Blick auf das Kinderfernsehen

Vom TV zum YouTube-Clip

Birgit Guth

Birgit Guth ist Leiterin der Medienforschung bei SUPER RTL.

Die Mediennutzung von Kindern wandelt sich fundamental. Wir erleben einen radikalen Umbruch, der sich seit einiger Zeit erahnen ließ – aber erst jetzt, gestützt durch erste umfassendere Forschungen, sehr offensichtlich wird. Kinder wenden sich – wie vor ihnen bereits die Jugendlichen – vom linearen Fernsehen ab und nutzen andere Quellen für ihren Medienkonsum bzw. die Bewegtbild-Nutzung.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 1/2019 (Ausgabe 87), S. 67-71

Vollständiger Beitrag als:

Wichtigstes Indiz für diesen Wandel ist der Rückgang der Fernsehnutzung. In 2017 waren es 9 % weniger Sehdauer bei Kindern von 3 bis 13 Jahren, in 2018 liegt die Nutzung von linearem TV im Vergleich zum Vorjahr bei minus 13 %. Dabei ist das Fernsehen immer noch das wichtigste Medium für Kinder und sie nutzen es regelmäßig. Aber die Zeit, die sie mit linearem Fernsehen verbringen, geht deutlich zurück (siehe Abb. 1).
 


Abb. 1: Sehdauer in Minuten pro Tag. Kinder 3 – 13 Jahre, GfK-Messung
Basis: Sehdauer in Minuten, Kinder  3 – 13 Jahre, Montag – Sonntag, 3 – 3 Uhr, Deutschland gesamt, Panel (D+EU)
Quelle: © AGF, in Zusammenarbeit mit GfK, videoSCOPE 1.1, Medienforschung SUPER RTL

(Grafik:© Jacopo Severitano)


Einhergehend mit dem gesunkenen Fernsehkonsum steigt die Zeit, die mit anderen Medien verbracht wird. Auf Basis einer Abfrage bei Müttern im März 2018 lässt sich ein tägliches durchschnittliches Zeitbudget von 136 Minuten für 3- bis 13-jährige Kinder errechnen (zwei Jahre zuvor waren es noch 113 Minuten).1 Diese Zeit wird vermehrt mit dem Smartphone verbracht, teilweise am PC und Laptop – aber auch weiterhin mit dem TV-Gerät. Wobei der klassische Fernseher vielfach durch ein internetfähiges Smart-TV ersetzt wird, das über Apps für YouTube, Mediatheken oder Video-on-Demand-Portale verfügt (siehe Abb. 2).
 


Abb. 2: Zeitbudget für Medien pro Tag in Minuten. Kinder 3 – 13 Jahre, Abfrage über Mutter
Basis: n=1.174 (2018) bzw. n=1.179 (2016). Mütter von Kindern 3 – 13 Jahre
Quelle: iconkids & youth/Medienforschung SUPER RTL/repräsentative Face-to-Face-Befragung
(Grafik:© Jacopo Severitano)


Die Veränderung von Mediennutzung hängt u.a. mit der vermehrten Ausstattung mit Geräten in den Familien zusammen. Alle haben einen Fernseher, ein Smartphone und meist einen PC oder Laptop. Die Ausstattung mit Tablets (56 % aller Haushalte mit Kindern von 3 bis 13 Jahren)2 und Spielkonsolen (44 %) ergänzt das Medienset. Heute besitzen 64 % der 6- bis 13-Jährigen ein Smartphone oder ein normales Handy.3

Neben dem linearen Fernsehen, das so gut wie alle Kinder schauen, nutzen 55 % der 3- bis 13-Jährigen laut Aussage ihrer Mütter YouTube und 16 % YouTube Kids. 44 % nutzen die Mediatheken der TV-Sender und 13 % der Kinder haben die Möglichkeit, Video-on-Demand-Portale wie Netflix, Amazon Prime Video oder kividoo zu konsumieren (siehe Abb. 3).

 


Abb. 3: „Welche der folgenden Möglichkeiten nutzt Ihr Kind?“
Basis: n=1.174 Mütter von Kindern (3 – 13 Jahre)
Quelle: iconkids & youth/Medienforschung SUPER RTL/repräsentative Face-to-Face-Befragung, März 2018
(Grafik:© Jacopo Severitano)


Die Zahlen liefern ausschließlich Aussagen über die Quantität der Nutzung. Sie verraten noch nichts über die genutzten Inhalte. Um die digitale Mediennutzung von Kindern zu verstehen, muss man auf Befragungen und Medientagebücher ausweichen. Solche Studien weisen aktuell darauf hin, dass YouTube bei Kindern eine große Bedeutung erlangt hat.
 

