Bin ich peinlich?

Christina Heinen im Gespräch mit Julia Döring

Peinliche Situationen, in die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Realityshows mit Vorsatz gebracht werden, gehören zum Standardrepertoire dieser Formate. Warum sehen Zuschauende sich das so gern an, obwohl es doch eher unangenehm ist, etwas als peinlich zu empfinden? Dr. Julia Döring beschäftigte sich in ihrer Dissertation Peinlichkeit. Formen und Funktionen eines kommunikativ konstruierten Phänomens mit soziologischen, kommunikations- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Peinlichkeit und analysierte Junggesellenabschiede als ritualisiertes Hervorrufen peinlicher Situationen. tv diskurs sprach mit ihr über die kulturelle und soziale Funktion des Peinlichkeitsempfindens.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 2/2021 (Ausgabe 96), S. 30-34

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Ist die Frage, ob etwas peinlich ist oder nicht, wichtiger geworden in den letzten Jahren?

Da Scham und Peinlichkeit sehr viel mit dem idealen Selbstbild in einer kulturellen Gesellschaft zu tun haben, lässt sich das nicht pauschal beantworten. Aber selbst hier in Deutschland ist die Situation nicht eindeutig: Einerseits zeigt sich schon seit vielen Jahren der Trend, soziale Verfehlungen oder Normabweichungen zumindest sprachlich mit dem Peinlichkeitslabel zu stigmatisieren. Andererseits steigt aufgrund von Rollenvielfalt und der Komplexität von sozialen Erwartungs- und Regelverflechtungen die Toleranz für situative Abweichungen, was zur Folge hat, dass Peinlichkeiten auch abflachen können und eher achselzuckend oder gähnend zur Kenntnis genommen werden.
Der Eindruck, dass die Frage, ob etwas peinlich ist oder nicht, an Bedeutung gewonnen hat, ist wohl nicht zuletzt der Allgegenwart und der Entwicklung der Medien geschuldet. Im Hinblick auf Selbstinszenierungen in den klassischen und in den sozialen Medien spielt diese Frage immer noch eine große Rolle, selbst wenn sich die konkreten Peinlichkeitsinhalte kontinuierlich verschieben. So wird diskutiert, was als peinlich gilt: zu viele oder zu wenig Selfies auf Facebook, schlechte Selfies etc.

Zum einen haben sich die Möglichkeiten erweitert, sich selbst öffentlich darzustellen und dabei eventuell auch zu entblößen in einer Weise, die man anschließend doch als peinlich empfindet. Zum anderen spielt aber sicherlich auch die Skandalisierungslogik der Medien selbst eine Rolle?

Immer häufiger geht es in öffentlichen Diskursen nicht um die Frage, ob etwas moralisch richtig oder falsch war, was jemand getan hat – man denke nur an Ex-Präsident Donald Trump –, sondern es werden Fragen diskutiert wie: War es überzeugend, wirkte es „echt“ oder war die Performance schlecht, ohne Wirkung, eben peinlich? Das hat etwas mit den soziokulturellen Bewertungsmustern unseres öffentlichen Selbstbildes zu tun: Welche Rolle spielen hier moralisch gebotene Handlungswerte und -absichten, inwiefern geht es lediglich um souveräne Auftritte, das Erzielen der richtigen Effekte, den öffentlichen Beifall? Einerseits haben sich mit den sozialen Medien die Möglichkeiten deutlich erweitert, mit einer gewissen Vorlaufzeit und neuen technischen Möglichkeiten wie Photoshop etc. strategisch zu planen, wie man sich in Szene setzt. Andererseits wissen wir nie mit Bestimmtheit, wie das In-Szene-Gesetzte ankommt und ob man mit Dingen, die man für lustig oder cool hält, nicht eventuell einen Shitstorm der Peinlichkeit auslöst.
Und dann? In diesem Zusammenhang muss man sich auch fragen: Wie gehen wir mit solchen Situationen des persönlichen Versagens und Scheiterns um? Welche Bewältigungsstrategien stehen uns zur Verfügung? Hier zeigen sich beunruhigende Tendenzen, da es uns an etablierten Ritualen und Handlungsstrategien zu mangeln scheint, die uns von einer solchen Demütigung befreien könnten. Hilflos und oft allein muss das „Opfer“ vor dem Rechner mit ansehen, wie sein (virtuelles) Selbstbild zerstört wird.
Früher gab es klare Regeln, was in bestimmten Situationen als angemessen oder unangemessen galt, eine verbindliche Etikette mit Benimmregeln – und auch, welche Entschuldigungsmaßnahmen ein Regelbrecher zu unternehmen hat. Heute ist nicht mehr so klar, was als peinlich gilt, sondern das wird situativ immer wieder neu verhandelt. Deshalb sind situatives Gespür und die Fähigkeit, in jeder Situation souverän und schnelle Anschlussmöglichkeiten zu finden, so wichtig geworden.
 


