Das digitale Erfolgsrezept

Aufmerksamkeit als Währung

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Georg Franck

Einschaltquoten, Klicks und Likes schaffen einen ökonomischen Wert, dienen aber auch der Selbstwertbestätigung. Dabei konkurrieren mehr und mehr Anbieter miteinander, in sozialen Netzwerken wird es immer schwieriger, in der Masse noch aufzufallen. Im Kampf um Aufmerksamkeit werden die Mittel zunehmend rüder, auch die Wahrheit wird oft verbogen, um auf sich aufmerksam zu machen. Je radikaler und absurder die Botschaft, desto eher wird sie wahrgenommen. Wie verändert das die Gesellschaft und können wir eine Gegenkultur entwickeln? tv diskurs sprach darüber mit Prof. em. Dr. Georg Franck, Autor des bereits 1998 erschienenen Buches Ökonomie der Aufmerksamkeit, das aber heute noch ausgesprochen aktuell ist.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 2/2018 (Ausgabe 84), S. 34-40

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Jeder Mensch möchte gerne etwas Besonderes sein, in der Masse der Menschen als Individuum erkennbar sein. Ist das Bestreben nach Aufmerksamkeit eine fundamentale Konstante der Evolution?

Ja, gewiss. Der sogenannte Kampf um die Aufmerksamkeit oder zumindest deren Austausch als Gruppenpraxis ist älter als die Menschheit. Höher entwickelte soziale Tiere sind hauptsächlich damit beschäftigt, einander zu beobachten und miteinander Aufmerksamkeit zu tauschen. Kommunikation in diesem Sinne ist weniger der Austausch von Information als der Austausch von Aufmerksamkeit. Im Wolfsrudel ist dasjenige Alphatier der Boss, das auf niemanden achten muss, aber auf den alle anderen achten müssen. Die armen Teufel am unteren Ende der Hierarchie sind diejenigen, auf die niemand achtet, aber die auf alle achten müssen. Der evolutionäre Zweck dieser Einrichtung liegt darin, dass auf diese Art und Weise relativ friedlich die Hierarchie ausgehandelt wird und nur in ganz harten Fällen die Angelegenheit durch physische Gewaltanwendung geregelt werden muss. Denn das wäre für die Gruppe verheerend. Sie wäre dann sehr geschwächt. Am Verhalten der Alphatiere fällt uns Menschen ein Gehabe auf, das wir als Stolz oder Arroganz interpretieren. Auch schon in unserer tierischen Vorgeschichte gibt es also eine Art innere Ökonomie, bei der das Einkommen an Beachtung in den Vermögenswert „Selbstwert“ übersetzt wird. Auch das Aussehen und die Schönheit spielen dabei eine sehr große Rolle. Mit der Balz wurde in der Natur der brutale Kampf von Mann zu Mann durch die charmanten Varianten der Damenwahl und des friedlichen Schönheitswettbewerbs ersetzt.

Aber auch in der Natur läuft das nicht immer friedlich ab. Auch im Tierreich gibt es den Kampf um die Führung in der Gruppe.

Absolut, auch in der Balz. Teilweise wird das sehr brutal ausgefochten, speziell unter Hirschen und Gemsen, bei denen der Sieger der physischen Gewalt belohnt wird. Bei den Vögeln verausgaben sich die Männchen z.T. total beim Tanzen und Singen, und auch der Beauty Contest spielt eine zentrale Rolle. Deshalb hat die Evolution die männlichen Vögel mit prächtigsten Federkleidern ausgestattet.

Kann man vielleicht sagen, dass es der Evolution – genau wie in unserer heutigen Gesellschaft – immer darum ging, ein Gleichgewicht zwischen Konstantem und Neuem zu schaffen?

