Baustelle im Kopf

Nora Schultz

Dr. Nora Schultz ist wissenschaftliche Referentin beim Deutschen Ethikrat und freie Wissenschaftsjournalistin.

Während der Pubertät wird das menschliche Gehirn radikal umgebaut. Der folgende Beitrag beschreibt dieses Prozess sehr anschaulich.
Der Artikel erschien ursprünglich in einer umfangreicheren Fassung auf dasgehirn.info.

Printausgabe tv diskurs: 22. Jg., 3/2018 (Ausgabe 85), S. 44-47

Vollständiger Beitrag als:

Wenn eine Raupe zum Schmetterling reift, löst sie sich im Puppenstadium fast vollständig auf. Beim Menschen erscheint der Übergang ins Erwachsenenleben zunächst weniger dramatisch. Zwar sprießen Körperhaare und Pickel, verrutscht die Stimme und fließen allerlei neue Säfte, doch der radikale Umbau, den das Insekt durchmachen muss, bleibt dem metamorphosierenden Menschenkind erspart – so dachte man. Doch auch wenn das Gehirn nach dem 6. Lebensjahr nicht mehr viel wächst, weiß man inzwischen, dass seine Struktur und Funktion sich danach noch massiv verändern – gerade in der Pubertät. Forscher, die seit 1989 regelmäßig Hirnscans von 618 sich normal entwickelnden jungen Menschen im Alter von 5 bis 25 Jahren gesammelt haben, fanden heraus, dass die Umbauten während der Teenagerjahre der Verwandlung im Innern der Schmetterlingspuppe kaum nachstehen.

Das pubertierende Gehirn löst sich zwar nicht auf, aber es kommt ihm reichlich graue Substanz abhanden, die vornehmlich aus Nervenzellkörpern besteht. Vor allem der Cortex dünnt sich ab dem 10. Lebensjahr stark aus. Das liegt vor allem daran, dass massenhaft Synapsen (die Kontaktstellen zwischen den Zellen) verloren gehen – und zwar besonders solche, die wenig genutzt werden. Gleichzeitig nimmt die weiße Substanz im Gehirn zu: Gliazellen umwickeln immer mehr Axone. Die so gebildete fettreiche Myelinscheide, die der weißen Substanz ihre Farbe verleiht, erlaubt es den Axonen, Signale bis zu 3.000 Mal schneller zu übertragen.

Der Frühjahrsputz unter den während der Kindheit verschwenderisch gebildeten Synapsen und die aufgemotzten Axone sorgen für mehr Effizienz im jugendlichen Gehirn – nur nicht überall gleichzeitig. Die Umbauarbeiten arbeiten sich vielmehr von schlichteren zu komplexeren kognitiven Funktionen vor, was auch Erklärungen für manch Teenagergebaren bietet. Los geht es mit 8 bis 9 Jahren im sensorischen und motorischen Cortex im Scheitellappen mit der Schärfung der Sinne und motorischen Fähigkeiten. Ab ungefähr dem 10. Geburtstag erfasst die Modernisierung dann Bereiche im Stirnlappen, die für Koordinierungsaufgaben zuständig sind, z.B. für sprachliche Ausdrucksfähigkeit und räumliche Orientierung.

Als Letztes ziehen im Stirn- und Schläfenlappen Regionen nach, die höhere, integrative kognitive Funktionen wie die Willensbildung, Handlungsplanung und Impulskontrolle mitbestimmen. Besonders wichtig ist hierfür der präfrontale Cortex, und dessen Reifung lässt sich Zeit bis über den 20. Geburtstag hinaus. Jugendliche sind etwa bei Denkaufgaben noch deutlich leichter ablenkbar als Erwachsene und zeigen dabei im präfrontalen Cortex andere Aktivitätsmuster.

Die Spätzündung im präfrontalen Cortex bedeutet auch, dass sich frühreifere Gehirnregionen in der Pubertät vergleichsweise ungezügelt austoben können. Geschlechtshormone leisten dazu einen direkten Beitrag, vor allem im limbischen System, das die Verarbeitung von Emotionen und die Steuerung von Impulsen mitsteuert und reichlich Hormonrezeptoren vorweisen kann. Testosteron fördert das Wachstum der Amygdala (des Mandelkerns), Östrogen eher das des Hippocampus. Beide Regionen sind Teil des Belohnungssystems, und die Amygdala wirkt als emotionaler Verstärker, gerade wenn es um Angst oder Wut geht.

