„Alles so schön bunt hier“?

Diversität in der deutschen Fernsehwerbung – ein Zeitvergleich von 2003 zu 2021

Luisa Liebau, Lorena Schierer, Patrick Rössler

Diversität ist spätestens seit der förmlichen Einführung des dritten Geschlechts (2018) oder der gleichgeschlechtlichen Ehe (2017) in aller Munde. Als sozial konstruiertes Phänomen lässt sie sich anhand verschiedener Dimensionen bestimmen – darunter neben dem Geschlecht und der sexuellen Orientierung beispielsweise für Religion, körperliche oder geistige Beeinträchtigung oder für einen Migrationshintergrund. Diese Studie untersucht erstmals alle relevanten Aspekte der Diversität in der deutschen Fernsehwerbung, die als kommunikatives Instrument der Wirtschaft oft den aktuellen Zeitgeist aufgreift. Ein Zeitvergleich zwischen 2003 und 2021 erlaubt, langfristige Veränderungen in der Darstellung von Diversitätsdimensionen bei Akteur*innen festzustellen. Die Ergebnisse zeigten einerseits – entgegen unseren Erwartungen – ein noch geringes Niveau vieler Diversitätsmerkmale bei Werbepersonen, andererseits aber doch einige bemerkenswerte Entwicklungen in den letzten beiden Jahrzehnten.

Printausgabe tv diskurs: 25. Jg., 4/2021 (Ausgabe 98), S. 66-71

Vollständiger Beitrag als:

 

Als Nina Hagen 1978 ihre TV-Glotzerin über die bunte Welt des Westfernsehens staunen ließ, spielte sie noch eher auf die Ausstrahlung in Farbe an und weniger auf die inhaltliche Vielfalt, wie sie sich heute oft im Symbol der Regenbogenflagge ausdrückt.1 40 Jahre später hat sich die Optik verändert: Germany’s Next Topmodel, Prince Charming, Queer Eye oder auch RuPaul’s Drag Race – Diversität scheint bei der Rekrutierung des Personals für Unterhaltungsformate zu einem zentralen Prinzip geworden zu sein. Daneben befeuern in den Nachrichtenprogrammen globale Bewegungen wie Black Lives Matter oder #MeToo einen Gleichstellungsdiskurs, auf den die Politik mit Maßnahmen wie etwa der Einführung der „Ehe für alle“ (2017) oder des „diversen“ Geschlechts (2018) reagierte. Doch wie verhält es sich mit der Diversität in der (Fernseh-) ­Werbung – jenem „paid content“, über dessen Gestaltung keine Journalisten oder Drehbuchautoren entscheiden, sondern die Marketingspezialist:innen in Unternehmen?

Absatzförderung durch Bewegtbilder ist in der Medienlandschaft des 21. Jahrhunderts auf allen Plattformen omnipräsent und durchdringt so nach wie vor unseren Alltag als Ausdruck des Zeitgeistes. Auch wenn die Metapher von der Werbung als „Spiegel der Gesellschaft“ durchaus umstritten ist (Schnierer 1999), greifen ihre Macher:innen häufig auf sozial relevante Motive zurück, um bewusst oder unbewusst eine Einstellungs- bzw. Verhaltensänderung bei Konsument:innen zu erzielen. Damit stellt sich die Frage, ob sich Diversität als zunehmend wichtigerer Aspekt unseres gesellschaftlichen Diskurses auch in einer veränderten Gestaltung der deutschen Fernsehwerbung niederschlägt, die als Werbeträger mit Nettoeinnahmen von über 5 Mrd. Euro im Jahr 2019 (Krupp 2021, S. 86) noch immer als ein maßgeblicher Branchenakteur gilt. Als reichweitenstarkes Massenmedium durchdringt das Fernsehen nach wie vor weite Teile der Gesellschaft, durch seine lineare Ausstrahlung ebenso wie durch die Abrufangebote der Streamingplattformen, die häufig auch mit Spot-Schaltungen durchzogen sind.
 