Die Evolution generell ist dynamisch. Das sind Prozesse der Selbstorganisation als Mischungen von instabilen und stabilen Prozessen. Stabile Prozesse bedeuten nicht, dass nichts passiert, sondern dass das, was passiert, immer wieder passiert. Auf Störungen wird dabei beruhigend reagiert. Im Gegensatz dazu werden bei instabilen Prozessen die Störungen hochgeschaukelt – und der Prozess bewegt sich damit immer weiter weg von seinem Ursprung. Bei der Evolution ist der Genotyp instabil. Die genetische Varianz, das ständige Variieren und Ausprobieren, ist ein Zufallsprozess, der instabil ist. Der Phänotyp ist stabil, nämlich das Lebewesen, wie es auf die Erde kommt. Ein Organismus ist als Prozess betrachtet ein System von synchronisierten Rhythmen. Unser Leben besteht auf ganz vielen Ebenen aus Rhythmen, wie dem Jahresrhythmus oder dem Sieben-Jahres-Rhythmus, bei dem der gesamte Chemismus des Organismus ausgetauscht wird, aber auch der Wechsel von Wachen und Schlafen, der Herzschlag, das Atmen; bis hinunter in die Nanoebene der elementaren Stoffwechselprozesse finden sich Rhythmen. Dieses Prinzip liegt der gesamten Evolution zugrunde. Prinzipiell ist die Evolution konservativ in dem Sinne, dass immer nur reproduziert wird, was sich bewährt. Konservativ im guten Sinne ist, dass man eben an Bewährtem festhalten soll. Man muss jedoch auch immer wieder Neues ausprobieren, wenn man sich an veränderte Umweltbedingungen anpassen muss, aber ansonsten gilt das Prinzip: Never change a winning team.

In der Zeit vor dem Buchdruck, als es noch keine Massenmedien gab, waren die Chancen, die Gruppe oder die soziale Umgebung auf sich aufmerksam zu machen, einigermaßen gleich verteilt. Mit der Entstehung der Massenmedien wurde die Sache schwieriger. Wer Zugang dazu hatte und etwas veröffentlichen konnte, war gegenüber denjenigen privilegiert, die diesen Zugang eben nicht hatten.

