Angst essen Seele auf*

Wie Stimmungen gesellschaftliches Leben beeinflussen

Simone Neteler

Simone Neteler studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Germanistik und Psychologie. Sie lebt als Autorin und Lektorin in Berlin.

In unserer modernen Welt scheint nichts mehr unmöglich. Alles ist immer in Bewegung, und zwar mit rasanter Geschwindigkeit. Das schafft scheinbar für jeden von uns grenzenlose Freiheit, doch mit dem Wahrwerden dieses Ideals geht das Gefühl von Sicherheit verloren. Ungewissheit hat sich breitgemacht; sie durchzieht alle gesellschaftlichen Schichten, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westlichen Nationen. Das ist das Klima, in dem Ängste wachsen – und die schlagen buchstäblich auf die Stimmung.

Printausgabe tv diskurs: 21. Jg., 3/2017 (Ausgabe 81), S. 28-33

Vollständiger Beitrag als:

Schon seit Jahrzehnten ermittelt das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) alle zwölf Monate die Stimmung der deutschen Bevölkerung. Zur Repräsentativumfrage, die im Auftrag der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ regelmäßig zum Jahreswechsel erhoben wird, gehört u. a. die Frage: „Sehen Sie dem kommenden Jahr mit Hoffnungen oder Befürchtungen entgegen?“ 2016/2017 hat der Anteil derjenigen, die dem kommenden Jahr hoffnungsvoll entgegensehen, mit 46% im Vergleich zur Jahreswende 2015/2016 wieder leicht zugenommen. Im Langzeitvergleich liege der aktuelle Wert im Mittelfeld der Ergebnisse, so die Kommentatoren der Studie. Ihr Resümee fällt für 2016/2017 entsprechend auch eher gelassen aus: „Ja, die Deutschen sind wegen mancher Entwicklungen im Land beunruhigt. Viele empfinden die Welt als unübersichtlich und riskant. Doch aus den Fugen geraten ist sie für die meisten deswegen noch nicht.“ (Petersen 2017)


Nichts ist in Zukunft garantiert sicher

Diese abgeklärte Sicht der Demoskopen stimmt einerseits versöhnlich. Doch andererseits: Warum sind die Deutschen „beunruhigt“, weshalb nehmen sie die Welt als „unübersichtlich“ und „riskant“ wahr? Um darauf Antworten zu finden, genügt vielleicht schon ein kurzer Blick in unseren Alltag. In der Welt der Moderne scheint alles im Wandel, nichts mehr von Dauer. Das gilt im Kleinen wie im Großen, im Privatleben genauso wie in der internationalen Politik: Eine solide Ausbildung garantierte noch vor gar nicht langer Zeit eine sichere Existenz bis ins Rentenalter. Heutzutage ist das Berufsleben nicht selten von Jobs und Zeitverträgen bestimmt, und ob die Renten sicher sind, wagt aktuell kaum noch jemand glaubhaft zu prognostizieren. Privat sind es nicht mehr von vorneherein die Ehe-, sondern vielleicht eher Lebensabschnittspartner, die nach der Liebe nicht mehr und nicht weniger als ein freundschaftliches Happy End verbindet, bevor die Reise weitergeht zu neuen Beziehungsufern. Und wer hätte gedacht, dass einmal Zeiten anbrechen könnten, in denen die westlichen Demokratien sich der Partnerschaft mit den USA nicht mehr sicher sein können! Oder Wahlen in demokratischen Staaten durch Hackerangriffe anderer Nationen möglicherweise manipuliert wurden.