RuPaul’s Drag Race (2021)



Der reflexiven Diversitätsforschung (Bührmann 2020) zufolge wird Diversität als soziales Phänomen von der Gesellschaft konstruiert, steht mit ihr in einer Wechselbeziehung und ist in ihrer Gebundenheit an Ort und Zeit einem stetigen Wandel unterworfen. Diese Eigenschaften machen Diversität zu einem komplexen und schwer greifbaren Phänomen, das die Forschung in unterschiedliche Dimensionen gliedert, die jeweils beobachtbar und empirisch messbar sind (vgl. für den deutschsprachigen Raum z.B. Krell/Sieben 2011). Im Einzelnen handelt es sich hier zentral um Geschlecht, sexuelle Orientierung und Ethnizität; daneben öfter auch um Religion, Alter, Status bzw. Rolle und mentale/physische Einschränkungen. Eine besondere Herausforderung für die Operationalisierung in Studien ergibt sich dabei aus der Notwendigkeit, für die Kategorisierung sensible Eingrenzungen vornehmen zu müssen, in denen gesellschaftliche Stereotypen zwar berücksichtigt, jedoch nicht weiter verfestigt werden.

In den vergangenen Jahren wurden bereits einzelne Diversitätsdimensionen in Medienformaten untersucht, beispielsweise von Elizabeth Prommer und ihrem Rostocker Team in der Studie Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland. Sie beschrieb die Darstellungen von Männern und Frauen in fiktionalen Angeboten – im Hinblick auf soziale Rollen und die Kontexte, in denen sie gezeigt werden (Prommer/Linke 2017). Außerdem wurde analysiert, wie häufig die Geschlechter jeweils auftreten, wie alt die Akteur:innen sind und ob sie einen Migrationshintergrund aufweisen. Dabei ergab sich nicht die für unsere Gesellschaft typische, annähernde Gleichverteilung der Geschlechter – Frauen waren in den untersuchten Inhalten vielmehr unterrepräsentiert.

Die vorliegende Studie vervollständigt dieses Bild durch den Blick auf die Fernsehwerbung – ein in diesem Kontext bislang wenig beachtetes Genre – und die Erhebung nicht nur einzelner, sondern eines breiten Spektrums an Dimensionen. Da diese (ebenso wie Diversität selbst) zeitgebunden zu betrachten sind, sollte der Vergleich zur Situation Anfang der 2000er-Jahre einen möglichen Wandel in der Repräsentation von Diversitätsmerkmalen in der deutschen TV-Werbung beleuchten. Die Befunde wurden anschließend durch die fallbeispielhafte Betrachtung einzelner Spots illustriert und anhand von Interviews mit Expert:innen aus werbetreibenden Unternehmen, Casting- und Werbeagenturen kontextualisiert.
 

Zur Methodik

Im Mittelpunkt des an der Universität Erfurt im Frühjahr 2021 durchgeführten Forschungsprojekts2 stand eine quantitative Inhaltsanalyse, die insgesamt 1.011 deutsche Fernsehwerbespots aus den Jahren 2003 (500) und 2021 (511) anhand verschiedener Kategorien zu den einzelnen Diversitätsdimensionen codierte. Grundlage der Erhebung waren archivierte Fernsehaufnahmen der vier reichweitenstärksten Privatsender (RTL, SAT.1, ProSieben, VOX) und des öffentlich-rechtlichen ARD-Programms über einen Zeitraum von jeweils drei Monaten (Januar bis März).3 Nach einer systematischen Stichprobenziehung wurden insgesamt 150 Stunden TV-Material gesichtet und in den angetroffenen üblichen Scharnier- oder Unterbrecher-Werbeblöcken alle klassischen Spots identifiziert. Nicht berücksichtigt sind damit alle Sonderwerbeformen wie z.B. Split Screens, Programmtrailer oder Sponsorenhinweise, ebenso wie Teleshopping-Angebote oder Werbung im redaktionellen Umfeld (Dauerwerbesendungen). Alle Befunde beziehen sich deswegen lediglich auf die typische Spot-Werbung in ihrer Schnittfassung für die Ausstrahlung im Fernsehen (Dauer ca. 30 Sekunden).4

Neben dem jeweiligen Spot verkörpern deren Hauptdarsteller:innen (n = 2.093) die zentrale Analyseeinheit der Erhebung – in diesen Charakteren manifestieren sich schließlich die Diversitätsmerkmale. Insgesamt wurden acht Dimensionen untersucht, die sich an den Überlegungen von Krell/Sieben (2011) orientieren:

