Das eigene Grab geschaufelt

Viele Aufträge, aber kein Nachwuchs: Die Film- und Fernsehbranche muss radikal umdenken

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Film und Fernsehen klagen über erhebliche Nachwuchsprobleme. Gerade auf junge Menschen übt die Branche nicht mehr den Reiz früherer Jahre aus. Wer sich heute mit Bewegtbildern selbstverwirklichen will, gestaltet einen YouTube-Kanal. Die junge Generation legt zudem großen Wert auf eine gesunde Work-Life-Balance und prüft sorgfältig, wie gut sich eine Arbeit mit Partnerschaft und Familie vereinbaren lässt. Das ist in der Film- und Fernsehbranche mit bis zu 80 Arbeitsstunden pro Woche natürlich schwierig. Gerade für die Fernsehsender könnte das ein böses Erwachen geben: Angesichts des derzeitigen Produktionsbooms können sich die Fachkräfte die Rosinen rauspicken und wirken lieber bei Serien für neue Anbieter wie Netflix und Amazon mit, weil dort die kreative Herausforderung größer und die Bezahlung besser ist.

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„Und was machst du so?“ –  „Ich bin beim Film.“ Vier Worte nur, aber mit großer Wirkung, denn sie garantieren in jeder Runde große Aufmerksamkeit. Jahrzehntelang waren ein gewisser Glamourfaktor und das Interesse der Mitmenschen eine Art Ausgleich für die wenig erstrebenswerten Bedingungen, unter denen Kino- und Fernsehproduktionen entstehen. Leben aus dem Koffer, doppelt so viele Arbeitsstunden wie ein Beamter, Nachtdrehs: Dafür muss man geboren sein. Wer kein dickes Fell hat und nicht bereit ist, sich im Namen der Kunst ausbeuten zu lassen, der ist hier fehl am Platz. Weil sich darauf jedoch immer weniger junge Menschen einlassen wollen, hat die Branche ein erhebliches Nachwuchsproblem. Die Folgen sind bereits spürbar; immer wieder müssen Produktionen wegen Personalmangels verschoben werden.
 


Fehlendes Problembewusstsein

Der Jurist Steffen Schmidt-Hug arbeitet seit 1996 als Medienanwalt und war unter anderem Geschäftsführer des Bundesverbandes Regie (BVR). Seit 2008 betreut er als selbstständiger Rechtsanwalt und Agent Filmschaffende in allen beruflichen Fragen. Er beschreibt den Status quo so:

„Früher hatten Produktionsfirmen 30 Tage Zeit, um einen Fernsehfilm herzustellen. Die Sender zahlen nach wie vor im Schnitt 1,35 Mio. Euro für einen Film, aber die Produktionskosten sind natürlich gestiegen, weshalb die Zahl der Drehtage auf 20 reduziert werden musste. Das hat zwangsläufig eine brutale Verdichtung zur Folge. 70 Wochenstunden sind längst normal. Weil zwischen den einzelnen Arbeitstagen eine gesetzliche Ruhezeit von 11 Stunden einzuhalten ist, werden Nachtdrehs immer weiter Richtung Wochenende verschoben, sodass schließlich in der Nacht von Freitag auf Samstag quasi durchgedreht wird. Kein Wunder, dass es schon Meutereien am Set gegeben hat. Erfahrene Fachkräfte gehen ausgebrannt vorzeitig in den Ruhestand, viele satteln um.“

Aus diesen Gründen prognostiziert Schmidt-Hug der gesamten Branche schwere Zeiten:

„Die Konsequenz wird sein, dass nicht nur Autoren, Regisseure und Kameraleute in Zukunft lieber für Netflix, Amazon & Co. arbeiten, sondern auch die Mitglieder der anderen Gewerke: weil dort die spannenderen Projekte entstehen und die Arbeitsbedingungen deutlich besser sind. Aufgrund des Personalmangels können sich die Filmschaffenden die Arbeitgeber aussuchen. Die besten Talente werden sich vom klassischen Fernsehen verabschieden. Dann haben sich die Sender mit ihrer rigorosen Sparpolitik der letzten 20 Jahre endgültig ins Aus begeben.“