Wie gehen wir mit solchen Situationen des persönlichen Versagens und Scheiterns um? Welche Bewältigungsstrategien stehen uns zur Verfügung?


 

Demnach ist unser Peinlichkeitsempfinden mit Blick auf das öffentliche Selbst wichtiger geworden?

Es hilft uns dabei, unser Verhalten den situativen Erwartungen der anderen anzupassen, und natürlich auch dabei, anderen Peinlichkeiten zu ersparen. Insofern schützt das Peinlichkeitsempfinden unser Selbst in der öffentlichen Sphäre – und dieser Schutz scheint an Relevanz gewonnen zu haben. Allerdings: Ist es zu stark ausgeprägt, sind wir zu peinlichkeitssensibel, agieren wir oft so gehemmt, verlegen oder unsicher, dass wir ungewollt mit unseren eigenen Hemmungen peinliche Situationen für andere auslösen. Das ist der magische Übertragungseffekt von Peinlichkeit.

Was ist Peinlichkeit aus wissenschaftlicher Perspektive, welche gesellschaftliche und individuelle Bedeutung hat sie?

Die Soziologie interessiert sich für Peinlichkeit als soziale Exklusionsfurcht. Peinlichkeit ist ein Indikator für die sozialen Ängste und Hemmschwellen in einer Gesellschaft. Aus Sicht der Rollentheorie, etwa von Erving Goffman etc., handelt es sich bei peinlichen Situationen um Rollenfehler und dramaturgische Störungen. Das deckt sich mit unserem Alltagsverständnis: Das umgekippte Rotweinglas, das Stolpern in der Öffentlichkeit, die verrutschte Kleidung sind peinlich.
Die Emotionspsychologie nimmt demgegenüber die situative Verursachung von Peinlichkeitsemotionen in den Blick, da dominiert die Innenperspektive des Individuums. Ich versuche, eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive einzunehmen und beide Ebenen zu betrachten. Die Handlungsebene ist wichtig, aber die Wurzel der Peinlichkeit liegt im Peinlichkeitsempfinden. Eine Situation ist nur peinlich, wenn jemand sie als peinlich empfindet. Trotzdem hat die innere Peinlichkeitserfahrung immer auch eine soziale Komponente, sie transportiert sich nach außen und beeinflusst die Situation so radikal, dass diese nicht mehr so ist wie vorher. Diese beiden Ebenen habe ich mir in meiner Dissertation angeschaut.

Und aus systemtheoretischer Sicht?

Da geht es um die soziale Adressabilität. Wenn jemandem gar nichts mehr peinlich ist, kickt er sich selbst ins Aus. Peinlichkeit ist ein soziales Scharnier, welches den Einzelnen mit der Gesellschaft verbindet. Unser Peinlichkeitsempfinden ermöglicht es uns, uns zu exponieren, in die soziale Sphäre zu begeben, ohne einander zu nahe zu treten. Wenn jemand Peinlichkeitsgrenzen überhaupt nicht wahrnimmt oder nicht achtet, kommt es irgendwann zum Verlust der sozialen Adressabilität.