  • Hinsichtlich des Geschlechts der Werbeakteur:innen wurde neben der binären Unterscheidung in „männlich“ und „weiblich“ auch das 2018 offiziell eingeführte Geschlecht „divers“ herangezogen.
  • Zur Einteilung der sexuellen Orientierung wurden die drei am häufigsten geäußerten Orientierungen (Hetero-, Homo- und Bisexualität) erfasst und mit aktuellen Umfragedaten abgeglichen.
  • Die Dimension der Ethnizität wurde anhand des Merkmals „ethnischer Hintergrund“ (u.a. „weiß/kaukasisch“, „schwarz/afrikanisch“, „arabisch“; zur Einteilung vgl. Office for National Statistics 2016) sowie durch die Hautfarbe der Akteur:innen („hellere“ und „dunklere Hautfarbe“, Einteilung nach Hautfarbenskala, siehe von Luschan [1922]) und bei expliziter verbaler Nennung eines Migrationshintergrundes erfasst.
  • Daneben wurden die fünf am weitesten verbreiteten Weltreligionen (Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Judentum) anhand religiöser Bekleidung, von Symbolen oder glaubensbezogenem Verhalten in den Spots festgehalten.
  • Hinsichtlich des Alters wurden sieben in der Marktforschung übliche Kategorien (vom „Kleinkind“ bis zum „Rentner“) auf die Werbecharaktere angewandt (Statista Research Department 2020).
  • Status und Rolle der Akteur:innen wurden vor allem intersektional (d. h. dimensionsüberschneidend) betrachtet, beispielsweise durch die Funktion und das Verhalten der jeweiligen Person oder das Zusammenspiel aus Geschlecht und Rolle (z.B. Hausfrau/Hausmann).
  • Wenn eine Behinderung oder schwerwiegende Krankheiten sichtbar gemacht wurden, konnte dies in der Dimension „mentale und physische Einschränkungen“ erfasst werden.


Zusätzlich zu den bei Krell/Sieben (2011) berücksichtigten Dimensionen wurden in einem explorativen Zugang auch Aspekte des Aussehens erfasst, das im 21. Jahrhundert zu einem wichtigen Bestandteil der Selbstpräsentation eines Menschen geworden ist und – im Gegensatz zu den meisten übrigen Dimensionen – nahezu beliebig verändert und gelebt werden kann. Dazu gehörten neben Kleidung und Statur auch Frisuren und weitere äußerliche Auffälligkeiten wie Tattoos, Narben oder Sommersprossen.

Die einzelnen Indikatoren wurden nur dann codiert, wenn sie der Darstellung in Text und Bild eindeutig zu entnehmen waren; also z.B. unzweifelhaft aufgrund ihrer Aussagen auf die Religionszugehörigkeit einer Akteurin geschlossen werden konnte oder das Verhaltensmuster eines Akteurs klar seine sexuelle Orientierung zum Ausdruck brachte (etwa durch gezielte Intimität). Da Werbung im vorliegenden Kontext als Resonanzkörper gesellschaftlicher Tendenzen aufgefasst wird, bilden Strukturdaten zur deutschen Bevölkerung einen wichtigen Referenzpunkt für die Interpretation der Ergebnisse.
 

Ist die bunte Werbewelt auch divers?

Der Blick auf das Personal in den aktuellen Werbespots von 2021 liefert zunächst einen ernüchternden Befund: Entgegen der – möglicherweise selektiven – Wahrnehmung aufgrund einzelner Ausnahmespots tauchen viele der landläufigen Merkmale für Diversität in der systematischen Erhebung nur selten auf. Vertreter:innen einer nicht binären Geschlechterrolle, mit einer geistigen oder körperlichen Einschränkung oder einer nicht christlichen Religionszugehörigkeit kennzeichnen zwei Promille und weniger des erhobenen Werbepersonals. Auch Menschen mit einer nicht heteronormativen sexuellen Orientierung (5,8 %), mit einer nicht im weiteren Sinne weißen Hautfarbe (11,6 %) oder einer für unsere Region nicht typisch kaukasischen Ethnizität (28,3 %) waren eher ausnahmsweise anzutreffen. Beispielsweise war das „diverse“ Geschlecht, Ende 2018 offiziell eingeführt, in der Werbung kaum erkennbar vertreten, was angesichts einer vermutlich hohen Dunkelziffer sicher nicht als repräsentativ für den deutschen Bevölkerungsquerschnitt gelten kann.

