Auf dem virtuellen Sofa

Die Kinder der 1960er-Jahre bleiben ihrem Medium treu

Tilmann P. Gangloff

Tilmann P. Gangloff ist freiberuflicher Medienfachjournalist.

Die Fernsehgeräte im Wohnzimmer werden immer größer, aber das wichtigste Bildschirmgerät der Deutschen ist erstmals das Smartphone. So steht es im Digitalisierungsbericht Video der Landesmedienanstalten. In der entsprechenden Umfrage entfielen 37 % auf das Smartphone und nur noch 32 % auf den Fernseher. Ein „Lagerfeuer der Nation“ ist das klassische Fernsehen ohnehin nur noch bei wichtigen Spielen der Fußballnationalmannschaft. Die jüngsten Zahlen scheinen zu bestätigen, was schon lange prophezeit wird: Das Ende des Mediums ist nahe. Aber Totgesagte leben länger.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 24-27

Vollständiger Beitrag als:

Gerd Hallenberger glaubt nicht an den Tod des Fernsehens. Nach Ansicht des Marburger Medienwissenschaftlers stimmt die These vom baldigen Ableben nur insofern, als der Begriff „Fernsehen“ im heutigen Sinn irgendwann irreführend sein wird. Die Entwicklung zeichne sich bereits ab:

Es gibt schon jetzt viele Formen audiovisueller Angebote, viele Zugangswege und viele Display- oder Monitorformen. Wie die Nutzung der Angebote genannt wird, ist aber erst mal völlig egal. Viel entscheidender ist die Tatsache, dass für unterschiedliche Angebotsformen und Nutzungssituationen entsprechend unterschiedliche Konfigurationen sinnvoll sind.“ 

Was kompliziert klingt, ist im Alltag ganz einfach. Die Deutschen mögen das Smartphone als wichtigstes Bildschirmgerät bezeichnen, aber 63 % der Befragten schauen sich Filme und Serien nach wie vor auf dem Fernsehgerät an. Hallenberger geht daher davon aus, dass der klassische Fernsehapparat auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen wird. Allerdings müsse sich jede Sendung das Großgerät mit dem voluminösen Raumklang erst einmal verdienen. Er verdeutlicht dies am Beispiel des Science-Fiction-Klassikers 2001: Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrick: „Es ist völlig sinnlos, sich eine derart monumentale Produktion auf einem Smartphone anzuschauen.“ Ebenfalls gute Chancen auf Zutritt zum Wohnzimmer hätten Übertragungen, „bei denen das Hier und Jetzt wichtig ist“, allen voran Großereignisse aus dem Sportbereich. Wichtige Fußballspiele z.B. werden dem linearen Fernsehen nach Hallenbergers Überzeugung „beim Überleben helfen, denn es macht keinen Spaß, sich ein WM-Finale drei Tage später in der Mediathek anzuschauen“. Bei einem Fernsehfilm oder einer Reportage sei das dagegen kein Problem. Bei solchen Sendungen spielten globale virtuelle Gemeinschaften anders als bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen keine Rolle:

Jede Form von Inhalt, die solche Gemeinschaften entstehen lässt, begünstigt das klassische lineare Fernsehen, weil die Menschen diese Inhalte ‚live‘ erleben wollen.“


Virtuelles Sofa

Ähnliche Gemeinschaften bilden sich auch auf nationaler Ebene. Das gilt vor allem für Castingshows, bei denen das Publikum mitwirken kann: Wer Deutschland sucht den Superstar einen Tag später anschaut, kann nicht mehr abstimmen. Fast noch wichtiger ist allerdings die Möglichkeit, wie beim Tatort der ARD digital mit Freunden oder in entsprechenden Chatforen über die Darbietungen zu diskutieren. Der Sonntagskrimi im Ersten sorgt im besten Fall zudem für einen Lagerfeuereffekt und versammelt die Familie im Wohnzimmer. Bei Sendungen, die zum Austausch einladen, spricht Hallenberger gern vom „virtuellen Sofa“, auf dem die jeweilige Fangemeinde zusammen Platz nimmt: „ein weiterer Trumpf fürs lineare Fernsehen“.

Dazu zählt auch ein Phänomen, das der Medienwissenschaftler als „Kohorteneffekt“ bezeichnet:

Jede Generation hat eine hohe Affinität zu dem Medien-Ensemble, mit dem es aufgewachsen ist.“

Für die entsprechenden Medien ist das so etwas wie eine Überlebensgarantie: Wer von klein auf daran gewöhnt war, Fernsehsendungen über ein Fernsehgerät zu nutzen, wird von dieser Gewohnheit nicht lassen; ein Umstand, von dem auch die gedruckte Tageszeitung profitiert. Deshalb wird das klassische Fernsehen in Deutschland höchstwahrscheinlich mindestens ebenso lange existieren wie die Menschen, die zu den geburtenstarken Jahrgängen ab Mitte der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre gehören. Sie stellen die Kerngruppe der „Generation Fernsehen“, die ausschließlich mit ARD und ZDF aufgewachsen ist. Die Nutzung der Mediatheken ist in den letzten Jahren zwar in allen Altersgruppen deutlich angestiegen, aber die „Babyboomer“ bevorzugen Fernsehen nach wie vor linear. Wenig überraschend bilden sie daher auch die öffentlich-rechtliche Kernzielgruppe.

