Das Kino als Kulturraum neu denken

Kongress Vision Kino 21

Klaus-Dieter Felsmann

Klaus-Dieter Felsmann ist freier Publizist, Medienberater und Moderator sowie Prüfer bei der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).

Die achte Ausgabe des Kongresses der Vision Kino führte ca. 300 Menschen zusammen, denen an vielen Orten des Landes die Kulturgüter Film und Kino unmittelbar am Herzen liegen und die die damit verbundene eigene Kompetenz und Leidenschaft an nachfolgende Generationen weitertragen wollen. An zwei Tagen im Juni 2021 wurde in Workshops und Auditorien über entsprechende Anliegen, Konzepte und Methoden diskutiert. Leopold Grün, seit 2020 Geschäftsführer der Vision Kino gGmbH, machte bereits zur Einstimmung auf die Tagung klar, worum es in diesem Kontext aktuell gehen muss: „Unsere Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, dass die Kunst und Kinokultur für junge Menschen neue Perspektiven eröffnen und eine attraktive Alternative zur allgemeinen Bewegtbildrezeption darstellen.“

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97), S. 13-15

Vollständiger Beitrag als:

 

Im Jahr 2003 hatte sich unter maßgeblicher Federführung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ein ähnlicher Kreis wie der beim aktuellen Kongress zusammengefunden, um unter dem Motto „Kino macht Schule“ eine Initiative zu starten, die das Medium Film stärker in die Curricula von Schulen, Universitäten und Fortbildungsstätten einbringen sollte. Seither ist einiges geschehen. Filmbildung wurde zwar kein eigenständiges Schulfach, wie das seinerzeit manchmal erträumt wurde, doch es wurde eine Netzwerkorganisation, die Vision Kino, mit Unterstützung der Politik und cineastischer Fachverbände gegründet. Davon ausgehend gibt es in allen Bundesländern inzwischen SchulKinoWochen, die es ermöglichen, wenigstens einmal im Jahr den Unterricht in ein Kino zu verlegen. Es gibt Begleitmaterialien zu kuratierten Filmen und es gibt Fortbildungsangebote für Lehrkräfte. Einige Hochschulen und Universitäten haben Filmbildung zu Schwerpunktaufgaben erklärt, und Festivals und Filmwochen versuchen, verstärkt ihren Teil zur Einbindung der jungen Generation beizutragen.

Andererseits hat sich der Umgang mit Bewegtbildern in den letzten 20 Jahren extrem differenziert und damit verändert. 2003 gab es noch rührende Versuche, den 16-mm-Film gegenüber der „Unkultur“ der Videokassette bzw. der DVD zu verteidigen. Inzwischen sind all diese Trägermedien vergessen. Stattdessen flimmern unendlich viele visuelle Angebote auf jederzeit mobil und individuell nutzbaren Abspielmöglichkeiten. Vision Kino hat sich im Zweijahresturnus auf entsprechenden Kongressen über die aktuellen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf das Verhältnis von Kino und Schule verständigt. Doch so explizit wie zum achten Kongress hat sich die Frage nach dem Wechselspiel zwischen analog und digital noch nie gestellt. Die Coronapandemie hat nicht nur den ursprünglichen Tagungstermin 2020 im Erfurter Kaisersaal platzen lassen, sie führte auch dazu, dass die Ausweichveranstaltung 2021 nunmehr nur online stattfinden konnte. Gleichzeitig waren die stets avisierten Orte der Filmbildung, die Kinos, mehr als ein Jahr lang gänzlich geschlossen. Für den Kongress bedeutete dies, nicht nur danach zu fragen, wie man künftig die Strukturen neu beleben, sondern wie man sie angesichts der interaktiven Erfahrungen und der damit verbundenen Veränderung zu einem höheren Level führen kann, ohne dabei den Kulturort Kino aufzugeben.
 