Dennoch scheint es auch eine Frage des Alters zu sein, welche Bedeutung der Vermeidung von Peinlichkeiten zugemessen wird.

Je älter wir werden, desto souveräner gehen wir in der Regel mit peinlichen Situationen um. Das Empfinden von Peinlichkeit hat immer etwas damit zu tun, dass ich mich zu sehr exponiert fühle oder dass meine Schamhaftigkeit verletzt wird. In der Zeit des Heranwachsens bin ich z.B. mit vielen neuen Situationen konfrontiert, in denen ich noch unsicher bin, wie ich mich verhalten soll, in denen ich noch kein festes Rollenbild ausgeprägt habe. Hier ist das öffentliche Selbstbild dann besonders verwundbar. Deshalb gilt die Pubertät als die klassische Phase der Peinlichkeit. Alles kann peinlich sein, wenn ich noch auf der Suche bin nach dem eigenen Selbst, der eigenen Rolle. Später ist es einem oft nicht mehr so wichtig, was andere über einen denken könnten. Außerdem hat man Strategien entwickelt, peinliche Momente besser zu bewältigen und zu verarbeiten.
 


In der Zeit des Heranwachsens ist das öffentliche Selbstbild besonders verwundbar.


 

Was ist der Unterschied zwischen Peinlichkeit und Scham?

Peinlichkeit ist komisch, Scham ist tragisch. Peinlichkeit tangiert lediglich unser öffentliches Selbstbild, die Figur, die wir vor anderen abgeben. Scham empfinden wir angesichts einer negativen Herabsetzung von unserem ganzen Selbst. Wenn innere Werte verletzt worden sind, mit denen wir uns bis ins Letzte identifizieren.
Mir kann etwas peinlich sein, obwohl ich es im Grunde genommen gar nicht wichtig finde. Lediglich in der Situation ist es mir unangenehm, vor bestimmten anderen Leuten. Um Scham zu empfinden, braucht es die reale oder vorgestellte Öffentlichkeit nicht unbedingt, weil es um eine empfundene Verletzung verinnerlichter Normen geht, um den internalisierten anderen. Schämen kann ich mich auch alleine abends im Bett für etwas, von dem niemand etwas weiß.

Macht es Sinn, von „Fremdschämen“ zu sprechen?

Im Grunde geht es um Peinlichkeitsempfinden, wenn wir von Fremdscham sprechen. Uns ist das Verhalten eines anderen peinlich oder unangenehm, z.B. Entblößungen im Fernsehen oder ein aufgebrachter Gast am Nachbartisch im Restaurant. Natürlich kann ich mich auch für andere schämen, wenn ich diese (ungewollt) als Teil meines eigenen Selbst ansehe. Meist ist dies bei uns nahestehenden Personen, z.B. bei Eltern, Kindern, Lebenspartnern der Fall. Wenn diese Dinge tun, die unsere inneren Werte und Ideale bis ins Mark verletzen, dann können wir uns für diese Menschen und unsere enge Beziehung zu ihnen schämen. Aber dann sprechen wir nicht von Fremdscham, sondern von Scham. Sofern wir unsere Scham dann überhaupt als solche erkennen und sprachlich artikulieren können, was nicht unbedingt der Fall ist, da Schamgefühle so wenig auszuhalten sind, dass sie oft durch andere Emotionen wie Wut oder Trauer überlagert werden. Der klassische Satz: „Ich schäme mich für dich.“ ist nicht selten eher negative Fremdbewertung als innere Emotionsbekundung.
 

Dr. Julia Döring beschäftigte sich in ihrer Dissertation „Peinlichkeit. Formen und Funktionen eines kommunikativ konstruierten Phänomens“ mit soziologi­schen, kommunikations- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf Peinlichkeit und analysierte Junggesellenabschiede als ritualisiertes Hervorrufen peinlicher Situationen.

Christina Heinen ist Hauptamtliche Vorsitzende in den Prüfausschüssen der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).