Auch wenn es manchmal immer noch schwerfällt, es zu glauben: Wir müssen akzeptieren, dass es nichts mehr gibt, was unmöglich scheint in unserer Welt – nichts, was in Zukunft garantiert sicher ist. So oder ähnlich lässt sie sich grob umreißen, die durchaus verstörende Situation, in der sich unsere Gesellschaft befindet. Der Soziologe Heinz Bude beschreibt sie als eine „Gesellschaft der Angst“ (Bude 2014), in der genau dieses mächtige Gefühl regiert, das „in allen gesellschaftlichen Bereichen [wirkt], Politik und Wirtschaft [bestimmt], aber auch das Privatleben jedes Einzelnen. Das Gefühl kennt keine sozialen Grenzen; es eint Menschen, die sonst nicht viel gemein haben. […] Die Angst rieselt in die Poren der Gesellschaft.“ (Bude in: Weiss/Witte 2016)

Aber wovor hat der Mensch in der modernen Gesellschaft Angst? Auch hier geben Studien wie die bereits oben zitierte Auskunft: vor terroristischen Anschlägen, vor politischem Extremismus, zunehmender Gewalt und Kriminalität, vor steigenden Flüchtlingszahlen, vor der EU-Schuldenkrise, vor dem Klimawandel, vor überforderten Politikern, vor Altersarmut, vor Pflegebedürftigkeit im Alter – oder auch ganz allgemein davor, nicht zu wissen, wie es weitergeht (vgl. u.a. Petersen 2017; R+V Versicherung 2016; Stiftung für Zukunftsfragen 2016).


Der Ursprung aller Angst ist die vor dem Tod

Historisch betrachtet näherten sich medizinische Vertreter dem Phänomen „Angst“ in der Regel von seiner pathologischen Seite her. Mittlerweile hat die moderne neurobiologische Forschung zwar wichtige Erkenntnisse darüber gebracht, wo und wie Angst im Gehirn entsteht, zur „Erhellung des Wesens der Angst als elementare Erfahrung des Menschen und des Menschseins hat sie nichts beigetragen. Die moderne Wissenschaft behandelt […] die Angst – wie auch alle anderen psychischen Phänomene – als Tatsachen, die sich operationalisieren und ‚objektiv‘ analysieren lassen.“ (Fabian 2013, S. 17)

Entgegen einer solchen rationalen Annäherung betrachten Dichter und Philosophen das Phänomen der Angst eher als unweigerlich mit dem Menschsein verbunden. Der dänische Philosoph und Schriftsteller Søren Kierkegaard (1813 – 1855) beschrieb die Angst so:

Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welchem Land man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt das: die Welt? Was bedeutet dieses Wort? Wer hat mich durch seine Tricks in die ganze Sache hereingezogen und läßt mich nun damit allein? Wer bin ich? Wie bin ich in die Welt hineingekommen; warum wurde ich nicht gefragt, warum nicht mit Sitten und Gebräuchen bekanntgemacht […]?“ (Kierkegaard 2000, S. 69)

Unser Dasein gibt keine Antworten auf die großen Fragen des Menschseins: Woher komme ich? Wer bin ich? Warum bin ich? Wo liegt der Sinn meiner Existenz? Was ist der Tod? Die „Conditio humana“, also die Bedingungen des menschlichen Seins, die sich in diesen Fragen spiegelt, ist vom Faktor Zeit unweigerlich geprägt: Jedes Leben ist endlich, es ist die Basis aller Existenz, dass deren Zeit begrenzt ist. Sich all dessen bewusst sein – und es doch nicht greifen können: Dieser Zustand kann Angst machen.

Ängste schlummern in jedem von uns. Und der Ursprung aller Angst ist die vor dem Tod. Oder wie es der französische Kulturhistoriker Jean Delumeau formulierte: „Angst ist ein ständiger Begleiter der Menschheit. Jede Angst ist letztlich Todesangst.“ (Delumeau in: Hénard 2001) Diese Urangst ist existenziell. Wir unterscheiden uns nicht darin, ob wir Angst haben oder nicht, sondern vielmehr darin, wie wir mit unserer Angst umgehen.