Auch wenn verlässliche Zahlen zum Anteil solcher Merkmale an der Gesamtbevölkerung in Deutschland oft nicht vorliegen und man hier auf Schätzungen von Betroffenenvereinigungen angewiesen ist, so lässt sich insgesamt doch von einer Unterrepräsentation diverser Charaktere im TV-Werbekosmos ausgehen. Mit diesen Befunden konfrontiert, bestätigte uns der Marketingdirektor eines internationalen Automobilherstellers, dass Diversität meist nur dann in einem Werbespot auftritt, wenn ein Unternehmen entscheidet, dass das Image im Fokus der Kampagne steht; geht es hingegen im Werbespot hauptsächlich um das Produkt und dessen Nutzen, kommen Akteur:innen meist zu kurz. Zumindest in der klassischen Produktwerbung dominiert immer noch eine klare Zielgruppenorientierung, und solange sich die beworbene Ware nicht explizit an diverse Personenkreise richtet, werden sie auch nicht verstärkt als Konsument:innen in den Spots abgebildet.

Insgesamt bestätigten unsere Expert:innen allerdings auch, dass Diversität als Element in der Fernsehwerbung primär eingesetzt wird, um die beabsichtigte Absatzförderung durch Imagepflege zu erreichen, d. h. durch die zunehmende Darstellung von Vielfalt zu vermitteln, dass sich das jeweilige Unternehmen bei einem zentralen gesellschaftlichen Diskurs auf der Höhe der Zeit befindet. Deutlich wird dies im Vergleich der Daten aus den Jahren 2003 und 2021, die eine Zeitspanne von knapp 20 Jahren (und damit quasi eine ganze Generation) überbrücken. Hier waren in vier Aspekten – „Geschlecht“, „Ethnizität“, „Status bzw. Rolle“ und „Aussehen“ – signifikante Veränderungen im Zeitvergleich zu verzeichnen, weshalb wir sie auch als „Trenddimensionen“ bezeichnen.

So lebten in beiden Jahren mehr Frauen als Männer in Deutschland; trotzdem waren Letztere 2003 noch überrepräsentiert, während das Vorkommen von Frauen in der TV-Werbung 2021 dann dem in der Bevölkerung nahekommt – ein Trend, der sich auch nach Kontrolle der beworbenen Produktgattungen bestätigt. Folgt man dem intersektionalen Ansatz in der Diversitätsforschung, der die wechselseitige Abhängigkeit verschiedener Diversitätsmerkmale betont (Baer u.a. 2010), so zeigt sich, dass in 2021 sogar mehr weibliche als männliche Expert:innen in der Werbung auftreten (51 versus 47 %) und weniger Frauen in der Rolle der Hausfrau gezeigt werden; hier kann gegenwärtig sogar eine annähernde Gleichverteilung von Hausfrauen (50 %) und Hausmännern (50 %) verzeichnet werden (siehe Abb. 1). Beide Befunde könnten durch Debatten wie beispielsweise um die Frauenquote in Unternehmen oder die zunehmende Nutzung der Elternzeit bei Vätern bedingt sein. Zudem handelt es sich bei dem Geschlecht seit jeher um einen zentralen Gegenstand des Diversity Managements, weshalb die Leiterin einer Castingagentur im Interview bestätigte, dass sie selbst in über 25 Jahren Berufserfahrung einen deutlichen Anstieg von Anfragen nach Darstellerinnen beobachtete, die Frauen in wichtigen Rollen (wie der einer Expertin) verkörpern sollten.
 


Ethnizität ist ebenfalls eine zentrale Dimension des Diversity Managements, weshalb die Hautfarbe der Akteur:innen anhand der Skala nach Felix von Luschan (1922) erfasst wurde. Obwohl Werbepersonen mit dunklerer Hautfarbe selten vorkommen, konnte auch hier im Dekadenvergleich ein Anstieg um fast 10 % dokumentiert werden. Bei dem Merkmal „ethnischer Hintergrund“ verhält es sich ähnlich, denn der Anteil an anderen Ethnien ist zulasten von „kaukasisch“ anmutenden Menschen angestiegen (siehe Abb. 2), am stärksten in der schwarzafrikanischen Ethnie. Auch unsere Expert:innen bestätigten, dass derzeit vermehrt Personal aus dieser Gruppe für Werbespots nachgefragt wird. Dies stützt die Annahme, dass sich hier die gesellschaftliche Dynamik niederschlägt, die aus den rassistischen Vorkommnissen (wie etwa dem Tod von George Floyd) oder der Bewegung Black Lives Matter resultiert. Einer unserer Interviewpartner bekräftigte, dass die Vielfalt der in Werbespots gezeigten Ethnien von solchen Diskursen abhänge, weil Unternehmen mittlerweile explizit gesellschaftlich relevante Themen und Bewegungen aufgreifen wollten, um selbst Haltung zu zeigen und Werte zu vermitteln.
 