Ein Privatsender wie ProSieben, der sich an ein deutlich jüngeres Publikum richtet, steht dagegen vor einer ganz anderen Herausforderung. Für die Digital Natives, die ins Zeitalter der Digitalisierung hineingeboren worden sind, gilt schon jetzt, was Hallenberger eingangs noch als zukünftige Entwicklung beschrieben hat: Sie orientieren sich nicht mehr an Sendeschemata, sondern stellen sich ihr Programm selbst zusammen. „Junge“ Sender wie ProSieben konkurrieren daher weniger mit RTL oder RTL II, sondern vor allem mit YouTube. Ausgerechnet ARD und ZDF haben auf diese Form der Mediennutzung genau richtig reagiert, indem sie im Herbst 2016 das nur online verfügbare funk ins Leben gerufen haben. Das Angebot ist auf allen wichtigen Mediaplattformen wie YouTube, Facebook etc. verfügbar. Es gibt zwar ein zentrales Portal, aber die verschiedenen Formate werden auch über jeweils eigene Kanäle verbreitet. Hallenberger bringt die Strategie auf den Punkt: „überall präsent sein, wo sich Bewegtbilder verstecken können“. funk sei auch deshalb beispielhaft, weil ARD und ZDF – wenngleich auf sanften Druck der Politik – nicht länger darauf beharrt hätten, sich an das klassische Medium Fernsehen zu klammern. Als neuer TV-Kanal wäre funk, das nach eigenen Angaben bei 66 % der 14- bis 29-Jährigen als Marke bekannt ist, gnadenlos gescheitert.
 

Mode, Lifestyle, Reisen

Offenbar hatten die Verantwortlichen auch keine unrealistischen Erwartungen, was die Resonanz angeht. Die Marktsegmentierung, der das Fernsehen mit immer neuen Anbietern seit Jahren unterworfen ist, findet laut Hallenberger „bei jungen Zuschauern noch mal radikaler statt. Die ohnehin kleiner werdenden Alterskohorten – es gab hierzulande noch nie so wenige Jugendliche wie heute – verteilen sich auf immer mehr Angebote. Zuschauerzahlen in mehrfacher Millionenhöhe wird es in Zukunft zumindest bei dieser Zielgruppe nur noch in wenigen Ausnahmefällen geben.“ Das sind dann in der Regel Sendungen, die auch beim Gesamtpublikum auf überdurchschnittliche Resonanz treffen, also beispielsweise das besagte WM-Finale. Gerade ProSieben hat angesichts dieser Entwicklung nach medienfremden Einnahmequellen gesucht (Mode, Lifestyle, Reisen); Hallenberger spricht in diesem Zusammenhang von einer „z.T. chaotisch anmutenden Diversifizierungsstrategie“, bei der sich erst später zeigen werde, was wirklich sinnvoll gewesen sei.

Sehr sinnvoll war dagegen vermutlich die Idee, gemeinsam mit dem US-Konzern Discovery eine Streamingplattform aufzubauen. Die ProSiebenSat.1-Gruppe reagiert damit auf die derzeit größte Bedrohung des klassischen Fernsehens: die Streamingdienste. Während Bezahlsender wie Premiere (heute Sky) wegen des reichhaltigen frei empfangbaren Fernsehens hierzulande viele Jahre brauchten, um sich halbwegs zu etablieren, ist dies Angeboten wie Netflix oder Amazon Prime Video gerade bei jungen Zuschauern in beeindruckend kurzer Zeit gelungen. So hat sich z.B. die Zahl der jugendlichen Netflix-Nutzer laut der vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (MPFS) erhobenen JIM-Studie 2018. Jugend, Information, Medien gegenüber dem Vorjahr fast verdoppelt; Netflix erreicht rund die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen. Amazon liegt bei 22 %. Das beliebteste Onlineangebot mit Bewegtbildern ist allerdings nach wie vor YouTube mit 63 %. ProSiebenSat.1 will auf diesen Trend mit einer Plattform antworten, an der sich möglichst viele Sender beteiligen sollen. Laut Digitalisierungsbericht Video nutzt ein knappes Drittel der Deutschen regelmäßig eine Mediathek, wobei die Angebote von ARD und ZDF (28,5 %) deutlich vor jenen der Privatsender (16,5 %) liegen.