Um den Unterschied zwischen der Angst z.B. vor Spinnen und dieser nicht wirklich fassbaren existenziellen Angst deutlich zu machen, unterscheidet Kierkegaard die „Angst“ von der „Furcht“, eine Differenzierung, die mittlerweile nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Psychologie als Grundannäherung gilt: Die Angst kommt als gegenstandsloses, diffuses und ungerichtetes Gefühl quasi von innen und impliziert statt konkreter Handlungen wie Flucht oder Angriff eher eine dauernde Wachsamkeit (Vigilanz). Die Furcht hingegen ist ein auf ein bestimmtes Objekt oder eine konkrete Situation bezogenes Gefühl, das damit von außen bedient wird. Es ist die Furcht, die uns vor Schlangen oder Spinnen weglaufen lässt. Und es ist die Angst, die uns in einem dunklen Wald überkommt, weil eine undefinierbar empfundene Gefahr uns in tiefe Unruhe versetzt.

Wir unterscheiden uns nicht darin, ob wir Angst haben oder nicht, sondern vielmehr darin, wie wir mit unserer Angst umgehen.“

Angst hat den Menschen durch alle Jahrhunderte begleitet. Verändert haben sich nur die Auslöser für dieses undurchschaubare und nicht begreifbare Gefühl. In den verschiedenen Ängsten spiegelte sich immer auch das weltliche und geistige Geschehen der jeweiligen Zeit, Angst wurde von Religionen heraufbeschworen und instrumentalisiert, von Philosophen betrachtet und von Medizinern und Psychologen untersucht und behandelt.


Die Angst in der Philosophie

Über viele Epochen hinweg haben sich Menschen gefragt, was Angst ist und woher sie kommt. Die Ansätze sind zahlreich, deshalb sollen hier nur ausgewählte Beispiele vorgestellt werden. Die Wurzeln lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Der griechische Arzt Hippokrates z.B. erklärte im 4. Jahrhundert v.Chr. das Phänomen „Angst“ mit einem plötzlichen Ausfluss von Galle in das Gehirn. Griechische Philosophen wie Platon oder auch Aristoteles sahen den Menschen in einem sinnhaften Kosmos, hier war kein Platz für eine undefinierbare Daseinsangst. Angst vor dem Tod galt als unsinnig. So schreibt Platon in der Apologie des Sokrates:

Denn den Tod fürchten, […] das ist nichts anderes, als sich dünken, man wäre weise, und es doch nicht sein. Denn es ist ein Dünkel, etwas zu wissen, was man nicht weiß. Denn niemand weiß, was der Tod ist, nicht einmal, ob er nicht für den Menschen das größte ist unter allen Gütern.“

Entsprechend verortete Platon die Angst im Menschen da, wo auch Begierden und andere triebhafte Leidenschaften ihn dauernd in Versuchung führen. Die Heilung von Angst sei nur durch eine von Selbstbeherrschung und Selbsterkenntnis geprägte Lebensweise zu erreichen.

Erst im frühen Christentum bekam das Thema „Angst“ eine ernst zu nehmende Dimension, die Angst wurde quasi Basis für den christlichen Glauben. Die Welt als feindlicher, dunkler und gottverlassener Ort ließ nur ein angstvolles Leben zu, Erlösung versprach erst der Tod. So heißt es beispielhaft im Johannesevangelium (Joh 16,33): „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Auch wenn sich der christliche Blick auf die Welt über die Jahrhunderte hinweg verändern sollte (vgl. z.B. Thomas von Aquin), so blieb die Angst als unveränderliche Größe doch immer präsent: Es galt, im Diesseits Gutes zu tun und gottesfürchtig zu leben, weil sonst im Jenseits Fegefeuer, Höllenqual und ewige Verdammnis auf die vermeintlichen Sünder warteten.