Genau, deswegen waren auch die Medien von vornherein ein Erfolgsmodell. Es entstanden Presse, Verlage, Kino etc., alles sehr ansehnliche Industrien. Natürlich ging es dabei immer auch um Geld, aber gleichzeitig auch um die Aufmerksamkeit, weil Informationsgüter besondere Güter sind in dem Sinne, dass sie noch nicht konsumiert sind, wenn man sie gekauft hat. Die gekaufte Zeitung ist erst konsumiert, wenn das Muster, die syntaktische Information mit lebendiger Aufmerksamkeit synthetisiert wird und dadurch erst der Überraschungs- oder Neuigkeitswert entsteht, den man gemeinhin als Information bezeichnet. Diese Eigenschaft – dass der Konsum von Information auch Aufmerksamkeit kostet – war später der Schlüssel für die weitere Entwicklung, denn diese tolle Industrie kam durch eine technische Erfindung in eine ernste Krise: den Rundfunk. Der Rundfunk erlaubt es, die umständliche Verteilung der Datenträger über den Ladentisch durch das einfache Aussenden von elektromagnetischer Schwingung zu ersetzen. Das ist natürlich ein unglaublicher Effizienzgewinn, war aber eine ökonomische Katastrophe, weil die Information damit den Charakter eines marktfähigen Gutes verloren hat. Von nun an war die Information ein öffentliches Gut. Es ist bezeichnend, dass dieser Begriff erst ab den 1950er-Jahren in die Ökonomie eingeführt wurde, als das paradigmatische Beispiel die Rundfunkprogramme waren, deren individueller Konsum die für andere verfügbare Menge nicht einschränkt: Anders als bei Bier oder Benzin nimmt das Angebot nicht ab, wenn immer mehr Menschen es nutzen. Im Grunde genommen ist das ein klassischer Fall von Marktversagen – und so wurde es auch verstanden. Für öffentliche Güter ist der Staat zuständig, also wurden Sendeanstalten vor allem in Europa als Staatsmonopole betrieben, was für Wirtschaftsliberale ein Skandal war: Der Staat als Informationsmonopolist ist ein Marktversagen per se. Die Frage war nun: Wie kommen wir aus dieser Falle heraus? Eine clevere Idee, die in der Zwischenkriegszeit bereits in den USA ausprobiert wurde, schaffte Abhilfe: Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist. Also belassen wir es doch bei dem öffentlichen Gut, verschenken die Information und machen etwas anderes. Wir konzentrieren uns nicht auf das Geld, sondern auf die Aufmerksamkeit, die der Konsum kostet. Wir konzentrieren uns darauf, Aufmerksamkeit zu attrahieren und die Attraktion als Dienstleistung an die Werbewirtschaft zu verkaufen. Das ist ein Geschäftsmodell, das zunächst einmal recht windig wirkte. Es dauerte auch eine Zeit lang, bis es seinen Weg durch die konservative Geschäftswelt gemacht hat, aber – siehe da: Es stellte sich heraus, dass dieses Modell unheimlich erfolgreich ist, dass es dynamischer und profitabler als die alten Medien ist, die weiter am Verkauf der Information gegen Geld festhielten, und dass die nach Geschäftsmodell neuen Medien die alten dann unter existenzgefährdenden Druck setzten, wo sie in Konkurrenz mit ihnen gerieten. Diese Umstellung prägt die Situation bis heute: Der kulturelle Mainstream ist werbefinanziert, statt der alten Geldökonomie haben wir eine durchkommerzialisierte Ökonomie der Aufmerksamkeit. Durchkommerzialisiert auch in dem Sinne, dass diese Kommerzialisierung nicht ohne Rückwirkung auf die Aufmerksamkeit selbst geblieben ist. Die Aufmerksamkeit hat dadurch einen Wandel erfahren, nicht ontologisch, aber pragmatisch: Um die Dienstleistung der Attraktion als verkäufliche Dienstleistung zu produzieren, muss die Attraktionsleistung gemessen werden. Sie wird gemessen in Einheiten wie Einschaltquote, Auflagenhöhe und Besucherklicks. Und damit passiert etwas sehr Eigenartiges: Das eigentlich individuellste aller Güter und am wenigsten Geeignete, um zu einer Währung geprägt zu werden, nimmt nun den Charakter einer Währung an, deren jede Einheit so viel wert ist wie eine andere. Währung ist ein homogenes Wertmaß, jede Einheit ist gleich viel wert wie jede andere. Diese entfremdende Homogenisierung ist die Basis des Geschäftsmodells der heute dominanten, progressivsten und teuersten Firmen dieser Welt: Google, Facebook, CNN etc. Der Output ist nicht in erster Linie der Content, den die Nutzer nachfragen, sondern die Dienstleistung der Attraktion, gemessen in diesen Units, die an die Werbewirtschaft verkauft werden können. Mit keinem anderen Geschäftsmodell des 21. Jahrhunderts kann man so viel Geld verdienen und wirtschaftliche Macht ausüben.

Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender unterliegen diesen Zwängen nicht, richten ihr Programm aber dennoch nach der Quote aus.

Eben, die Öffentlich-Rechtlichen wissen sich nicht anders gegen die Konkurrenz der Werbefinanzierten zu wehren, als deren Geschäftsmodell einfach zu imitieren: Die Quote regiert.

Wer in den klassischen Medien einen Inhalt unterbringen wollte, musste eine Plattenfirma, einen Verlag oder einen Filmproduzenten finden – eine hohe Hürde. Das hat sich durch das Internet verändert.