Digital versus analog

Natürlich wurde auf dem Kongress allseits bedauert, dass die Kinos pandemiebedingt so lange geschlossen bleiben mussten. Doch es gab auch zahlreiche Stimmen, die angesichts des Übels durchaus eine Chance wahrnehmen wollten. Mikosch Horn vom Nürnberger Filmhaus sprach es am deutlichsten aus. Eine Kinokrise habe es auch schon vor Corona gegeben. Mehr und mehr sei in den letzten Jahren das junge Publikum weggeblieben. Streamingdienste hätten sich insbesondere für diese Zielgruppe zur relevanten Alternative entwickelt. Für Horn war das kein Grund zum Lamentieren, man müsse eben damit umgehen. Die Coronaumstände hätten letztendlich entsprechende Überlegungen erzwungen. Es reiche nicht, das Kinoprogramm in den sozialen Netzwerken zu veröffentlichen, sondern man müsse über den digitalen Raum einen signifikanten Mehrwert für die Kinoarbeit schaffen.

Dem stimmte seine Kollegin Maya Reichert vom Internationalen Dokumentarfilmfestival München zu. Dieses Festival hatte als eines der ersten gute Erfahrungen mit der Netzpräsentation seines Programms gemacht. In der Folge konnte sich Reichert über ca. 9.000 Anmeldungen bei ihrem Bildungsprogramm DOK.Education freuen.

Barbara Winkler, Projektleiterin der SchulKinoWoche Bayern, sah den digitalen Aktionsraum etwas differenzierter. Zwar könne man Fortbildungen recht gut im Netz organisieren, doch die Nutzung von Filmen sei über diese Kanäle doch eher verhalten. Lehrkräfte fragten sich etwa, warum sie für ein Netzangebot einen Eintritt bezahlen sollten. Das zeigt: Das Kino als Lernort stellt offenbar einen eigenständigen Wert dar. Darüber war man sich allseits schnell einig. Denn alle digitalen Bemühungen sollen letztendlich wieder auf den sozialen Kulturraum Kino hinführen.
 


Man bindet das Publikum, indem man in einer weitgehend unübersichtlichen Angebotsflut eine Orientierung schafft.



In Nürnberg hat man mit Cinemalovers im Rahmen des Bundesverbandes kommunale Film­arbeit e.V. ein speziell vom Kino kuratiertes Streamingangebot installiert. Dies ist als Ergänzung und Erweiterung des Kinoprogramms gedacht. Man bindet das Publikum, indem man in einer weitgehend unübersichtlichen Angebotsflut eine Orientierung schafft. Darauf aufbauend, wird dann das Programm vor Ort gestaltet. Hier kommt der Raum für offene oder geführte Gespräche hinzu. Das ist etwas, wofür Corona auch beim Publikum eine größere Sensibilität generiert hat. Erst im Mangel wurde wieder deutlich bewusst, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das genau solche Begegnungsräume sucht, wie sie durch gut geführte Kinos angeboten werden.

Das gilt schließlich auch für die diversen Formen von Fortbildung. Im Netz können Fachbausteine angeboten werden, doch darüber hinaus wird die unmittelbare Interaktion gesucht. Die persönlichen Begegnungen am Rande haben eine eigenständige Bedeutung. Dimitra Kouzi, Filmemacherin aus Griechenland, wies darauf hin, dass Kinos auch Räume für aktive Filmarbeit bieten sollten. Gerade das interessiere junge Leute. Zudem könne man hier interessante Kooperationen mit Schulen schaffen.