Besonders im Mittelalter, wo Krankheiten wie die Pest, Hunger, mangelnde Hygiene und Krieg das Leben düster bestimmten, kompensierten die Menschen die fehlende Zukunftssicherheit vor allem mit Religiosität. Im Glauben fanden die von Krankheit und Not Geplagten Trost und das Gefühl von Geborgenheit und Schutz. Doch gleichzeitig lebten sie in der Angst, nach dem Tod für ihr Tun zur Rechenschaft gezogen zu werden. Glaube und Aberglaube hatten im Mittelalter Hochkonjunktur. Kreuzzüge, Hexenverbrennungen und die rücksichtslose Verfolgung von Andersgläubigen sind brutale Beispiele für die Rolle einer instrumentalisierten Angst in dieser Zeit.1

Unter solchen Vorzeichen mutet es geradezu revolutionär an, was der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632 – 1677) zu Beginn der frühen Neuzeit formulierte: „Der freie Mensch denkt über nichts weniger als über den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachdenken über den Tod, sondern über das Leben.“ (Spinoza 2014, S. 216, 67. Lehrsatz) Spinoza wandte sich gegen die Todesangst, er entwickelte „aus der Philosophie eine Lebenskunst (ars vivendi)“ (Wolf 2011, S. 81 [H.i.O.]), in der es nach dem Vernunftsprinzip dank kritischer Aufklärung keinen Platz mehr gab für Zukunftsängste.

Wäre der Mensch ein Tier oder ein Engel, so würde er nicht in Angst kommen. Nun aber ist er eine Synthese, und insofern kann er sich ängsten, und je tiefer er sich ängstet, desto größer ist der Mensch.“

Das schrieb der schon zitierte Philosoph Søren Kierkegaard in seinem 1844 in Kopenhagen erschienenen Buch Der Begriff Angst (Kierkegaard 2016, S. 161). Die Angst mache den Menschen nur größer, wenn er sie zulasse, denn: „Die Angst ist die Möglichkeit der Freiheit.“ (Ebd., S. 162) Freiheit wird hier zur alles entscheidenden Grunddimension, eine Art Basisstruktur der menschlichen Existenz. Gemeint ist nicht, die Wahl zu haben zwischen zwei oder mehr Dingen, sondern Kierkegaard dachte an dieser Stelle viel grundsätzlicher. Ihm ging es um das Bewusstsein davon, überhaupt wählen zu können, oder wie er es ausdrückt: „die ängstende Möglichkeit zu können.“ (Ebd., S. 47 [H.i.O.]) Wer aber gelernt habe, die Angst zu erkennen und mit ihr umzugehen, „der hat das Höchste gelernt.“ (Ebd., S. 161) Denn hier liegt nach Kierkegaard die Basis für den Glauben – und damit für Erlösung.2

Das Besondere an Kierkegaards Ansatz ist vor allem die Erkenntnis, dass der Mensch sein Leben selbst führen muss, also nichts und niemand da ist, um ihm die Verantwortung abzunehmen. Existenzphilosophen wie Jean-Paul Sartre, Karl Jaspers und auch Martin Heidegger haben lange nach Søren Kierkegaard auf dessen Gedanken aufgebaut und die Angst als eine der wesentlichsten, wenn nicht als die wesentliche Grunderfahrung des Menschen in den Mittelpunkt ihre Philosophien gerückt.

Die überwältigende Fülle an Möglichkeiten


Die überwältigende Fülle an Möglichkeiten

Es ist der schon jahrhundertealte Gedanke Kierkegaards, dass nichts so sehr ängstigt wie die Freiheit der eigenen Entscheidung, mit dem die Menschen heute mehr als vielleicht jemals zuvor belastet sind. So sieht es jedenfalls der bereits erwähnte Soziologe Heinz Bude: „Die Angst, eine falsche Wahl zu treffen, ist größer als die Freude an der Vielfalt der Möglichkeiten.“ (Bude in: Weiss/Witte 2016) Das, was eigentlich eine Chance und Bereicherung für jeden sein sollte, entwickelt sich mehr und mehr zum Fluch. Einerseits, weil die „Vielfalt an Möglichkeiten“ eine Individualisierung befördern hilft, die es immer schwieriger macht, das gesellschaftliche Kollektiv geeint zusammenzuhalten. Andererseits ist die Fülle an Möglichkeiten in jeder Hinsicht so überwältigend, dass das einzelne Individuum sich häufig schwertut, eine Entscheidung zu treffen (denn wer vermag auszuschließen, dass es irgendwo noch eine bessere Alternative gibt als die, die man bereits ins Auge gefasst hat?!). – Und was ist morgen?