Auch innerhalb der (nicht leicht zu operationalisierenden) Dimension des Aussehens hat sich die Diversität in einigen Teilaspekten verändert – am augenfälligsten beim Vorkommen von Bärten, welches sich in den letzten 18 Jahren fast versechsfacht hat (von 10,8 % auf 60,7 % bei den Männern). Außerdem tragen die Akteur:innen unabhängig von ihrem Geschlecht heute weniger Kurzhaarfrisuren als noch 2003. Nur leichte Veränderungen waren in den Dimensionen „Alter“ und „sexuelle Orientierungen“ zu verzeichnen: So wurden im Jahr 2021 mehr Best Ager und Rentner gezeigt (27,2 %), ein Großteil von ihnen freilich in den Spots der Branchen „Gesundheit“ und „Pharmazie“. Das Vorkommen von klar erkennbar „queeren“ Sexualitäten wie Homo- oder Bisexualität ist ebenfalls angestiegen (auf 5,8 % der Werbepersonen im Jahr 2021) und entspricht in etwa den geschätzten Bevölkerungsanteilen, wenngleich auch hier von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen ist. Lediglich in den Dimensionen „Religion“ und „mentale/physische Einschränkungen“ konnten keine signifikanten Veränderungen in der Repräsentation seit 2003 verzeichnet werden. Glaubensfragen gelten, so unsere Gesprächspartner, oft als sensibel oder konflikthaltig und werden deshalb in der Werbung genauso wenig angesprochen wie körperliche und geistige Beeinträchtigungen, deren Visualisierung nur ausnahmsweise als image- oder verkaufsfördernd bewertet wird.
 

Amazon Alexa: Ode an die deutsche Sprache (2020)



Fallbeispiele für Werbespots, die Diversität besonders ausgeprägt und auf gleich einer Vielzahl von Dimensionen vermitteln, lassen sich gegenwärtig leicht finden; so etwa die Kampagnen von Amazon (Ode an die deutsche Sprache) bzw. von Zalando (Your values. Here to stay) aus den Jahren 2020 und 2021 (siehe Clips). Beide belegen, wie einfach Diversität quasi selbstverständlich in Spots eingebaut und gleichzeitig eine Message vermittelt werden kann. Die Akteur:innen spiegeln dabei nahezu alle hier untersuchten Dimensionen der Diversität wider und verdeutlichen gleichzeitig, für welche Werte und Überzeugungen das jeweilige Unternehmen steht: Von Jung bis Alt, über nonbinäre Geschlechter und sexuelle Orientierungen bis hin zu unterschiedlichen Ethnizitäten und Rollenverteilungen – alles ist in diesen Spots vertreten. Themen wie Inklusion, Selbstakzeptanz, Body Positivity und Gender Fluidity werden aufgegriffen und erhalten durch die Spots zusätzliche Aufmerksamkeit.

Diese Positivbeispiele unter den untersuchten Spots verdeutlichen, dass und wie es machbar ist, Diversität authentisch zu integrieren – auch wenn sich dies in den systematischen Untersuchungen zahlenmäßig (noch) kaum niederschlägt und es derzeit oft auf Werbetreibende zurückgeht, die Spots für einen internationalen, d. h. ethnisch diversen Markt produzieren und ihre Spots global einsetzen.
 

