Big Data als Herausforderung für die Medienpädagogik

Niels Brüggen

Niels Brüggen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, München.

Die großen Datenmengen, die heutzutage erfasst werden (Big Data), und die entsprechenden Auswertungsverfahren (Big Data Analytics) stellen neue Herausforderungen an die medienpädagogische Arbeit. Der Beitrag beleuchtet diese Herausforderungen und stellt beispielhaft praktische Arbeitsansätze vor.

Printausgabe tv diskurs: 20. Jg., 4/2016 (Ausgabe 78), S. 18-21

Vollständiger Beitrag als:

Big Data in der Fernsehwelt

Rückblickend markiert „die Quote“ nur den Anfang der Bedeutung von Daten in der Fernsehwelt. Längst haben sich Zuschauerinnen und Zuschauer im Zuge der Konvergenz vielfältige Wege des Fernsehens erschlossen. Dank der Digitalisierung kann online jede Streaming-Anfrage in der Mediathek oder jede Unterbrechung des Streams gezählt werden. Smart-TV-Geräte senden Nutzungsdaten an die Server der Sender sowie an die der Gerätehersteller. Wer mit modernen Geräten fernsieht, ob online, am Smart-TV oder auf dem Tablet, hinterlässt Daten in großer Zahl. Big Data ist auch beim Fernsehen bereits Realität. Und damit ist das neue Fernsehen ein guter Ansatzpunkt, um Herausforderungen aufzuzeigen, denen sich medienpädagogische Arbeit mit dem Ziel der Förderung von Medienkompetenz, verstanden als „Befähigung zur souveränen Lebensführung in einer mediatisierten Gesellschaft“ (Schorb/Wagner 2013, S. 18), stellen muss. Unterschieden werden können Herausforderungen, die die Datenerhebung von großen Datenbeständen (Big Data) betreffen, und solche, die mit der Auswertung und Verarbeitung solcher Datenbestände (Big Data Analytics) verbunden sind.

„Think before you post“ reicht nicht

Die Datenspuren eines Smart-TV sind nur mit einem ausgeprägten technischen Wissen vermeidbar. Ähnlich ist es beim Surfen im Internet, bei der Nutzung des Smartphones usw.: Die digital vernetzten Geräte, die uns heute in unseren Lebenswelten begleiten, müssen Daten austauschen, um zu funktionieren. Und selbst Fachleute können nur mit einigem Aufwand herausarbeiten, welche Datenströme für die Bereitstellung der Dienste wirklich notwendig sind und welche lediglich zusätzliche Daten generieren bzw. verbreiten.

Vor der Folie informationeller Selbstbestimmung – also der Vorstellung, dass jede und jeder wissen sollte, was andere über einen wissen, und dies auch mitbestimmen sollte – ist diese Situation problematisch. Denn vielen Nutzenden ist nicht bewusst, welche Daten im Zuge der Nutzung ihrer technischen Geräte gesammelt werden (können). Des Weiteren dürfte der Mehrheit nicht klar sein, was aus solchen Daten geschlossen werden kann.

Bereits mit Blick auf die Datenerhebung konturiert sich damit die Herausforderung, Datenschutz anders zu vermitteln, als dies mit Blick auf soziale Netzwerkdienste gängige Praxis ist. Mit Blick auf die digital vernetzten Öffentlichkeiten hatte es durchaus Sinn, mit Botschaften wie „Denk vor einer Veröffentlichung nach“ aufzuwarten. Aber auch die bekannten sozialen Netzwerkdienste protokollieren jeden Klick, jedes Video, das angesehen wurde, schlicht: die komplette Nutzung des Angebots. Die bewusste Veröffentlichung deckt nur einen Teil der Herausforderungen ab, denen sich die Nutzenden und damit auch die Medienpädagogik gegenübersehen.