Einig war man sich ebenfalls, dass Kinoprogramme wesentlich differenzierter am Interesse des Publikums ausgerichtet sein sollten. Maya Reichert hatte beklagt, dass Kinder und Jugendliche kaum noch als spontanes Freizeitpublikum zu den etwas spezielleren Filmangeboten kämen. Von daher brauche man die Schulen als Vermittler. Doch Schulen sind keine Dienstleister für die Filmwirtschaft. Man muss die Bildungseinrichtungen begeistern, indem man ihnen etwas bietet, was sie sonst nicht finden. Das heißt, Programme müssen stärker nach gegenseitigen Interessen koordiniert werden. Hier sind auch die Verleiher gefordert. Als noch schwere 35-mm-Rollen durch das Land transportiert werden mussten, hatte es einen einsehbaren praktischen Sinn, Angebote wochenweise zu terminieren. Dank digitaler Trägermedien, so meinte beispielsweise Alexandre Dupont-Geisselmann von farbfilm verleih, sollte ein weitaus flexiblerer Filmeinsatz möglich sein: Am Mittwoch ist das Kino mit einer anderen Zielgruppe gefüllt als am Donnerstag oder Freitag.

In einem spannenden und auch emotional bewegenden Werkstattgespräch unterhielt sich die Regisseurin Caroline Link mit Mitgliedern einer Jugendfilmjury der FBW. Die jungen Leute kamen dabei u.a. auf das Thema, dass das Kino für sie im Vergleich zu anderen Angebotsformen relativ teuer sei. Das ist nur zu rechtfertigen, wenn Kino etwas Besonderes vermitteln kann.
 


Es muss generell gefragt werden, ob es sinnvoll ist, Filme ausdrücklich für Jugendliche zu drehen. Der Übergang in das Erwachsenenleben ist heute fließender denn je.



Deutlich wurde in dieser Runde ebenfalls, dass das Genre Kinderfilm für die jüngste Zielgruppe akzeptabel scheint. Doch einen spezifischen Jugendfilm, den sucht man eigentlich nicht. Das ist sicher nicht nur für die Filmemacherinnen Bettina Blümner, Jamila Wenske und Joya Thome ein nachdenklich stimmender Gedanke. Die drei Frauen hatten in einem Gespräch mit Leopold Grün ihre Leidenschaft für den Coming-of-Age-Film artikuliert. Es muss angesichts der Aussage der jungen Leute generell gefragt werden, ob es sinnvoll ist, Filme ausdrücklich für Jugendliche zu drehen. Niemand weiß, wie groß die Gruppe ist, die sich angesprochen fühlen könnte. Der Übergang in das Erwachsenenleben ist heute fließender denn je. Geradezu absurd erscheint es in diesem Kontext, wenn ein Film, wie der beim Kongress vorgestellte Titel Räuberhände von İlker Çatak, mit jungen Protagonisten im Mittelpunkt von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) erst ab 16 Jahren freigegeben wird. Ja, da hat ein Jugendlicher Sex mit einer erwachsenen Frau. Doch muss man Gleichaltrige vor dem Anblick solch sicher extremer, doch durchaus möglicher Erfahrungsmomente schützen und damit eine modellhafte Auseinandersetzung Pubertierender mit solchen Fragen verhindern?
 

Filmbildung und Schule

Wie steht es um die Filmbildung an Schulen und Ausbildungsstätten für Lehrkräfte? Das ist eine Frage, die sich bisher durch alle Kongresse der Vision Kino zog, und auch bei der achten Ausgabe wurde deutlich: Diesbezüglich funktioniert nur etwas, wenn engagierte Personen dahinterstehen. Zwar ist ein Verweis auf Filmbildung in den Lehrplänen aller Bundesländer inzwischen vorhanden, doch wie diese umgesetzt wird, liegt im Ermessen und im gegebenen Spielraum Einzelner. Interessant war in dem Zusammenhang ein virtueller Zwischenruf aus Frankreich. Perrine Boutin machte darauf aufmerksam, dass in Frankreich Filmbildung zuerst als Kunstunterricht verstanden wird. In Deutschland wird über die Arbeit mit dem Film primär audiovisuelle Kompetenz hinsichtlich eines Massenmediums angestrebt. Das heißt verkürzt, es geht um Medienkompetenz als solche. Dabei bleibt man vor Ort, oft sogar befördert durch Vorgaben der Kultusbehörden, sehr schnell auf einer technischen Ebene, die man einmal „Ran an die Maus“ nannte, stecken. Hier sollte eine klarere Abgrenzung angestrebt werden. Filme sind mehr als Ausgangsmaterial zum Erlangen eines kompetenten Umgangs mit medialen Angeboten. Sie sind Katalysatoren für eine Auseinandersetzung mit der Welt und immer Kunstprodukte mit einer sinnlichen Aura.
 