Allerdings, das hat sich sehr geändert. Die neuen Medien, von denen wir eben sprachen, sind noch nicht die letzte Stufe der Entwicklung. Ein paar Schlaumeier sind auf die Idee gekommen, wie es denn eigentlich wäre, wenn wir das Modell der werbefinanzierten Massenmedien bis auf die Ebene des Bauchladens herunterskalierten, sodass jede und jeder posten kann und sich an diesem medialen Markt oder Kampf um die Aufmerksamkeit beteiligen kann? Der Punkt der Erfindung dieser sozialen Medien war nicht die Technik. Die Technik ist trivial. Das Internet ist von Anfang an interaktiv; Datenbanken online zu stellen, das lernen Elektroingenieure bereits im ersten Semester. Der Punkt war die Idee, das persönliche Bankkonto in die Ökonomie der Aufmerksamkeit zu übertragen. Dass man also sofort auf dem Konto sieht, welche Aufmerksamkeit man mit seinem Beitrag einspielt. Dafür mussten geeignete Währungen gefunden werden. Diese Währungen waren der eigentliche Geniestreich von Zuckerberg und Co.: die Erfindung von Likes, Friends und Followern. Bei Facebook ist man nur vordergründig, um Informationen zu finden oder Kontakt mit Freunden zu bewahren, der Suchtfaktor ist ein ganz anderer: Dass ich unmittelbar mein Konto der Aufmerksamkeit sehen kann und dass ich eben meine „Einkünfte“ dokumentiert und kontiert sehe und mit diesem Kapital umgekehrt wieder Geschäfte machen kann. Das hat den Durchbruch gebracht. Eine Nebenfunktion davon ist, dass jetzt auch die Gatekeeper weg vom Fenster sind, die in den alten Medien dafür sorgten, dass gewisse Unarten nicht allzu große Chancen hatten. Durch die neuen Medien ist es möglich geworden, mit dem Ressentiment groß ins Geschäft einzusteigen, das zentral zur Aufmerksamkeitsökonomie gehört, nämlich zu der inneren Ökonomie, die das Einkommen an wertschätzender Beachtung in Selbstwert übersetzt. Diese innere Ökonomie, die wir auch von der Evolution übernommen haben, hat für den Fall ganz grober, brutaler Enttäuschung eine Art Notwehr vorgesehen. Wenn wir die Beachtung, die wir uns einbilden, haben zu müssen, nicht bekommen, schnappen wir ein und fangen an, uns und anderen einzureden, dass diejenigen, die uns die Beachtung verweigern, selbst der Achtung nicht wert sind. Dieses Schlechtmachen wirkt ein bisschen wie eine Schmerztablette. Wenn man die anderen runtermachen kann, tut der eigene Schmerz nicht mehr so weh. Allerdings hat diese Strategie auch eine Nebenwirkung: Man kommt aus der Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit anderer nicht heraus, denn diese Strategie wirkt nur, wenn man die anderen auch tatsächlich überzeugt, wenn man also Resonanz findet. Ohne Resonanz bleibt nur die persönliche Verbitterung. Aber es ist relativ leicht, mit dieser Strategie Beachtung zu finden. Man muss diejenigen ansprechen, die das eigene Ressentiment teilen, denn die nehmen gern alles: Lügen, Halblügen, Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien, Verleumdungen, üble Gerüchte – wenn nur das eigene Vorurteil bestätigt wird. Sie werden es mit der Faktentreue nicht so genau nehmen, man kann nun aus dem Bedienen dieses Ressentiments eine Strategie entwickeln, um Aufmerksamkeit zu verdienen. Es ist sogar eine Strategie, mit der die ganz, ganz großen Egos an die Menge von Aufmerksamkeit kommen, die sie brauchen, z.B. indem sie das Ressentiment gegen die Eliten funktionalisieren und sich als Anführer des Sturms auf die Bastion eben dieser Eliten aufspielen, um ihrer Eitelkeit die Krone aufzusetzen. Die Folge ist eine Art emotionaler Klimawandel. Die Welt wird erschüttert von Lawinen, Shitstorms und Verleugnungen. Es ist eine ganze Industrie der Desinformation entstanden, die nur das Ziel verfolgt, irgendwelche Ressentiments zu bedienen. Die sozialen Medien wurden einst als Demokratisierung des großen Geschäfts der Massenmedien begrüßt. Heute bescheren sie uns einen emotionalen Klimawandel, der durchaus gefährlich ist und das Zusammenleben auf diesem Planeten gefährdet. Er macht deutlich, dass die Ökonomie der Aufmerksamkeit wie die materielle Ökonomie eingebettet ist in eine Ökologie. Die Ökologie ist im Falle der Aufmerksamkeitsökonomie der Bestand an Vertrauen und Wohlwollen in der Population. Das, was in der Soziologie „soziales Kapital“ genannt wird – das Kapital im Sinne von Robert Putnam, nicht im Sinne von Pierre Bourdieu –, also der Bestand an Vertrauen und Wohlwollen, von dem die Lebensqualität in einer Gesellschaft ganz zentral abhängt. Von diesem Bestand hängt es ab, wie unbefangen wir uns in der Gesellschaft und in der Öffentlichkeit bewegen können, ob wir etwa das Wechselgeld nicht jedes Mal bis auf den Cent nachrechnen müssen, sondern vertrauen können, dass es schon stimmen wird. Oder ob wir gar nicht vorsichtig und misstrauisch genug sein können, wenn wir uns in die Öffentlichkeit begeben. Dieses soziale Kapital ist eine ökologische Ressource im zentralen Sinne: Es ist unteilbar, alle haben Zugang, es darf aber nicht genutzt, sondern muss auch regeneriert werden. Es unterliegt dem Gesetz der Nachhaltigkeit, der Verbrauch darf nicht höher sein als die Rate der Regeneration. Das gilt auch für dieses soziale Kapital. Wir haben das typische Umweltproblem, dass man dieses Kapital unabhängig davon nutzen kann, ob man auch zur Regeneration beiträgt. Man kann es, anders gesagt, zum individuellen Gewinn nutzen und den Schaden sozialisieren. Das ist der klassische Anreiz, Umweltressourcen zu übernutzen. Der Wutbürger verhält sich wie die Fischindustrie, der zur Erschöpfung der Ozeane nichts Besseres einfällt, als noch brutalere Fangmethoden zu entwickeln und die eh schon überkapitalisierte Industrie nochmals weiter zu kapitalisieren. Da fallen gewiss noch individuelle Gewinne an, aber volkswirtschaftlich ist der Ertrag negativ. Der Wutbürger macht individuelle Gewinne in Sachen Aufmerksamkeit, aber er vergiftet das gesellschaftliche Klima.