Mit Blick auf die Datenerhebung im Zusammenhang von Big Data ist vielmehr zu beleuchten, welche Daten einfach en passant im Zuge des Umgangs mit digitalen Geräten generiert werden. Die Frage ist, ob hier wie bei der Forderung nach einer reflektierten Veröffentlichungspraxis von den Einzelnen erwartet werden kann, dass sie individuell Verantwortung übernehmen, um die eigenen Daten bzw. sich zu schützen. Die Forderung nach einem Selbstdatenschutz der Nutzenden steht durchaus im Raum. Gemeint ist die Vorstellung, dass alle Nutzenden selbst dafür Sorge zu tragen haben, ihre Daten z. B. durch Verschlüsselung zu schützen. Angesichts dieser Forderung nach individueller Selbstverantwortung kapitulieren einige Nutzende überfordert. Entsprechende fatalistische Haltungen wurden bei Jugendlichen wie auch beim Bevölkerungsdurchschnitt bereits identifiziert (vgl. Brüggen/Dirr u.a. 2014; DIVSI 2015). Neben der individuellen Überforderung ist es zudem auch eine unzureichende Verkürzung des Grundgedankens von Datenschutz, wenn dieser allein auf die Nutzenden beschränkt bleibt. Das Prinzip der Datensparsamkeit bezieht sich z. B. ursprünglich auf die Gestaltung von Daten verarbeitenden Systemen – und nicht auf deren Nutzerinnen und Nutzer. Die Anbieter einer Softwarelösung sind nach diesem Prinzip gehalten, möglichst wenige Daten zu erfassen und zu verarbeiten. Ein Prinzip, das im Paradigma von Big Data als überholt dargestellt wird. Vielmehr ist es opportun, möglichst viele Daten zu erfassen. Paradox ist dann allerdings, wenn das Prinzip auf die Nutzenden verlagert wird, die nun datensparsam leben sollten. Ungleich verteilte Gestaltungsmöglichkeiten sind hier offenkundig.

Auswertungen sind in der Regel für die Nutzenden nicht transparent

Noch deutlicher wird diese Ungleichverteilung von Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Auswertung von Datenbeständen (Big Data Analytics). Aus der Analyse vieler Datensätze können Aussagen über Einzelne gemacht werden. Solche Vergleiche und Mustererkennung können Einzelne mit ihren eigenen Daten nicht anstellen, selbst wenn sie die Algorithmen hätten. Relevant wird dies, wenn vor Augen geführt wird, was mit der Auswertung von Daten verbunden ist. Hier weist Filipovic auf die Aspekte Datenökonomie, Überwachung, Vorhersagestrukturen und Manipulation hin (Filipovic 2014; siehe auch Brüggen 2015). So werden potenziell alle Lebensäußerungen, die digital erfassbar sind, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten auswertbar. Sobald Daten für Geschäftsmodelle herangezogen werden, kann verdächtig oder diskriminiert werden, wer diese Daten (seien es Daten der Fernsehnutzung oder Kenndaten des Autofahrstils) nicht zur Verfügung stellen will, denn die Überwachung erlaubt auch an statistische Vorhersagen gekoppelte Bewertungen, differenzierte Tarife etc. Schließlich können solche Auswertungen genutzt werden, um Verhalten zu manipulieren. Ob diese Manipulation zu einem individuell wie auch gesellschaftlich positiven Zweck oder mit niederen Interessen geschieht, ist dabei zunächst offen. In der Gestaltung von digitalen Diensten ist aber davon auszugehen, dass Handlungsmöglichkeiten auf Basis solcher Vorhersagestrukturen beschränkt werden. Zu fragen ist vor diesem Hintergrund nach den Möglichkeiten für selbstbestimmtes und souveränes Handeln, das ja gerade Ziel medienpädagogischer Arbeit ist.