Die Bedeutung von YouTube bei Kindern

Um genauer zu verstehen, was die Faszination von YouTube bei Kindern ausmacht, hat SUPER RTL eine qualitative Studie beim Marktforschungsinstitut Rich Harvest in Auftrag gegeben.4 Im Rahmen der Studie wurden im Sommer 2018 insgesamt 130 Eltern und Kinder (im Alter von 3 bis 13 Jahren) beobachtet und befragt. Alle Teilnehmer verfügten über eine gewisse Erfahrung bei der Nutzung von YouTube.

Die Studienergebnisse zeigen, dass YouTube bei allen Kindern (schon bei 1- oder 2-Jährigen) eine große Rolle spielt. Erste Einstiegsmomente bei kleinen Kindern sind oft Kinderlieder (der beliebte Channel „Sing mit mir“ hat über 830.000 Abonnenten). Für die Eltern attraktiv sind die große Vielfalt des Angebots sowie die Tatsache, dass der Text oft direkt mit eingeblendet wird. Weitere Motive für die Hinwendung von Kleinkindern zu YouTube sind die Nutzung durch ältere Geschwister und die Möglichkeit, jederzeit und individuell ein gewünschtes Video sehen zu können – unabhängig von der Tageszeit und dem Ort. Die Eltern sind meist selbst YouTube-Konsumenten. Sie haben das Angebot praktisch immer in der Hosentasche (als App auf dem Smartphone). Das wissen auch schon kleine Kinder. Eltern erfüllt es mit Stolz, wenn sie sehen, dass ihr Kleinkind schon selbstständig Sendungen für sich entdeckt oder sich „Wissen“ (z.B. über Farben oder Zahlen) aneignet. Gleichzeitig berichten alle Eltern von problematischen Momenten mit YouTube, weil das Kind auf jugendgefährdende Inhalte stößt („Sie hat mal Baby Born gesucht und dann eine Hausgeburt gesehen.“ [Mutter eines 5-jährigen Mädchens]) oder problematische Werbung sieht. Eltern nehmen auch wahr, dass Zeichentrickserien oft mit anderen Tonspuren hinterlegt sind oder umgeschnitten wurden.
 

Rational sind sich Eltern (gerade von Kleinkindern) grundsätzlich des Gefahrenpotenzials bewusst, das von YouTube ausgeht. Dieses rationale Wissen steht aber im Widerspruch zur alltäglichen Nutzung. Die Verfügbarkeit, Einfachheit und die schier unerschöpfliche Vielfalt des YouTube-Angebots sind verlockender als alle Bedenken. Eltern blenden das Gefahrenpotenzial aus („Es wird schon nichts passieren“). Teilweise werden auch die Kinder in die Verantwortung genommen („Sie wissen ja schließlich, dass sie sich so was nicht angucken sollen“).

YouTube gibt Kleinkindern einerseits ein Gefühl der Sicherheit (es kann vertraute Sendungen immer wieder schauen), unterstützt aber auch ihre Entdeckerlust, weil es immer neue Inhalte anbietet. Neben den Serien, die sie ohnehin aus dem Fernsehen kennen, schauen sie dort Unboxing-Videos zu Spielzeug5, Spaßvideos oder Bastelanleitungen.
 

YouTube bei Grundschülern

Für Grundschulkinder stellt YouTube derzeit die Referenz für Coolness dar. Hier finden sie alles, was spannend ist und Spaß macht. Für die Altersklasse der 6- bis 10-Jährigen ist YouTube einerseits eine Art TV-Sender, aber auch eine Suchmaschine, die sie mit zunehmender Schreibkompetenz nutzen. Jede Antwort steckt in einem Video – da muss man nicht viel lesen. Die Eltern kontrollieren eher zeitlich, aber nicht inhaltlich.

Grundschüler schauen neben TV-Inhalten (meist Serien, die andere User unter Umgehung des Urheberrechts hochladen) auch Erklärvideos zu den Themen „Basteln“, „Schule“ oder „Experimente“. YouTube wird als Unterstützer beim Entdecken der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten wahrgenommen. Dazu kommen Gaming-Videos, die den Kindern zeigen, wie ein bestimmtes Computerspiel funktioniert („Ich gucke jetzt schon mehr YouTube, das liegt an Fortnite. Die anderen aus meiner Klasse spielen das alle und ich möchte da auch mitreden.“ [Junge, 8 Jahre]). Mit zunehmendem Alter (ab ca. 8/9 Jahre) wird die Verlagerung des Interesses vom reinen Inhalt hin zum Absender immer mehr sichtbar. Hier kommen dann die YouTuber als Stars der Plattform ins Spiel.