Könnte man sagen, dass wir in der Spiegelung des anderen und seiner Reaktion auf uns selbst fast so etwas wie einen Lebenssinn finden?

Ich denke schon. Das Selbstwertgefühl ist ein sehr starker Grundzug der menschlichen Psyche; vor uns selbst gut dazustehen, ist ein generelles Lebensziel. In dem, wie wir vor uns selbst stehen, sind wir überhaupt nicht autonom, sondern eminent davon abhängig, was andere von uns halten. Das Selbstwertgefühl, das wir uns leisten können, ist eine Frage unseres Einkommens an wertschätzender Aufmerksamkeit. Dieser Grundzug kann beklagt werden; bevor man ihn aber beklagt, muss man sagen, dass er uns überhaupt erst zu angenehmen Zeitgenossen macht. Er hält uns an, uns darum zu kümmern, welche Rolle wir im Bewusstsein unseres Gegenübers spielen. Unser bewusstes Leben ist ein Leben im Spiegel des anderen Bewusstseins – das macht uns überhaupt erst zu zivilisierten, sozialen und angenehmen Wesen. Um das noch einmal etwas philosophischer auszudrücken: Unser Selbstbewusstsein ist nicht nur eine Frage der Kognition im Sinne von: „Erkenne Dich selbst!“, sondern auch eine Frage der Bewertung. Wie stehe ich vor mir selbst da? Darf ich stolz auf mich sein oder sollte ich mich eher schämen? Wir haben also nicht nur ein kognitives, sondern auch ein affektives Selbstbewusstsein. Das Subjekt des kognitiven Selbstbewusstseins ist das Kant’sche Ich, das Subjekt des affektiven Selbstbewusstseins ist das Ego, das sich eben fragt: Wie stehe ich vor mir selbst da?

