichungen; so funktioniert die gesamte populäre Kultur. Eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte wie die des Tatort ist nur als Kombination dieser beiden Elemente möglich, weil die Ausnahmen von der Regel die ganze Reihe beleben.

Der Blick in die Gesellschaft

Ein weiteres Merkmal des Sonntagskrimis ist seine Funktion als Spiegel der Gesellschaft. Greift die ARD relevante Stoffe in ihren Mittwochsfilmen auf, lässt die Quoten meist zu wünschen übrig. Der Tatort aber kann es sich leisten, immer wieder unbequeme Themen anzusprechen. Die Kölner Krimis mit Max Ballauf und Freddy Schenk (Klaus J. Behrendt, Dietmar Bär) haben sich in dieser Hinsicht gerade in ihrer Frühzeit (ab 1997) immer wieder hervorgetan. Das Spektrum reichte von deutschen Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs bis zu deutschen Landminen in Angola. Seit einigen Jahren spielen sonntags vermehrt Flüchtlinge und Asylanten eine große Rolle. Zunächst ging es dabei um Themen wie Zwangsehe, Ehrenmorde oder Integration; mittlerweile treibt auch der islamistische Terrorismus sein Unwesen.

Für Hallenberger ist diese Spiegelfunktion ein weiteres Spezifikum des Tatort, das sich schon beim ersten Taxi nach Leipzig gezeigt habe: „Kommissar Trimmel war eine Brückenfigur zwischen den Zeiten und den Ländern. Der volksnahe Schimanski war ab 1981 der Kommissar der 68er, und als der damalige Südwestfunk in den 80ern die ersten Kommissarinnen einführte, war auch dies ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Gesellschaft verändert hatte.“

Konstante Zuschauerzahlen trotz veränderter Sehgewohnheiten

Komplett entschlüsseln lässt sich das Erfolgsgeheimnis trotzdem nicht, zumal die ARD permanent gegen die Wirtschaftsformel von Angebot und Nachfrage verstößt: Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in den „Dritten“ ein Tatort wiederholt wird. Trotzdem steigen die Zuschauerzahlen seit Jahren. Und das, obwohl es immer mehr Programme gibt und gerade junge Menschen ihre Sehbedürfnisse bevorzugt mithilfe von Streamingdiensten wie Amazon oder Netflix befriedigen: 2010 hatte eine Tatort-Premiere im Schnitt rund 8,5 Millionen Zuschauer, 2015 waren es 9,5 Millionen; der Marktanteil ist von 23,9 auf 26,7 % gestiegen.

Für die ARD sind diese Zahlen wie Musik, denn sie lassen vermuten, dass die Erfolgsgeschichte der Reihe noch lange nicht zu Ende ist. Dafür soll auch die permanente Verjüngung sorgen, die Hallenberger als „Reaktion auf die Ausdifferenzierung der Fernsehlandschaft“ bezeichnet: „So lange es nur zwei Sender gab, genügte ein Kommissar. Heute gibt es Dutzende von Sendern für alle möglichen unterschiedlichen Ziel- und Altersgruppen, also sind die Teams so konzipiert, dass jeder Zuschauer eine Figur findet, mit der er sich identifizieren kann.“ Der Medienwissenschaftler findet zwar, es gebe mittlerweile zu viele Teams, von denen einige zudem „nicht richtig durchdacht“ seien, ist aber überzeugt, dass die Reihe ihren Status als letztes Lagerfeuer der Nation noch geraume Zeit behalten werde:

Seit Jahrzehnten dominieren Tatort-Krimis die Hitlisten der erfolgreichsten fiktionalen Eigenproduktionen. Warum sollte sich das ändern?

Gerade bei jungen Zuschauern hat sich das Sehverhalten jedoch stark verändert, viele Menschen schauen sich die Sendungen vermehrt zeitversetzt an. Auch diesen Einwand kann Hallenberger entkräften: „Fernsehen hat eine Zukunft, wenn es Ereignisse schafft. Das gilt für Live-Übertragungen von Sportveranstaltungen ebenso wie für Wettbewerbsendungen wie Deutschland sucht den Superstar oder den Eurovision Song Contest, bei denen man über die Darbietungen abstimmen kann.“

Beim Tatort wird das Publikum zwar vermutlich auch in zehn Jahren nicht entscheiden können, wie eine Geschichte ausgeht, aber die ARD hat mit cleveren Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Krimis ein Gesprächsereignis sind: Während der Ausstrahlung kann man sich beim Teletwitter am virtuellen Couchgespräch beteiligen. Wer einfach nur lesen will, was die anderen schreiben, kann dies über Videotextseite 777 tun. Unmittelbar nach der Ausstrahlung gibt es live bei Facebook und YouTube die Sendung Tatort – Die Show, in der die Moderatoren mit Zuschauern und prominenten Gästen über den Krimi diskutieren.

So lange es der ARD gelingt, die Reihe auch in dieser Hinsicht jung zu halten, wird sie immer wieder neue Fans gewinnen; das Sehverhalten der heute 50-Jährigen wird sich ohnehin nicht mehr ändern. Fußballfan Hallenberger ist daher überzeugt:

Den Tatort wird es mit Sicherheit noch lange geben; eher wird die Bundesliga abgeschafft.