Auf die Unsicherheit folgen die Ängste, die erst auf die Stimmung jedes Einzelnen wirken und dann auch auf das gesellschaftliche Miteinander Einfluss nehmen. So lässt sich – wenn auch etwas vereinfacht – der Blick des Soziologen Bude beschreiben.

Im Vergleich zu der Generation, die den Zweiten Weltkrieg mit Bombennächten, gefallenen Verwandten und Freunden, Hunger, Flucht, Vertreibung und Todesangst als biografieprägend erlebte, geht es den Menschen in den westlichen Gesellschaften heute gut. Doch es ist genau dieser Vergleich, der auch einen Unterschied in der gesellschaftlichen Stimmung zwischen damals und heute erklären hilft: Während die Großeltern nach dem Kriegsende mit dem Gefühl in die Zukunft blicken konnten, das Schlimmste überlebt und überwunden zu haben und sich als Generation optimistisch ganz dem Wiederaufbau und dem Neuen verschrieben, lebt die Generation der Enkel trotz oder gerade wegen des schon lange anhaltenden Wohlstands und Friedens in dem Gefühl, das Ärgste möglicherweise noch vor sich zu haben.

Das moderne Leben ist von rasantem Wandel, von Dynamik, Beschleunigung, von Globalisierung, Liberalisierung und Digitalisierung geprägt. Jede Veränderung bedeutet nicht nur etwas Neues, sondern auch den Verlust von Vertrautem und Gewachsenem. Im Neuen lauert überall unüberschaubares, unwägbares Terrain. Auch das macht unsicher, und die daraus entstehenden Ängste befördern ein Gefühl von Überforderung, das sich wiederum negativ auf die Stimmung auswirkt.

Dass es im Deutschen, anders als im Französischen oder Englischen, mit dem Begriff „Stimmung“ nur ein Wort für zwei durchaus verschiedene Komponenten gibt – so benennen wir mit „Stimmung“ sowohl die persönliche Gefühlslage als auch das gesellschaftliche Klima –, zeugt schon sprachlich von der besonderen Beziehung zwischen diesen beiden Bereichen. Nicht jede subjektive Stimmung des Einzelnen wirkt sich dabei auf die gesellschaftliche Stimmung aus. Aber zieht sich eine bestimmte Stimmung durch größere Teile der Bevölkerung, kann dies ohne Frage Einfluss auf die Stimmung in der Gesellschaft nehmen – und auch umgekehrt kann die vorherrschende gesellschaftliche Stimmung die subjektive Wahrnehmung beeinflussen.

Auf diese Weise werden Wahlen gewonnen oder verloren, Meinungen gemacht oder verschwiegen. Damit umzugehen, gehört grundsätzlich zum demokratischen Entscheidungsprozess. Problematisch aber kann es werden, wenn die entscheidenden Tonangeber nicht mehr Klarheit und Information, sondern Angst und Desinformation heißen – und damit genau solche Faktoren, deren Möglichkeiten der Einflussnahme durch das postfaktische Zeitalter begünstigt werden. Dann „büßt [die Gemeinschaft] an Zusammenhalt ein, verliert den Konsens – das stabile Fundament, auf das sich bisher die meisten einigen konnten.“ (Ebd.)