Dort sei das ganze Ausmaß der Problematik ohnehin noch nicht angekommen: „Und falls doch, wird es ignoriert, weil sich die Redaktionen nicht die Hände schmutzig machen wollen. Ihnen ist egal, ob am Set Blut fließt, sie sind nur an einem Aspekt interessiert: Was kostet das Ganze? Ein Problembewusstsein wird vermutlich erst entstehen, wenn am Ende in der Programmplanung tatsächlich ‚Programm’ fehlt. Dann ist es jedoch viel zu spät.“
 

Fehlende Einigkeit

Die Filmschaffenden selbst schieben die Schuld allerdings nicht nur in Richtung Sender. Viele Missstände hätten beizeiten verhindert oder behoben werden können, wenn die verschiedenen Interessenvertretungen an einem Strang gezogen hätten. Deren Uneinigkeit, räumt ein Verbandsvertreter ein, „wird von der Produzentenallianz und den Sendern natürlich zu ihrem Vorteil genutzt. Würden die deutschen Filmschaffenden nur zwei Tage streiken, wären radikale Veränderungen möglich.“

Außerdem ist die Produktionskette viel zu komplex, um sich bei der Problemlösung auf einzelne Glieder zu beschränken. Es wird nicht genügen, hier und da ein paar Löcher zu stopfen; die Misere ist grundsätzlicher Natur. Im Grunde gehört das komplette Produktions- und Ausbildungssystem auf den Prüfstand. Entscheidende Akteure sind nach Ansicht vieler Betroffener die Produzenten und die Regisseure, die gegenüber den Sendern Stärke zeigen sollten, aber:

„Die Produktionsfirmen machen das alles mit, weil sie auf die Aufträge angewiesen sind, und viele Fernsehregisseure sind bloß noch Papiertiger, denn die meisten künstlerisch relevanten Entscheidungen trifft die Redaktion.“
 

Fehlendes Personal

Stephan Wagner ist gewiss kein Papiertiger. Der mehrfache Grimme-Preisträger (zuletzt Mord in Eberswalde, 2014) war viele Jahre Vorstandsmitglied im BVR. Er beschreibt, wie sich die Rahmenbedingungen im Lauf der Zeit verändert haben:

„Früher galt folgende kalkulatorische Faustregel: Technik ist teuer, Personal ist günstig. Also wurde so viel wie möglich in einen Drehtag gepackt. Als ich vor 20 Jahren meinen ersten Langfilm gedreht habe, war mir ein Arbeitstag, an dem mir das gesamte Team zur Verfügung stand, vertraglich mit zehn Stunden Minimum garantiert. Die Produktion hat in der Regel auf zehn Stunden plus Mittagspause disponiert; meistens wurden dann mit den üblichen täglichen Verzögerungen zwölf daraus. Hinzu kamen entsprechende Vor- und Nachläufe des Teams: Maskenzeiten, Auf- und Abbau, Kostümreinigung etc. Das war Alltag und ist von niemandem infrage gestellt worden. Mittlerweile muss ich dankbar sein, wenn ich sieben Stunden mit dem Team und den Schauspielern arbeiten kann. Gleichzeitig ist die Zahl der Drehtage von 25 auf 20 geschrumpft. Außerdem sind die Abläufe aufgrund der Technik immer komplizierter geworden. Die Arbeit müsste in Schichtdiensten ablaufen, aber dafür gibt es natürlich nicht genügend Personal.“
 

Fehlende Qualität

Hinweise auf eine Verbesserung der Lage sieht der Regisseur nicht:

„Niemand will einen Präzedenzfall schaffen, denn wenn man anständige Rahmenbedingungen schaffen wollte, würden die Kosten weiter explodieren. Es bleibt daher den Regisseuren überlassen, jeden Tag Mittel und Wege zu finden, um das Unmögliche doch irgendwie möglich zu machen.“