Dieses affektive Selbstbewusstsein ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass Gruppenbildungen überhaupt möglich sind. Die Neurologen führen das auf Spiegelneuronen zurück.

Das passiert ganz von allein. Die Spiegelneuronen wurden ja nicht beim Menschen entdeckt, sondern bei Affen, bei den Makaken, was zeigt, dass auch das Leben im Spiegel des anderen Bewusstseins aus unserer tierischen Vorgeschichte stammt. Da können und brauchen wir gar nichts zu tun. Wenn wir jemanden beobachten, regt sich in uns automatisch das Gefühl, wie es sich in dieser Haut dort drüben anfühlt, man selbst zu sein.

Kommen wir noch einmal zur Fernsehrealität. In manchen Castingshows wird jungen Menschen die Möglichkeit gegeben, sich einem Millionenpublikum zu präsentieren. Die meisten Kandidaten, die gecastet werden, glänzen aber eher durch Merkwürdigkeiten und Auffälligkeiten. Ist ihnen selbst die negative Resonanz lieber, als überhaupt nicht wahrgenommen zu werden?

Unter Künstlern hieß es schon immer: Ein Verriss ist besser als gar keine Rezension. Gar nicht beachtet zu werden, das ist das Schlimmste. Negative Aufmerksamkeit ist zwar nicht so schön wie positive, aber immer noch besser als gar keine. Die ungeheure Beliebtheit dieser Casting- und Containershows verstehe ich so, dass die Botschaft ankommt: „Hey du, jeder kann hier berühmt werden. Jeder kann zur Celebrity werden.“ Dafür gibt es ja auch Beispiele. Was kann Paris Hilton eigentlich besser als unendlich viele andere Menschen, außer berühmt zu sein? In welcher Hinsicht sollte sie sonst elitären Kriterien genügen? Diese Idee wird jetzt übertragen in diesen Shows, die für die Sender wahre Goldgruben sind, da sie in der Produktion sehr preiswert sind. Man spart sich teure Skripte und einen großen Regieaufwand. Sie sprechen den Wunsch an, gesagt zu bekommen: Alle können berühmt werden. Und man kann sich als Zuschauer vorstellen, was man selbst besser gemacht hätte. Natürlich spielt auch der Vergleich nach unten, der Downward Comparison eine Rolle: „Oh Gott, der steht im Mittelpunkt, indem er sich blamiert. Das würde ich doch viel besser bringen.“ Das ist doch ein schönes Erlebnis für mein unreifes Selbstwertgefühl.

Von der Castingshow zur Wissenschaft: Ein Professor verdient nicht allzu viel Geld, aber den Titel zu haben, hebt ihn von anderen ab. Man hat aber auch hier manchmal das Gefühl, dass die Eitelkeit über der wissenschaftlichen Fachlichkeit steht.

Auf alle Fälle! Es ist allerdings so, dass ich sagen würde: Auf der anderen Seite ist diese Geschäftsgrundlage der Wissenschaft auch ihr Erfolgsprinzip. Der Beruf des Wissenschaftlers besteht darin, in die eigene Aufmerksamkeit zu investieren, um an die Aufmerksamkeit anderer Wissenschaftler zu kommen. Ein Stück wissenschaftlicher Information nimmt nur dadurch wissenschaftlichen Wert an, dass es Beobachtung in der Szene findet und Aufmerksamkeit verdient. Wenn ich publiziere, will ich nicht nur positive E‑Mails von Freunden bekommen, sondern ich möchte von Kolleginnen und Kollegen zitiert werden. Das Zitat ist die Währungseinheit, die die wissenschaftliche Kommunikation eingeführt hat, um den Wert wissenschaftlicher Informationen messen zu können. Das Zitat misst einerseits das Einkommen des Autors an Expertenaufmerksamkeit. Andererseits misst es den pragmatischen Wert des Stücks Information, das die Funktion hat, als Produktionsmittel für anschließende Stufen der Informationsverarbeitung zu dienen. Durch das Zitat wird gemessen, wie oft ein Stück wissenschaftlicher Information wieder als Produktionsmittel in die Produktion eingeht. Das ist die klassische Art, wie die Produktivität von Kapitalgütern gemessen wird. Diese Messung ist absolut entscheidend für die kollektive Rationalität des Wissenschaftsbetriebs. Die Aufmerksamkeit muss in diejenigen Beschäftigungen gehen, in denen sie den größten Effekt hat, dass also Wissenschaftler einen Grund haben, anderen zuzuarbeiten in dem Sinne, dass sie dort forschen, wo andere es als nützlich empfinden.