Angst ist ein schlechter Ratgeber

Angesichts der nicht selten als fragil empfundenen Existenz scheint die Suche nach Halt und nach Werten, die nicht flüchtig sind, umso verständlicher. Einen solchen Halt finden die Menschen heutzutage nicht mehr unbedingt in der Religion, wie noch Generationen vor ihnen. Der moderne Mensch sucht Hilfe beim Therapeuten, in der Spiritualität – oder findet in politischen Bewegungen und in den sozialen Medien ein Forum von Gleichgesinnten.

Es waren in der Geschichte immer auch die als unsicher empfundenen Zeiten, die Demagogen, Populisten und selbst ernannte Heilsbringer nutzten, um Einfluss und Macht zu gewinnen. Auch heute ist zu beobachten, wie das Gefühl von Ungewissheit und Desorientierung, die Angst vor Fremdem und dem, was kommen könnte, von bestimmten Lagern agitatorisch genutzt wird, um mit Feindbildern, griffigen Parolen und Schwarz-Weiß-Zeichnungen von vermeintlicher Wahrheit Einfluss auf die Stimmung des Einzelnen und in einem zweiten Schritt auf die der Gesellschaft zu nehmen. Ob argumentativ clever oder leicht zu durchschauen, ob souverän vorgetragen oder eher als verbitterte Stammtischparole herausgeschrien – die Palette der angeführten Argumente bleibt überschaubar, richten sie sich doch immer gegen etwas: gegen die Flüchtlinge, gegen die „Lügenpresse“, gegen das Establishment …

Wen als Einzelnen die Sorge umtreibt, keinen sicheren Platz mehr für sich zu finden und keine sichere Zukunft vor sich zu haben, der wird leichter Opfer solcher Agitation und vereint sich in Hass und Misstrauen mit Gleichgesinnten. Im gemeinsamen Kampf gegen etwas wird schnell vergessen, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist, wie es ein altes Sprichwort besagt. Entsprechend können solche Bewegungen ihre Wortführer, wenn nicht zum Sieg, so doch auf eine Erfolgswelle heben.

Dass der Transfer einer individuellen in eine kollektive Stimmung gelingt, dazu tragen die Medien einen nicht unerheblichen Teil bei. Das war schon immer so, denn die verschiedenen Medien vermitteln seit jeher nicht nur die knallharten Fakten, sondern liefern auch eine Deutung und die Bedeutung einer Nachricht mit. Den Stimmungsräumen, die auf diese Weise entstehen, lässt sich als Rezipient nur schwer entkommen. Mit dem Internet und den sozialen Medien hat sich diese Dynamik noch einmal verschärft, zumal dort nicht mehr nur Redakteure für die Nachrichten- und Meinungsvermittlung zuständig sind, sondern die Foren von Social Media mit ihrer suggerierten Anonymität die Masse von Usern dazu einladen, ihre eigene Meinung kundzutun. Das tun sie am liebsten unter Gleichgesinnten, da sie dort mit einer zustimmenden Bestätigung rechnen können.

Doch was tun gegen die Angst, die die Kraft hat, die Gesellschaft zu zersetzen? Distanz schaffen, rät Heinz Bude. Aber wie? Der Soziologe empfiehlt: über die Angst lachen. „Der Lachende kann über die Angst siegen, denn das Lachen ist genauso unwillkürlich wie Angst. […] Solange in einer Gesellschaft noch viel gelacht wird, kann die Angst sie nicht zerstören.“ (Ebd.) Vielleicht sollten wir es einfach mit den tapferen Galliern halten. Die nahmen zur Stärkung einen Zaubertrank und sagten von sich selbst: „Wir sind mutig! Wir haben nur davor Angst, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt … Wir machen gern Späße! Wir essen und trinken gern … Wir sind knurrig … Wir sind undiszipliniert und streitsüchtig … Aber wir lieben unsere Freunde!“ (Goscinny/Uderzo 1977, S. 26)3

 
Anmerkungen:

* Der Titel des Beitrags geht zurück auf den gleichnamigen Spielfilm von Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahr 1974.