Zugänge für die Förderung von Medienkompetenz in Anbetracht von Big Data

Die bis hierhin beschriebenen Herausforderungen für die Nutzenden und die Medienpädagogik verdeutlichen, dass die Förderung von Medienkompetenz sich angesichts von Big Data nicht auf Tipps und Tricks zum individuellen Schutz der eigenen Daten beschränken kann. Notwendig erscheint vielmehr, die Subjekte und die Technik in ihren gesellschaftlichen Bezügen zu thematisieren. Ganz klassisch geht es dabei um Wissen und Bewerten als Grundlage für Orientierung und gesellschaftliche Handlungsfähigkeit in einer mediatisierten Gesellschaft. Was dies für Zugänge der medienpädagogischen Arbeit bedeutet, wird nachfolgend skizziert.

Erstens geht es darum, Ohnmachtserfahrung als Ausgangspunkt ernst zu nehmen und in der Arbeit produktiv zu wenden.
Informationen über Big Data Analytics können ein Ohnmachtsgefühl evozieren. Solche Ohnmachtsgefühle gilt es ernst zu nehmen und nicht abzuwerten. Ernst nehmen meint in der pädagogischen Arbeit, die Offenheit anzulegen, dass auch Ohnmachtsgefühle, Fatalismus oder dystopische Vorstellungen geäußert werden können. Wichtig ist allerdings, diese Gefühle und Befürchtungen produktiv zu wenden – sei es mit Blick auf konkrete Handlungsoptionen oder eine Motivation, sich gesellschaftspolitisch in den Diskurs über Regeln für Big Data Analytics einzubringen.

Zweitens geht es darum, Hintergründe zu verstehen und eigene Vorstellungen zu entwickeln.
Für die konkrete und anschauliche Vermittlung von Hintergründen zu Big Data können verschiedene Methoden herangezogen werden, die bereits vorliegen. So ermöglicht die Methode „Szenario Werbeagentur“ Einblicke, welche Daten bei der Nutzung von sozialen Netzwerkdiensten erfasst und für die Auswahl relevanter Werbezielgruppen herangezogen werden können. Die Methode aus dem Materialpaket Online-Werbung mit Jugendlichen zum Thema machen (JFF 2014) arbeitet mit der Funktion auf der Plattform Facebook, mit der alle Nutzenden Werbeanzeigen schalten können. Hierfür können sie die gewünschte Zielgruppe anhand verschiedener Merkmale auswählen, die teils von den Nutzenden bewusst im Profil angegeben, teils aber auch aus Nutzungsdaten abgeleitet werden.

Stärker auf die sozialen Wirkungen permanenter Überwachung zielt z.B. eine Methode aus dem klicksafe-Materialpaket Privatsphäre und Big Data ab. Mit einer einfachen Methode wird mit dem Zusatzarbeitsblatt Überwachung erfahrbar, welchen Einfluss Überwachung auf das eigene Handeln und die wahrgenommene Freiheit hat. Die Idee der Methode ist einfach: Eine kleine Gruppe Schülerinnen und Schüler stellt sich in einer Reihe auf und erhält verdeckt Zettel mit unterschiedlichen Überwachungsszenarien (von keiner Überwachung bis hin zu einer technisch gestützten Überwachung). Die restlichen Schülerinnen und Schüler können nun Fragen stellen. Wer die Frage mit „Ja“ beantwortet, kann einen Schritt nach vorne gehen. Die anderen bleiben stehen. So wird auch räumlich sichtbar, dass und ob unterschiedliche Überwachungsszenarien auch das eigene Handeln beeinflussen können.