[I]n Frankreich [wird] Filmbildung zuerst als Kunstunterricht verstanden […]. In Deutschland wird über die Arbeit mit dem Film primär audiovisuelle Kompetenz hinsichtlich eines Massenmediums angestrebt.



Vom Arbeitskreis Filmbildung der Länderkonferenz MedienBildung wurde auf dem Kongress ein interessantes Konzept zur fachthematischen Ausbildung von Lehrkräften vorgestellt und diskutiert. Aufbauend auf einem bereits vorhandenen kompetenzorientierten Leitfaden für Lernkräfte, der sich an Bereichen wie Filmgeschichte, Filmanalyse, Filmproduktion etc. orientiert, wurde hier insbesondere der Bereich der Filmsozialisation hervorgehoben. Hier wird der Aspekt betont, dass Filmwahrnehmung immer in Relation zu subjektiven Lebenserfahrungen funktioniert. Filmbildung ist folglich nur bedingt in einem festgezurrten Katechismus zu realisieren. Das macht es manchmal schwer, den Gegenstand in die gegebenen Schulstrukturen einzuordnen. Entsprechend meinte der Frankfurter Lehrer Horst Sulewski, bei der Verfassung des Kompetenzpapiers beteiligt, dass Filmbildung aus der Summe der an einer Schule fächerübergreifend insgesamt vorhandenen Kompetenzen erwachsen müsse. Früher hätte man vielleicht gesagt, sie gehört zur Allgemeinbildung, die sich nach Jahren des Schulbesuchs aus unterschiedlichen Quellen angesammelt haben sollte.
 

Inhaltliche Orientierungen

In mehreren Foren, oftmals aufgelöst in digital verbundenen Kleingruppen, ging es während des Kongresses sowohl um Netzwerkstrukturen zwischen den unterschiedlichen Akteuren als auch um thematische Schwerpunkte. Letzteres richtete sich, dem aktuellen Zeitgeist entsprechend, insbesondere auf interkulturelle und diversitätsorientierte Schwerpunkte. Hier setzte auch Monika Grütters, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die aktuell generell Bemerkenswertes zur Wiederbelebung der Kultur nach der Pandemie leistet, bei ihrer Grußbotschaft an den Kongress ein deutliches Zeichen. Über die Grundförderung hinaus werden künftig weitere 3 Mio. Euro an die Vision Kino für Programme zum Antirassismus und Antisemitismus ausgereicht. So erfreulich dies ist, insgesamt verbindet sich mit solch kleinteiliger Orientierung leider auch eine Verengung der inhaltlichen Ausrichtung. Warum sollte man nicht, wie früher bereits praktiziert, von einem Kino der Toleranz sprechen und dieses entsprechend fördern? Hier ließe sich weitaus besser an die breit gefächerten subjektiven Interessen des Publikums anknüpfen. Angesichts eines dabei wünschenswerten Erfolgs lässt sich auch hier gewiss ableiten, dass ein toleranter Mensch kein Rassist oder Antisemit sein kann, und ein solcher wird sich immer für andere Kulturen und Lebensansichten öffnen. Wie sagte Adolf Reichwein, einer der Pioniere der Filmbildung, der 1944 auch wegen solcher Gedanken von den Nationalsozialisten ermordet wurde: Eines der wichtigsten Anliegen bei der Auseinandersetzung mit Filmen sei es, ein Volk von Selbstdenkern zu befördern. Filme, wahrgenommen als ästhetische und lebensweltliche Impulsgeber für selbstdenkende Individuen. Welch schöner Beitrag zur Beförderung demokratischer Strukturen.