Der Drang nach Aufmerksamkeit ist also ein Teil der Motivation, im Wissenschaftsbereich überhaupt tätig zu sein?

Durchaus. Warum soll ich forschen, wenn ich in der Industrie sehr viel besser verdienen kann? Natürlich geht es um Neugier und Wissensdrang, wenn man mit 50 Jahren aber immer noch keine Anerkennung und kein Renommee geschaffen hat, dann ist irgendetwas schiefgelaufen und wird die Karriere wohl in Verbitterung statt im Erkenntnisglück enden.

In der Politik drückt sich der Drang nach Aufmerksamkeit in Wahlergebnissen aus. Auch dort wird die Tonalität rüder. Den Bürgern scheint das auf die Nerven zu gehen und sie reagieren mit Politikverdrossenheit. Müssen wir eine Kultur entwickeln, um unseren Aufmerksamkeitsdrang zu zügeln und etwas mehr zu kontrollieren?

Ich hoffe einfach, dass sich ein derartiger Überdruss breitmacht, dass jemand, der diese Spielchen nicht mitmacht, an Statur und Reputation gewinnt und als eine anständige Person gilt. Im historischen Rückblick ist das schon passiert. Angela Merkel wurde CDU-Chefin und dann Kanzlerin genau deswegen, weil man den Eindruck hatte, dass sie eine solide Person ist, eine gute Chefin, dass sie sich nicht auf derartige Machenschaften einlässt. Das ist ein anderes Format als Söder oder Seehofer. Die Wähler haben dafür Respekt gezollt, dass da jemand nicht so strampelt und nach Aufmerksamkeit giert, sondern etwas Vornehmeres an den Tag legt.

Die Kultur der Aufmerksamkeitsstrategie könnte sich also verändern, wenn man erkennt, dass man mit etwas mehr Zurückhaltung erfolgreicher ist als mit Aufdringlichkeit?

Ja, und ganz generell muss man sagen, dass es das auch noch gibt. Natürlich ist Hochschulpolitik in Form von Selbstverwaltung und Gremienarbeit furchtbar, aber es zahlt sich aus, wenn man bei diesem Gefasel, Gedrücke und Herumintrigieren nicht mitmacht. Man sollte versuchen, sich vornehm zurückzuhalten und nicht wehleidig zu sein, wenn man wieder und wieder übergangen wird. Wichtiger ist, welcher Eindruck langfristig bleibt! Und um in diesem Punkt noch einmal auf die Frage des Selbstwertgefühls zurückzukommen: Unser Selbstwert beruht auf zwei Säulen. Erstens auf der direkten Selbstachtung, Self Respect, und zweitens auf dem abhängigen Selbstwertgefühl, das von außen bestätigt werden muss. Angela Merkel ist ein ganz gutes Beispiel für Ausgeglichenheit zwischen diesen beiden. Natürlich muss sie darauf achten, beachtet zu werden, aber diese direkte Selbstachtung ist doch bei ihr sehr intakt und hat Vetorecht.

Dr. Georg Franck ist Architekt, Stadtplaner und Softwareentwickler. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für digitale Methoden in Architektur und Raumplanung an der Technischen Universität Wien.

Prof. Joachim von Gottberg ist Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und Chefredakteur der Fachzeitschrft tv diskurs.