Für die Auseinandersetzung mit technologisch gestützter Überwachung können auch klassische Ansätze der aktiven Medienarbeit genutzt werden, um ein Setting zu schaffen, in welchem Jugendliche sich damit auseinandersetzen, welche Daten gesammelt werden (können). Für solch einen kreativ-gestalterischen Zugang steht z.B. der beim mobile clip festival 2012 als „Großes Ding“ gekürte Kurzfilm Hi, this is Peter! Der Kurzfilm rückt ein Smartphone in den Fokus und verweist darauf, was dieses sieht, während es von den Nutzenden herumgetragen wird. Hier regt zum einen die Produktion eines solchen Films eine Auseinandersetzung mit den Geräten, mit denen wir umgehen, an. Zum anderen kann der Clip auch in pädagogischen Settings genutzt werden, um herauszuarbeiten, was Peter, das Smartphone, wohl über seine Besitzer „weiß“.

Ausgehend von solchen Methoden kann mit Jugendlichen erarbeitet werden, welche Vorstellungen sie haben, was bezüglich der Datenerfassung und der Auswertung großer Datenmengen erlaubt sein sollte. Denn eigene Vorstellungen, Wünsche und Ansprüche zu entwickeln, ist eine Grundlage, um aus einer potenziellen Ohnmachtserfahrung heraustreten zu können.

Drittens geht es darum, bei der Suche nach Lösungen den Fokus über die individuelle Selbstverantwortung auszuweiten.
Im Abgleich zwischen Ist-Zustand und eigenen Vorstellungen kann abgeglichen werden, wo realistische Möglichkeiten bestehen, etwas zu verändern. Dies markiert den Punkt, an dem in der pädagogischen Arbeit der Fokus über die Frage hinaus geweitet werden muss, was die oder der Einzelne selbstverantwortlich für sich machen kann. Angesichts der beschriebenen Herausforderungen wird deutlich, dass Einzelne bezüglich Big Data Analytics wenig Gestaltungsspielraum haben. Denn wenn Bildungsmaßnahmen nur den Aspekt der Selbstverantwortung betonen, isolieren sie die Adressaten in einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Die obigen Ausführungen machen vielmehr deutlich, dass es angesichts von Big Data und Big Data Analytics politisch gestalteter Rahmenbedingungen bedarf. Eine zentrale Aufgabe der Medienpädagogik wäre folglich, eine differenzierte Meinungsbildung zu diesem Thema zu unterstützen.

Literatur

Brüggen, N.: Gedanken zur Neuausrichtung der Medienkompetenzförderung angesichts Big Data. In: H. Gapski: Big Data und Medienbildung. Zwischen Kontrollverlust, Selbstverteidigung und Souveränität in der digitalen Welt. München 2015, S. 51 – 62

Brüggen, N./Dirr, E./Schemmerling, M./Wagner, U.: Jugendliche und Online- Werbung im Social Web(Hrsg.: Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz). München 2014. Abrufbar als PDF (letzter Zugriff: 01.11.2016)

Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI): Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) von Kommunikationsdienstleistern. Internet-repräsentative quantitative Online-Panelbefragung. Hamburg 2015. Abrufbar als PDF (letzter Zugriff: 01.11.2016)

Filipovic, A.: Eine medienethische Perspektive, inwieweit souveränes Handeln in digitalen Umwelten möglich ist (Beitrag zur 10. Interdisziplinären Tagung. Videodokumentation. Veranstaltung vom 28.11.2014, aus der Reihe „Interdisziplinäre Tagung“). München 2014. Abrufbar unter: www.id-tagung.de (letzter Zugriff: 01.11.2016)

JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis: Online-Werbung mit Jugendlichen zum Thema machen (Hrsg.: Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz). München 2014. Abrufbar unter: http://www.bestellen.bayern.de

klicksafe: Zusatzarbeitsblatt Überwachung. Ludwigshafen 2015. Abrufbar als PDF (letzter Zugriff: 01.11.2016)

Schorb, B./Wagner, U.:Medienkompetenz – Befähigung zur souveränen Lebensführung in einer mediatisierten Gesellschaft. In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Medienkompetenzförderung für Kinder und Jugendliche. Eine Bestandsaufnahme. Berlin 2013, S. 18 – 23. Abrufbar als PDF (letzter Zugriff: 01.11.2016)