1) Erst das 2. Vatikanische Konzil 1962 bis 1965 sollte die lange geschürte Angst vor dem Jüngsten Gericht beenden (vgl. Delumeau in: Hénard 2001).

2) Die Theologin Dorothee Sölle (1983) hat sich in einem Essay begeistert zu Kierkegaards Ansatz bekannt: „Gottes bedürfen, ist des Menschen größte Vollkommenheit; das ist ein klassischer theologischer Satz. Was Kierkegaard herausgearbeitet hat, ist die Angst, die im Wort ‚bedürfen' steckt. Ohne Angsterfahrung und Angstannahme keine Menschwerdung.“

3) Dass die Kelten Angst davor hatten, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt, ist, folgt man wissenschaftlichen Untersuchungen, tatsächlich aus einem Gespräch überliefert, das keltische Vertreter mit Alexander dem Großen führten (vgl.: Willmann 2001).

 

Literatur:

Bude, H.: Gesellschaft der Angst. Hamburg 2014

Fabian, E.: Die Angst. Geschichte, Psychodynamik, Therapie. Münster 2013

Goscinny, R./Uderzo, A.: Asterix 22: Die große Überfahrt. Berlin 1977

Hénard, J.: Das Abendland hat eine Höllenangst. Der französische Kulturhistoriker Jean Delumeau über die kollektiven Gefühlsqualen des Westens angesichts des Terrors. In: Die Zeit, 44/2001, 25.10.2001, S. 42–43. Abrufbar unter: http://www.zeit.de (letzter Zugriff: 19.07.2017

Kierkegaard, S.: Die Wiederholung. Hamburg 200

Kierkegaard, S.: Der Begriff Angst. Wiesbaden 2016

Petersen, T. (Institut für Demoskopie Allensbach): Aus den Fugen? Deutsche Fragen – Deutsche Antworten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22/2017, 26.01.2017, S. 8. Abrufbar unter: http://www.ifd-allensbach.de  (letzter Zugriff: 19.07.2017)

Platon: Apologie des Sokrates. IV. Die Lebensführung des Sokrates, 8. Ihre Notwendigkeit. Abrufbar unter: http://gutenberg.spiegel.de (letzter Zugriff: 19.07.2017 )

R+V Versicherung (Hrsg.): Die Ängste der Deutschen 2016. 25. R+V-Studie. Wiesbaden 2016. Abrufbar unter: https://www.ruv.de/presse (letzter Zugriff: 19.07.2017)

Sölle, D.: Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. In: Die Zeit, 6/1983. Abrufbar unter: http://www.zeit.de (letzter Zugriff: 19.07.2017)

Spinoza, B. de: Ethik. Berliner Ausgabe 20142, S. 216. Abrufbar unter: http://www.zeno.org  (letzter Zugriff: 19.07.2017)

Stiftung für Zukunftsfragen: Deutschland zwischen Angst und Zuversicht. Repräsentativumfrage der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen. In: Forschung aktuell, Ausgabe 271, 26.12.2016. Abrufbar unter: http://www.stiftungfuerzukunftsfragen.de (letzter Zugriff: 19.07.2017)

Weiss, B./Witte, S.: Angst. Die Sehnsucht nach Sicherheit. Interview mit Heinz Bude. In: Geo Wissen, Nr. 57, 05/2016: Ängste überwinden, innere Stärke gewinnen, S. 24–29

Willmann, U.: Asterix bei den Historikern. In: Die Zeit, 40/2001. Abrufbar unter: http://www.zeit.de (letzter Zugriff: 19.07.2017)

Wolf, J.-C.: Spinoza und seine Vorstellung des freien Menschen. In: Aerni, P./Grün, K.-J. (Hrsg.): Moral und Angst. Erkenntnisse aus Moralpsychologie und politischer Theologie. Göttingen 2011, S. 79–92