An den Bedürfnissen des Nutzers orientieren

Der Kampf der Mediensysteme um die Aufmerksamkeit des Zuschauers

Joachim von Gottberg im Gespräch mit Egbert van Wyngaarden

Als das Internet seinen Siegeszug begann, hat man bald prognostiziert, dass Video-on-Demand-Plattformen dem DVD-Markt das Wasser abgraben würden. Angesichts der zunächst geringen übertragbaren Datenrate ließen solche Angebote zunächst auf sich warten. Aber dann ging alles sehr schnell. Streamingdienste bieten nunmehr Serien, Spielfilme und nahezu alle anderen Programmarten für einen überschaubaren Preis an, YouTube verbreitet eine große Anzahl von Angeboten sogar kostenlos. Schauen, was und wann immer man will: Das kann das lineare Fernsehen höchstens über seine Mediathek anbieten. Viele haben die Geschwindigkeit dieses Wandels und die Folgen für das lineare Fernsehen unterschätzt. Zum Konkurrenzdruck im Kampf um Aufmerksamkeit und Akzeptanz des Nutzers befragte tv diskurs Egbert van Wyngaarden, Professor für Drehbuch und Kreatives Schreiben im Studiengang „Film und Fernsehen“ an der Hochschule Macromedia in München.

Printausgabe tv diskurs: 23. Jg., 2/2019 (Ausgabe 88), S. 29-32

Vollständiger Beitrag als:

Wenn man heute junge Menschen fragt, ob sie gelegentlich lineares Fernsehen schauen, so ist das, zumindest nach meiner Erfahrung, allerhöchstens bei 5 bis 10 % der Fall. Hat das klassische Fernsehen ausgedient?

Klassisch lineares Fernsehen wird noch erstaunlich viel geschaut. Es entwickelt sich aber immer mehr zu einem Nebenbei-Medium wie das Radio. TV wird es geben, solange Menschen, die damit aufgewachsen sind, es schauen. Das bedeutet: Mit dem Jahrgang 1970 stirbt es aus. Technologisch sind wir schon längst in der Lage, Nachrichten- und Unterhaltungsmedien genau auf die Bedürfnisse individueller Bürger zuzuschneiden. One-Size-Fits-All-Medien, welche die gleichen Inhalte für alle bieten, sind ein Auslaufmodell.

Diejenigen, die das Fernsehen nach wie vor nutzen, geben dafür zwei Gründe an: Zum einen muss man sich nicht selbst für einen Inhalt entscheiden, zappt einfach durch die Programme und kommt so oft auf neue Ideen. Als weiterer Vorteil wird genannt, dass man dadurch mal aus den algorithmenbasierten Filterblasen der Streamingdienste herauskommt. Würde es helfen, wenn das Fernsehen stärker auf seine tatsächlichen Produktvorteile setzte?

Das Reizvolle am TV ist seine absolute Bequemlichkeit. Ich schalte ein, und da singt und tanzt man für mich und liest mir die Nachrichten vor. Was will ich mehr?! Die Fernbedienung verleiht dem Zuschauererlebnis einen Hauch von Interaktivität: Gefällt mir das Angebot in diesem Kanal nicht, schalte ich zum nächsten. Ich muss aber nichts suchen oder entscheiden und kann entspannt auf dem Sofa sitzen bleiben. Und wenn ich Glück habe, stolpere ich dabei über interessante Dinge, die mich auf neue Ideen bringen. Die Diskussion über Filterblasen, in die wir von Algorithmen hineingedrängt werden, hat sich meiner Meinung nach erledigt. Erstens ist es schlichtweg Fakt, dass wir heute einer deutlich größeren Vielfalt an Einflüssen und Medieninhalten ausgesetzt sind als im 20. Jahrhundert. Klar kann man sich abschotten, aber das ging auch früher schon. Zweitens ist es ein Kinderspiel, Algorithmen diverser zu gestalten, sodass sie nicht immer nur noch mehr vom Gleichen empfehlen. Die Tech-Firmen und Streaminganbieter haben das verstanden.

In der Anfangsphase des privaten Fernsehens hatten zwar viele Kulturpessimisten den Eindruck, das neue Medium sei ein Angriff auf die Werte des Abendlandes, gleichzeitig aber gab es auch eine Explosion von Ideen und neuen Formaten. Die lange Tradition des verhältnismäßig braven öffentlich-rechtlichen Fernsehens bekam einen neuen Schub. Befinden wir uns heute in einem ähnlichen Umbruch?