Wie genau Hormone die Struktur und Funktion dieser Gehirnregionen beeinflussen, ist zwar noch längst nicht klar, aber gerade die Amygdala gilt als heißer Kandidat für einen Motor pubertären Verhaltens. Bestens vernetzt mit anderen Gehirnarealen, mischt sie vermutlich bei vielen Jugendexzessen mit – seien es Stimmungsschwankungen, erhöhte Aggression oder Risikofreude. In der Amygdala nimmt die graue Substanz bei Teenagern entgegen dem Trend sogar zu – insbesondere bei Jungen, die schließlich auch mehr Testosteron produzieren. Bessere kognitive Leistungen gehen mit einem massiven Mandelkern nicht unbedingt einher, mitunter sogar das Gegenteil. Jedenfalls die Erkennung von Gesichtern und Gefühlen anderer – eine weitere wichtige Funktion der Amygdala – klappt in der Pubertät zeitweise weniger gut als in der Kindheit oder im Erwachsenenalter.
 


Der Neurowissenschaftler Peter Uhlhaas von der Universität Glasgow in Schottland fand Hinweise darauf, dass so ein vorübergehendes Leistungstief bei 15- bis 17-jährigen direkt mit den Umbauarbeiten im jugendlichen Kopf zusammenhängt. Ihre Gehirne schwingen im EEG anders als die jüngerer oder älterer Probanden. Gerade hochfrequente Schwingungsmuster, die ein Indiz dafür liefern, wie gut die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Gehirnregionen läuft, wurden in dieser Altersgruppe schwächer und weniger synchron. „Wir beobachten eine einzigartig chaotische Phase, einen richtigen Bruch in der Entwicklung“, sagt Uhlhaas. Kurze Zeit später ist der Spuk schon wieder vorbei und aus dem Chaos entpuppen sich die für das reife Gehirn typischen hocheffizienten funktionalen Netzwerke, in denen auch weit voneinander entfernte Areale in synchroner Harmonie schwingen.

Bei so viel Bewegung auf der Baustelle im Kopf kann natürlich auch einiges verrutschen. Welche Synapsen ausgemistet werden und wie genau die Kabelisolierarbeiten bei der Myelinisierung ablaufen, wird davon beeinflusst, was der metamorphosierende Mensch in dieser Zeit erlebt. Die erhöhte neuronale Plastizität während der Pubertät macht sensibel für äußere Einflüsse – seien es spannende Erfahrungen, Videospiel- und Fernsehexzesse oder gar Gewalt. Das erklärt nicht nur, warum Jugenderlebnisse oft lebenslang die Persönlichkeit prägen, sondern auch, warum viele psychische Erkrankungen erstmals im Jugendalter auftreten. Mithilfe weiterer EEG-Studien an Jugendlichen, die psychiatrische Symptome zeigen, will Peter Uhlhaas daher ein Frühwarnsystem entwickeln, das gefährdete Teenager anhand typischer Schwingungsmuster erkennt und so ein rechtzeitiges Eingreifen ermöglicht.

Bei aller Sorge vor Entgleisungen bleiben extreme Emotionen, Anfälle von Wagemut und die Suche nach krassen Erfahrungen in der Pubertät normal. Sie haben auch einen evolutionären Sinn, ermöglichen sie doch der heranreifenden Generation die Abkopplung von den Eltern und den Aufbau eines eigenen Erfahrungsschatzes. Initiationsriten, in denen Teenager sich Mutproben stellen oder auf eigene Faust in der Wildnis klarkommen müssen, sind fester Bestandteil vieler Kulturen. Zu Recht, finden viele Experten und fordern, Jugendliche stärker herauszufordern und ihre Grenzen austesten zu lassen.

In der Pubertät mögen Flegelmanieren und Stimmungsstürme gehörig nerven und, ja, auch Chaos im Kopf herrschen. Ein bisschen Vertrauen in die fast reifen Gehirne ist dennoch nicht fehl am Platz. Man braucht nur einen Blick auf Schülerwettbewerbe zu werfen, um sich davon beeindrucken zu lassen, zu welchen Höhenflügen die musizierenden, forschenden oder debattierenden Kontrahenten in der Lage sind. Und ausgerechnet beim Zocken um Geld wählen Jugendliche mitunter sogar rationalere Strategien als Erwachsene, fanden Forscher kürzlich heraus.

Der Artikel erschien ursprünglich in einer erweiterten Fassung auf dasgehirn.info.
 

Weiterführende Literatur:

Giedd, J. N. u.a.: Child Psychiatry Branch of the National Institute of Mental Health Longitudinal Structural Magnetic Resonance Imaging Study of Human Brain Development. In: Neuropsychopharmacology Reviews, 40/2015, S. 43-49 (letzte Zugriff: 16.07.2018)