Dieser Zustand eskaliere mit jedem neuen Tarifvertrag:

Alles, was in dieser Hinsicht arbeitsrechtlich als Fortschritt gefeiert wird, schaufelt in Wirklichkeit am Grab des deutschen Films.“

Am Ende leide das, worum es doch allen gehe, nämlich das Produkt. Trotzdem werde von den Regisseuren nach wie vor hohe Qualität erwartet, die aber unter Bedingungen entstehe, „unter denen man eigentlich nur Ramschware produzieren kann. Es wird mit großer Fahrlässigkeit in Kauf genommen, dass das Endprodukt gerade noch so gut ist, dass den Zuschauern der Qualitätsverlust nicht auffällt. Das kann nicht gut gehen und wird den Auftraggebern und Lizenznehmernüber kurz oder lang um die Ohren fliegen.“
 

Fehlende Zeit

Der mit rund 20 Film- und Fernsehpreisen geehrte Wagner steht für besondere Filme. Sein Kollege Martin Busker repräsentiert dagegen den TV-Alltag. Die erste Regiearbeit des Absolventen der Filmakademie Baden-Württemberg war 2012 der KiKA-Dauerbrenner Schloss Einstein (1998 – ), es folgten Serien wie Dating Daisy (2014 – ) und Die Mockridges (2015 – ). Busker, für seinen Diplomfilm Halbe Portionen (2010) unter anderem mit dem Prix Jeunesse und dem Goldenen Spatzen ausgezeichnet, ist „von Anfang an damit konfrontiert worden, dass Fernsehproduktionen in der Regel mit heißer Nadel gestrickt werden, weil die Anzahl der Drehtage nicht ausreicht, um die Drehbücher in ihrer vorliegenden Form zu verfilmen.“ Er habe sich stets gefragt:

Wie kann es gelingen, in der kurzen Zeit ein Produkt zu realisieren, das man guten Gewissens seinen Freunden empfehlen kann?“

Fernsehen funktioniere in vielen Bereichen nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit:

Es wäre Verschwendung, ein Maximum an Qualität anzustreben; es reicht völlig, dass die Zuschauer mit dem Programm zufrieden sind.“

Der Regisseur, dessen Kinodebüt Zoros Solo (2019) kürzlich beim Filmfest Emden gefeiert worden ist, musste früh lernen, „dass eine Produktion die gesamte Daseinszeit absorbiert; vorausgesetzt, man will nicht einfach nur Dienst nach Vorschrift machen.“

Die Branche lebe seit Jahrzehnten davon, „dass Menschen, die dieser Arbeit mit großer Leidenschaft nachgehen, auch eine hohe Leidensfähigkeit haben und rund um die Uhr für ein Projekt brennen.“ Von seinem Kinderwunsch hat er sich verabschiedet.
 

Fehlende Ausbildung

Verschiedene Gruppierungen bemühen sich, die familienfeindlichen Bedingungen zu verbessern. Christian Dosch betrachtet die aktuelle Krise sogar als Chance: weil sich durch das aktuelle Nachwuchsproblem endlich die Möglichkeit biete, etwas an den Missständen zu ändern. Dosch ist bei Crew United für Projekte im Bereich Fairness und Nachhaltigkeit zuständig. Die 1996 gegründete Branchenplattform, bei der 35.000 Filmschaffende organisiert sind, vergibt in Zusammenarbeit mit über 20 Branchenverbänden jährlich den FairFilmAward für die fairste Spielfilm- und Serienproduktion.

Laut Dosch „rächt sich nun, dass die Unternehmen immer nur von Projekt zu Projekt gedacht haben. Die Branche hat die Entwicklung schlicht verschlafen.“ Er fordert duale oder betriebsübergreifende Ausbildungen, Volontariate sowie die Weiterqualifizierung von Filmschaffenden; dabei hat er auch die Produktionsfirmen im Visier.