Dem stimme ich zu. Und es ist heute wieder der Fall: Die qualitativ hochwertigen und oft äußerst innovativen Filme und Serien der Streamingplattformen zwingen die herkömmlichen Player dazu, ihre eigene Messlatte höher zu legen. Konkurrenz belebt das Geschäft! Ich weiß nicht, ob es Netflix in fünf Jahren noch gibt, aber auf jeden Fall treibt die Firma momentan alle vor sich her, weil sie sich im Content-Bereich etwas traut und ihre Kunden ernst nimmt.

Weil der Druck, Programme schnell zu refinanzieren, heute immer größer wird, ist die Bereitschaft für Experimente und Risiken kaum noch vorhanden. Gute Zeiten, schlechte Zeiten von RTL lief ziemlich lange ziemlich schlecht, trotzdem hat der Sender durchgehalten – und es hat sich gelohnt. Wäre so etwas heute noch denkbar, bei öffentlich-rechtlichen oder privaten Sendern?

Ich kann nicht für die Senderverantwortlichen sprechen. Aber so viel: Es gibt eine Flut von neuen Inhalten auf vielen verschiedenen Plattformen. Das macht es äußerst schwierig, Sehgewohnheiten im Publikum zu etablieren. Zugleich merken wir aber auch, dass man den Leuten heute viel mehr zumuten kann als noch vor 10 bis 20 Jahren. Komplexe, horizontal erzählte Serien, interaktive Filme – alles kein Problem. Wenn wir von den öffentlich-rechtlichen Sendern neben Qualität, Meinungsvielfalt und journalistischer Unabhängigkeit etwas erwarten dürfen, ist es Experimentierfreude und Durchhaltevermögen. Das ist bedingt durch den gebührenfinanzierten Schutzraum, in dem sie operieren. In puncto Innovation sollten die Bürger mit einer hohen Erwartungshaltung auf ARD und ZDF blicken können. Die Privaten sind auf eine ganz andere Art von Aufmerksamkeit angewiesen. Hier geht es um Massentauglichkeit im Sinne der werbetreibenden Kunden. Da braucht es große Events, Must-See-Erlebnisse in Echtzeit. Aus Wettbewerbsperspektive können Experimente und Neuerungen auch hier wichtig sein – sie werden sich aber schnell rechnen müssen.

Im Netz gibt es eine inflationäre Fülle attraktiver Unterhaltung, angefangen von den Mediatheken über die Streamingdienste bis hin zu YouTube. Wo liegt der Produktvorteil des Fernsehens, mit dem es gegen die Flexibilität und Attraktivität des Internets punkten kann?

Außer in seiner Bequemlichkeit als Lean-Back-Medium? Das würde ich gerne wissen. Von Douglas Adams, der Per Anhalter durch die Galaxis geschrieben hat, stammt der Satz: „Und die Leute haben einfach nur dagesessen und konnten gar nichts machen?“ So werden wir in wenigen Jahren aufs Fernsehen zurückschauen. Die Jungen bezeichnen TV kurzerhand als kaputtes YouTube. Ich wollte zur Verteidigung des Fernsehens noch sagen: Nutzerorientierung und hochwertig produzierte Inhalte. Aber das sind keine Produktvorteile, die der Fernsehbranche vorbehalten sind. Das können andere auch und manchmal deutlich besser.

Streamingdienste feiern vor allem Erfolge mit Serien. Bei den Privaten ist der Anteil von fiktionalem Programm gegenüber Realityshows oder Scripted Reality immer mehr zurückgegangen. Warum schaffen die Sender nicht, was bei Netflix offenbar klappt?

Mein Eindruck ist, die Sender haben verstanden. Sie geben sich gerade große Mühe, intelligente Stoffe zu entwickeln und neue Themengebiete zu erschließen. Die Frage ist: Investieren sie genug in die Stoffentwicklung? Wissen sie, wer ihre Endkunden, die Zuschauer, sind? Auch müssen Prozesse optimiert werden: inhaltlich, um den Machern mehr kreative Kontrolle über die Programmangebote zu geben. Geschäftsmäßig, um neue Koproduktionsmodelle zu etablieren, damit man die nötigen Budgets zusammenbekommt. Es ist alles auch eine Frage der strategischen Ausrichtung. Geht es um Gewinn, Reputation oder gesellschaftlichen Einfluss? Je nachdem handhabt man die Stoffentwicklung sehr unterschiedlich.