YouTube bietet Grundschülern also einen Ort, an dem sie ihre Persönlichkeit entdecken und mit neuen, individuellen Interessen anreichern und vertiefen können.
 


YouTube bei Teenagern

Für die älteren Kinder (die die weiterführende Schule besuchen) ist YouTube der einzige Ort, an dem ihre YouTuber sind. Sie besitzen ein eigenes Smartphone und nutzen jede Gelegenheit, ihre Videos zu sehen, zunehmend auch unterwegs. Neben den Inhalten der Stars nutzen sie auch die Suchmaschine, die auf alle Fragen eine Antwort gibt – themenübergreifend von „Schule“ bis „Lifestyle“ („Eine Plattform, wo Menschen sich unterhalten, von ihrem Leben erzählen.“ [Mädchen, 12 Jahre]).

Bei den Inhalten dominieren im Preteens-Alter die Videos bekannter YouTuber. Das Angebot ist riesig und reicht von Styling-Tipps über Comedy, Challenges, Streiche (Pranks) bis hin zu Gaming-Videos oder Selbstdarstellungen von Teenagern, die zeigen, wie sie wohnen oder wie viel ihr Outfit wert6 ist. Den YouTubern gelingt es sehr gut, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, auch wenn sie ihre Videos eigentlich nicht explizit an Kinder richten. Sie wirken nahbar und nehmen die Position eines Freundes ein, in den großes Vertrauen gesetzt wird. Obwohl die Kinder wissen, dass die YouTuber mit ihren Videos Geld verdienen, schmälert dies nicht deren Glaubwürdigkeit. Die Kinder folgen nahezu unreflektiert den Empfehlungen der YouTuber und den Trends, die von diesen gesetzt werden.

Neben den Videos der YouTuber sehen Preteens auch Erklärvideos für Schulthemen, Musik und Do It Yourself (DIY). Elterliche Kontrolle findet in der Altersklasse der 11- bis 13-Jährigen so gut wie gar nicht statt. Mit YouTube schaffen sie sich inhaltlich und physisch eine eigene Welt, die Eltern nichts mehr angeht.
 


YouTube ab 12 oder 17+?

Bei YouTube geht es überwiegend um solche Inhalte, die so ganz anders sind als das „brave Fernsehen“. Hier gibt es Challenges, Musik, Tutorials und Themen von Kindern, die neu aufgegriffen und verpackt werden. Schnell kann man die schönsten Torszenen des gestrigen Länderspiels nachschauen oder sich den neuesten Musikhit anhören. Aber hier stoßen Kinder auch auf Inhalte, die nicht für sie gedacht sind, denn durch automatisierte Playlists können sie auf problematische Videos geleitet werden.

Für Eltern ist dies eine schwierige und unübersichtliche Situation. Nachvollziehbarerweise kapitulieren viele vor der Herausforderung. Die Alterskennzeichen bieten in der neuen Medienwelt keine eindeutige Orientierung mehr. In Bezug auf YouTube z.B. erscheint beim Download der App im Google Play-Store als Altersfreigabe eine USK 12; die gleiche App für ein Apple-Handy enthält die Angabe 17+.

Auch Eltern verfügen über eine eigene Medienbiografie. Sie haben sich durch die ständige Verfügbarkeit zu intensiven Nutzern von YouTube entwickelt und konsumieren den Kanal umfassend und individuell.
 

Weitere Bewegtbild-Plattformen

Zusätzlich zu YouTube spielen Netflix und andere VoD-Anbieter eine zunehmende Rolle bei der kindlichen Mediennutzung. Auch hier gibt es Besonderheiten, die mit dem linearen Fernsehen nicht vergleichbar sind. Bei Netflix und Co. geht es darum, dass bestimmte Inhalte staffelweise konsumiert werden können (Binge Watching), weil alles komplett verfügbar ist. Das klappt auch schon bei den Jüngsten. So produzieren die großen Studios (wie z.B. DreamWorks) inzwischen Kinderprogramm, bei dem die einzelnen Folgen per Cliffhanger miteinander verbunden sind und so zum Weiterschauen einladen. Und da diese Staffeln schon vor der ersten TV-Ausstrahlung bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) eingereicht werden oder eine Alterseinstufung direkt von Netflix bekommen, erhalten sie manchmal ein anderes Alterskennzeichen als die vom Sender bearbeitete TV-Ausstrahlung.