Andreas Breyer, Herstellungsleiter bei der ZDF-Tochter Network Movie Köln, braucht sich allerdings nicht angesprochen fühlen, denn er gehört zu jenen, die der Misere nicht tatenlos zuschauen. Die Serienproduktionen seines Unternehmens, darunter Soko Köln (2001 – ) oder Die Chefin (2012 – ), seien geradezu prädestiniert dafür, „um Nachwuchs anzusprechen und an die Branche heranzuführen, denn die jungen Menschen kommen heutzutage nicht mehr von allein; wir müssen also selbst die Initiative ergreifen, etwa in Form von sechs- bis achtwöchigen Kurzpraktika.“ Nach Breyers Ansicht „müsste die Branche viel stärker in Abiturklassen und auf Fachhochschulen für sich werben; es sollte Bewerbertage geben, wie sie etwa im Handwerk üblich sind.“ Auch hier erweise sich jedoch das Fehlen einheitlicher Ausbildungen als Problem:

Wenn sich Schulabgänger überlegen, welchen Weg sie einschlagen sollen, stoßen sie abgesehen von Kamera und Regie nirgendwo auf Filmberufe; die existieren quasi nicht.“


Fehlende Vertragstreue

Weil es sich kleine Produktionsfirmen nicht leisten können, die Haftung für eine Ausbildung zu übernehmen, sind vor allem die großen gefragt, und die seien sich dieser Verpflichtung durchaus bewusst, sagt UFA-Geschäftsführer Joachim Kosack; der Branchenriese hat über 30 Auszubildende. Das Unternehmen initiiert derzeit mit einigen anderen eine konzertierte Aktion, um Berufsanfänger und Quereinsteiger für die Filmbranche zu gewinnen. Allerdings müsse bei der Beschreibung der Berufsbilder deutlich werden, „dass Film nicht mehr nur das Werk eines Superstars vor oder hinter der Kamera ist, sondern das Ergebnis einer Team-Anstrengung. Alles andere ist nicht mehr zeitgemäß.“

Crew-United-Mitarbeiter Dosch sieht gerade auch ARD und ZDF in der Pflicht:

Da sie mit öffentlichen Mitteln hantieren, müssen sie ihre Auftragsproduktionen sozial und ökologisch nachhaltig durchführen. Es darf nicht sein, dass im Zuge des Outsourcings tarifvertragliche Regelungen unterlaufen werden. Die Information bekommen wir unter der Hand aber immer wieder.“

Dieser Vorwurf wird von den Sendern jedoch energisch dementiert. Alexander Bickel, Leiter des WDR-Programmbereichs Fernsehfilm, Kino und Serie, verweist auf die Selbstverpflichtung der ARD-Anstalten auf die Eckpunkte für ausgewogene Vertragsbedingungen. Diese sähen unter anderem explizit die Einhaltung des gültigen Tarifvertrags vor. Die Etat-Ansätze der Fernsehfilmproduktionen würden regelmäßig den sich verändernden Umständen angepasst.

Ähnlich lauten die Reaktionen der anderen Fernsehfilmleitungen. Bettina Ricklefs (BR) sagt, man sei trotz des allgemeinen Spardrucks darauf bedacht, bei den Fernsehfilmen gerade nicht bei den Drehtagen zu sparen, und Barbara Biermann (SWR) ergänzt, für die von Schmidt-Hug behauptete Summe (1,35 Mio. Euro) sei schon seit vielen Jahren keine fiktionale SWR-Auftragsproduktion mehr entstanden. Alle fühlen sich zudem verpflichtet, auf die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse zu achten. Gleiches gelte für ProSiebenSat.1, versichert Diana Schardt, die Sprecherin der Sendergruppe:

Unsere Herstellungsleitung identifiziert potenzielle Problemprojekte möglichst frühzeitig. Wenn es dennoch zu Engpässen kommt, versuchen wir, partnerschaftliche Lösungen zu finden.“