Nach langem Hängen und Würgen und vielen Diskussionen in der Rundfunkpolitik haben die öffentlich-rechtlichen Sender mit funk ihr Angebot an Jugendliche nun auf den Weg gebracht. Die Inhalte sind bei Jugendlichen, gemessen an der relativ kurzen Zeit des Bestehens, einigermaßen bekannt und kommen ganz gut an, allerdings werden sie nicht als Produkte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wahrgenommen. Darüber freut sich vor allem YouTube, weil die Plattform dadurch Werbeeinnahmen generieren kann.

funk wird nach meiner Einschätzung durchaus als Marke wahrgenommen. Es ist funk gelungen, die verkrampfte und gestrige Fixierung auf die linearen Ausspielwege Radio und Fernsehen zu lösen. Es geht um Inhalte, nicht um die Plattformen. Wenn YouTube und andere soziale Medien an öffentlich-rechtlichen Inhalten „unberechtigterweise“ verdienen, warum nicht wie in Frankreich über eine Abgabe nachdenken? Wir haben es geschafft, neben dem damals aufkommenden Medium Fernsehen eine lebendige Kinokultur zu erhalten. Warum sollte es uns nicht gelingen, die Konkurrenz der global agierenden Tech- und Medienunternehmen so zu regulieren, dass wir nach wie vor über ein starkes eigenes Mediensystem verfügen können?

Durch die Explosion von Unterhaltungsangeboten im Fernsehen und im Netz wird es immer mehr zu einer Mammutaufgabe, die Aufmerksamkeit und das Interesse des Publikums zu erreichen. Was, glauben Sie, sind die Formate der Zukunft? Vor allem beim ZDF sieht man überwiegend Krimis …

Ja, die Aufmerksamkeit des Publikums ist zu einem raren Gut geworden. Der Schlüssel zum Erfolg liegt meiner Meinung nach darin, sich ernsthaft, systematisch und kontinuierlich mit den Lebensrealitäten und Bedürfnissen der Bürger auseinanderzusetzen. Dazu müssen Redaktionen viel diverser aufgestellt sein, als es heute der Fall ist. Es bräuchte mehr Freiräume für Experimente, damit neue Ideen schneller entwickelt und am Markt getestet werden können. In Skandinavien wird immer öfter Programm für sehr spitze Zielgruppen gemacht – also das genaue Gegenteil von deutscher Stangenware –, das in der jeweiligen Nische dann auch wirklich durchschlägt. Und klar, weg von den Krimis!

Tatort-Fans äußern gelegentlich, die Storys würden immer schlechter und seien immer weniger durchdacht. Ist der Eindruck richtig oder liegt es vielmehr daran, dass aufgrund der Gewöhnung an ein bestimmtes Qualitätslevel die Ansprüche so gestiegen sind?

Was funk im Bereich der Plattforminnovation leistet, hat der Tatort im Hinblick auf die Erneuerung einer linearen Fernsehmarke geschafft. Es ist doch verblüffend, wie offen und wandlungsfähig die olle Krimireihe in den letzten Jahren geworden ist. Klar kann nicht jeder Film zu 100 % gelungen sein, aber bei der Experimentierfreude, die da gerade vorherrscht – alle Achtung.

Eine Möglichkeit, die Mediensysteme miteinander zu verbinden, ist das transmediale Erzählen. Die Idee ist, eine Story in unterschiedlichen Schwerpunkten und Variationen sowohl als Buch, als Kinofilm, als Serie und auch in der Interaktion mit dem Publikum über soziale Netzwerke zu verbreiten.