Auch die TV-Sender halten inzwischen ein großes Angebot im Netz und auf Apps bereit. Die Kindersender bieten spezielle Apps und Webseiten für Kinder an. Diese enthalten die gewohnten TV-Inhalte, dürfen aber auch – anders als im TV – mit Werbung unterbrochen werden.
 

Schöne neue Medienwelt?!

Die neuen Plattformen und Inhalteanbieter sorgen dafür, dass Kindern heute ein komplett anderes Set an Bewegtbild-Inhalten zur Verfügung steht als den Kindergenerationen vor ihnen. Diese Tatsache bringt verschiedene Implikationen mit sich.

Kinder kommen mit neuen Genres und Inhalten in Berührung, die nicht für sie produziert wurden. Der sogenannte User-generated Content wurde nicht von Redakteuren begleitet oder erdacht, die kindliche Rezipienten im Blick haben. Er ist Teil einer Popkultur, der die Sorge um entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte fremd ist.

Auch die Kaufproduktionen der TV-Sender ändern sich, weil sie von den Studios primär für andere Zwecke produziert werden und die TV-Auswertung nicht mehr an vorderster Stelle steht. Angeboten werden problematischere Erzählweisen (z.B. horizontal), grenzwertigere Settings und komplexere Figurenkonstellationen.

Der in der traditionellen Medienwelt klar geregelte Umgang mit dem Thema „Werbung“ erhält durch die neuen Plattformen neue Aspekte. Da sich YouTube an Rezipienten ab 18 Jahre richtet, wird hauptsächlich solche Werbung gezeigt, die Erwachsene als Zielgruppe hat. Anders als im TV-Kinderumfeld dürfen Videos online mit Werbung unterbrochen werden. Und schließlich entwickeln sich neue Werbeformen – wie Influencer-Marketing, Sponsoring oder Product-Placement –, mit denen Kinder nur schwer umgehen können.

Die neuen Plattformen ermöglichen Kindern im stärkeren Maße digitale Teilhabe. Sie können sich in ihrer eigenen Medienkompetenz erproben. Einige werden zum Influencer oder zum Let’s Player. Ein paar Kinder tragen mit ihren Videos zum Familieneinkommen bei, indem sie Spielzeug ausprobieren oder Werbung für Produkte machen.

Für die Gesellschaft – und besonders für alle, die Verantwortung für die Entwicklung von Kindern tragen – kann es nicht mehr nur darum gehen, Kinder von diesen Inhalten fernzuhalten. Vielmehr muss es darum gehen, Kinder zu befähigen, mit den neuen Inhalten umgehen zu können.
 

Eltern müssen mehr mitdenken – und sich um den Content kümmern

Das bedeutet aber auch für Eltern, dass sie sich weniger um die mit Medien verbrachte Zeit ihrer Kinder kümmern sollten, sondern sich wieder viel stärker für die konsumierten Inhalte interessieren müssen. Bis vor ein paar Jahren konnte man Kindern die Kindersender anbieten und sie somit sehr einfach auf die für sie gemachten Inhalte aufmerksam machen. In Zeiten von YouTube, Netflix und Amazon, wo der Algorithmus die Inhalte anbietet und der leichtsinnig eingegebene Suchbegriff das Programm bestimmt, ist dies unrealistisch.

Tatsache ist, dass es qualitative hochwertige Plattformen mit Kinderinhalten gibt. Jeder Kindersender bietet in seinen Mediatheken, auf Apps und auch auf Video-on-Demand-Plattformen gutes Kinderfernsehen an. Auch von anderen Anbietern, z.B. der Filmwirtschaft, pädagogischen Initiativen, Verlagen etc. gibt es kindgerechte Inhalte. Medienpädagogik und Jugendschutz haben die dezidierte Aufgabe, Eltern und Kinder zu befähigen, Kinderinhalte problemlos zu finden. Das ist heute schwieriger als vor 20 Jahren, als man mit der Fernbedienung lediglich ein paar Programmplätze weiterspringen musste.
 

Anmerkungen:

1) Vgl.: iconkids&youth, Die Medien-Mütter, repräsentative Face-to-Face-Befragung, März 2018, im Auftrag von SUPER RTL; n=1.174 Mütter von Kindern (3 – 13 Jahre)

2) Ebd.

3) Vgl.: iconkids&youth, TrendTrackingKids 2018; n=807 Kinder (6 – 13 Jahre)

4) Vgl.: Rich Harvest 2018: „YouTube-Studie“; im Auftrag von SUPER RTL

5) Mileys Welt, der wichtigste Channel, der Spielzeugvideos produziert, hat derzeit mehr als 650.000 Abonnenten.

6) Vgl. Lion: Wie viel ist dein Outfit wert? (mehr als 150.000 Abonnenten)