Mit 30 % stehen die Video-on-Demand-Angebote (Video auf Abruf) von Netflix, Amazon oder YouTube allerdings noch besser da. Die beiden kostenpflichtigen Streamingdienste verdanken ihre Beliebtheit vor allem Serien. Sie haben entscheidenden Anteil daran, dass der vor Jahren durch den amerikanischen Bezahlkanal HBO und die Serie Game of Thrones ausgelöste Boom noch verstärkt worden ist, und trumpfen mittlerweile auch mit deutschen Serien auf: Netflix mit Dark und zuletzt Dogs of Berlin, Amazon mit You Are Wanted und Beat. Interessanterweise haben ARD und ZDF viel früher als die Privatsender auf diese Vorliebe für aufwendig produzierte Fortsetzungsserien reagiert und mit Babylon Berlin (ARD/Sky) oder Bad Banks (ZDF/ARTE) hohe Maßstäbe gesetzt; beide waren zum Sendestart komplett in den Mediatheken abrufbar. Allerdings ist die Resonanz auf Babylon Berlin bei der ARD-Ausstrahlung kontinuierlich gesunken: von gut 7,8 Mio. bei den ersten drei Episoden auf knapp 4,4 Mio. bei den Folgen 7 und 8. Diese Zahlen verdeutlichen, dass solche Serien mit einem Episodenbudget (2,5 Mio. Euro), das deutlich über einem Tatort liegt, nicht zur Regel werden können. Die Zusammenarbeit mit Sky belegt wiederum, dass die ARD bei der Suche nach Koproduktionspartnern keine Berührungsängste mehr hat; gut möglich, dass irgendwann eine Serie gemeinsam mit Netflix oder Amazon finanziert wird.
 

Traditionspflege

Auf der anderen Seite ist es durchaus bezeichnend, dass die beiden vielfach ausgezeichneten Produktionen – für die Beteiligten von Babylon Berlin gab es 14 Grimme-Preise und vier Deutsche Fernsehpreise – nicht von einem kommerziellen Sender in Auftrag gegeben worden sind. ProSieben z.B. hat sich viel zu lange auf den Erfolg amerikanischer Serien verlassen, die sich die Zielgruppe jetzt aber lieber bei Netflix anschaut. Für Hallenberger kommt diese Entwicklung nicht überraschend:

Seit die Privatsender etwas zu verlieren haben, also spätestens seit Ende der 90er, scheuen sie das Risiko. RTL hatte vor 30 Jahren ein mutiges Programm und tut heute genau das, was Kritiker gern der ARD vorwerfen: Der Sender verlässt sich seit Jahren auf seine Traditionsmarken.“

Tatsächlich gibt es Gute Zeiten, schlechte Zeiten schon seit 1992, Wer wird Millionär? seit 1999, Deutschland sucht den Superstar seit 2002. Es wäre daher absurd, findet Hallenberger, „ausgerechnet von den Privatsendern teures Hochglanzfernsehen zu erwarten.“ RTL konzentriere sich vielmehr darauf, bei langlebigen Erfolgsgaranten wie Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! (seit 2004), Bauer sucht Frau (seit 2005) oder Let’s Dance (seit 2006) – übrigens ausnahmslos aus dem Ausland importierte Formate – Feinjustierungen vorzunehmen.

Der Medienwissenschaftler wundert sich zudem, warum sich die Sender nicht stärker dafür interessieren, wie andere Branchen auf die Digitalisierung reagiert haben. Abschreckendstes Beispiel sei die Musikindustrie, die in dieser Hinsicht „komplett versagt“ habe: „Sie hat auf das Geschäft mit Tonträgern beharrt und tatenlos zugesehen, wie die Musiktauschbörse Napster erhebliche Teile des digitalen Marktes besetzt hat.“ Die Buchverlage seien da viel cleverer gewesen, indem sie das physische Buch und das E-Book schon sehr früh nicht als Konkurrenz, sondern als komplementäre Produkte betrachtet hätten. Die Hoffnung, der Status quo werde schon noch eine Weile halten, weil selbst Menschen unter 30 derzeit rund 100 Minuten pro Tag ganz traditionell das lineare Fernsehen nutzen, könnte sich jedenfalls als trügerisch erweisen. ARD und ZDF haben den Privatsendern immerhin eine schlechte Erfahrung voraus. Als SAT.1 und RTL plus 1984 starteten, wurden die beiden so lange von der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz belächelt, bis es zu spät war: RTL wurde 1992 erstmals Marktführer bei den Zuschauern zwischen 14 und 49 Jahren und hat diese Position bis heute nicht mehr abgegeben.