Das funktioniert im Großen wie im Kleinen. Bei Transmedia denkt man vielleicht zuerst an Star Wars, Disney und Marvel, aber Shows wie GNTM oder The Voice sind nicht weniger transmedial. Auf einer Vielzahl von Plattformen werden unterschiedlichste Inhalte und Erlebnisse geboten, die sich gegenseitig ergänzen und verstärken – und darüber hinaus die Geschäftsmodelle der Anbieter erweitern. Es braucht große Flaggschiffe und eine hohe Markenbekanntheit, damit das funktioniert. Aber auch im nicht kommerziellen Bereich können transmediale Erzählansätze helfen, breitere Zielgruppen zu erschließen und Themen im gesellschaftlichen Diskurs zu platzieren. Denken Sie an #ungleichland vom WDR, da spielen TV, Online und Social wunderbar zusammen, um das Thema „soziale Gerechtigkeit“ äußerst wirksam zu vermitteln.

Können Sie ein paar markante Beispiele nennen, in denen transmediales Erzählen gut funktioniert hat und erfolgreich war? Und wenn ja, was können wir daraus lernen? Lässt sich ein solcher Erfolg, vorausgesetzt, dass wir die Systematik erforschen und richtig anwenden, beliebig oft wiederholen oder gibt es hier Ermüdungsfaktoren?

Aus den vorgenannten Beispielen – GNTM, The Voice, #ungleichland – kann man lernen, dass man auf jeden Fall ein starkes, emotionales Thema braucht. Ein Reichweitemedium, in der Regel das Fernsehen, muss als Zugpferd dienen. Wie man ein Format danach weiter ausdifferenziert – das ist von vielen verschiedenen Faktoren abhängig, da gibt es keine Pauschallösungen. Das Überangebot an Inhalten, der Druck auf die Mediennutzer ist in den letzten Jahren noch weiter gestiegen. Von daher würde ich empfehlen: lieber wenige Plattformen bespielen, dafür aber mit dem richtigen Content.

Ein Vorteil für die Produzenten besteht z.B. darin, dass sie vom Publikum kostenlose Informationen darüber bekommen, wie alte und neue Figuren oder Wendungen in den Geschichten gut oder schlecht ankommen, vielleicht entstehen sogar durch das Publikum neue Ideen.

Nutzerfeedback hat schon Dickens geholfen, die Handlung seiner Fortsetzungsromane weiterzuspinnen. Es sollte meiner Meinung nach nicht um ein billiges, zuckerbergsches Aushorchen, sondern um ein Geben und Nehmen zwischen Erzählern und Publikum gehen. Nutzerdialog und Fankultur können viel dazu beitragen, nachhaltige Kundenbeziehungen aufzubauen und relevante Medienangebote zu gestalten.

Was ist aus Ihrer Sicht der Inhalt der Zukunft? Kann man den Erfolg eines solchen transmedialen Objekts tatsächlich planen, und wenn ja, was gehört dazu? Liegt es an der Story oder an den Charakteren?

Die Medien der Zukunft werden vor allem smart sein. Sie passen sich an uns und an den Kontext unserer Mediennutzung an. Maschinelles Lernen wird eine prägende Rolle dabei spielen, sowohl bei der Analyse von Nutzerdaten als auch bei der Automatisierung von audiovisuellen Produktionsprozessen. Im Klartext: Jeder Bürger dürfte künftig das Medienerlebnis bekommen, das er oder sie gerade braucht. Die Übergänge zwischen Mediengattungen und Plattformen werden dabei so fließend sein, dass man die Transmedialität einer Erzählwelt gar nicht mehr bewusst mitbekommt …

Kommen wir abschließend noch einmal zurück auf das Fernsehen: Gegenüber dem Internet eignet sich das Fernsehen sehr viel besser für Liveevents, z.B. Fußball, aber auch für Telefonbeteiligung des Publikums – das ist im Internet sehr viel schwieriger. Braucht das Fernsehen vielleicht ein paar Ideen für neue Shows?

Sicherlich. Stillstand wäre der Tod. Ich finde immer bemerkenswert, dass jedes Medium seine eigenen Formen hervorbringt – wie das Fernsehen die „Show“. Mir kommen solche Formate mittlerweile wie Relikte aus längst verflogenen Zeiten vor. Echtzeit und große gemeinschaftliche Erlebnisse – das sind tatsächlich noch Stärken, auf die das Fernsehen weiterhin bauen kann. Die Frage ist nur, wie lange noch!

Egbert van Wyngaarden ist Professor für Drehbuch und Kreatives Schreiben im Studiengang „Film und Fernsehen“ an der Hochschule Macromedia in München.

Prof. Joachim von Gottberg ist Chefredakteur der tv diskurs.