Zalando: Your values. Here to stay (Spring 2021)



Oberstes Ziel der Fernsehwerbung sind Absatzförderung und Imagepflege von Unternehmen und Organisationen, die dafür einen erheblichen finanziellen Aufwand tragen – eine Verpflichtung, dass Werbung die realen Verhältnisse in einer Gesellschaft repräsentieren muss, besteht allerdings nicht. Im Gegenteil wird seit jeher davon ausgegangen, dass es zur Erreichung der Werbeziele förderlicher ist, wenn man die Konsument:innen in eine ideale und harmonische Scheinwelt entführt, in der das beworbene Produkt zu einer optimalen Bedürfnisbefriedigung beiträgt (z.B. Schnierer 1999). Im Umkehrschluss lässt sich allerdings fragen, ob aus heutiger Sicht nicht gerade eine – im Sinne von Diversität – „bunte“ Werbeumgebung für viele, zumal jüngere Publika eben jene Idealwelt verkörpern würde, die sich dann auch in den Sets der Fernsehwerbung niederschlagen müsste. Diversität, so auch die Erkenntnisse aus unseren Gesprächen mit den Branchenpraktiker:innen, wäre dann als ein ganzheitlicher Fokus zu betrachten, auf den der gesamte Werbespot ausgerichtet sein sollte. Dabei genügt es häufig schon, mehr Akteur:innen mit diversen Merkmalen in die betreffenden Storylines zu integrieren, um die Gesellschaft vielfältig abzubilden.

In dieser Hinsicht besteht augenscheinlich Handlungsbedarf für die werbetreibende Wirtschaft. Denn auch, wenn sich unseren Daten zufolge das Vorkommen von Diversität in Werbung im Zeitvergleich erhöht hat, kann (noch) lange nicht von der Werbewelt als einem repräsentativen Abbild der Gesellschaft gesprochen werden. Will Werbung den Wunsch des Zeitgeistes nach Diversität bedienen, dann führt an einer authentischen Umsetzung dieser wichtigen Thematik kein Weg vorbei. Oder um es mit den Worten des „Pinkstinks“-Autors Nils Pickert (2020) zu sagen:

Es geht nicht darum, Minderheiten in einer Werbung erscheinen zu lassen, um sich hinterher dafür zu feiern. Es geht darum, dass Diversität in der Werbung selbstverständlich wird.“

 
Anmerkungen:

1) Den Bezug zwischen dem Diversitätsdiskurs und Nina Hagens Zeile aus dem Lied TV-Glotzer stellte zuvor bereits Gisela Romain von der FU Berlin in einem Blogbeitrag vom 30. April 2020 her, ohne dies allerdings konkret auf Fernsehinhalte zu beziehen.

2) Das Projekt wurde von Selina Kindler, Luisa Liebau, Annabell Marker, Lukas Müller, Celina Prignitz und Lorena Schierer unter der Betreuung von Prof. Dr. Patrick Rössler durchgeführt. Die Studie wurde von der WOLFFBERG Management Communication GmbH als Projektpartner unterstützt.

3) Die Werbung im Jahr 2021 wurde innerhalb des regulären Fernsehangebots aufgezeichnet; dem Sample aus dem Jahr 2003 lagen 24-stündige Stichtagsaufnahmen aus einer früheren Programmstudie (Rössler u.a. 2006) zugrunde.

4) Nach ausführlichen Codierschulungen wurde unter den Codierern in zwei Reliabilitätstests ein mittlerer Übereinstimmungswert von .92 (nach Holsti) erreicht. Dabei wurde für formale Kategorien eine Reliabilität von .99 ermittelt, bei den inhaltlichen Kategorien schwankte der Wert zwischen .53 („Atmosphäre“) und .99 („Geschlecht“). In die Ergebnisdarstellung flossen nur Kategorien ein, bei denen mindestens ein Reliabilitätswert von .80 vorlag.


Literatur:

Baer, S./Bittner, M./Göttsche, A. L.: Mehrdimensionale Diskriminierung – Begriffe, Theorien und juristische Analyse. Berlin 2010 (herausgegeben von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes)

Bührmann, A. D.: Reflexive Diversitätsforschung. Eine Einführung anhand eines Fallbeispiels. Leverkusen 2020

Krell, G./Sieben, B.: Diversity Management: Chancengleichheit für alle und auch als Wettbewerbsvorteil. In: G. Krell/R. Ortlieb/B. Sieben (Hrsg.): Chancengleichheit durch Personalpolitik. Gleichstellung von Frauen und Männern in Unternehmen und Verwaltungen. Rechtliche Regelungen – Problemanalysen – Lösungen. Wiesbaden 2011

Krupp, M. (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit der ARD-Werbung: Media Perspektiven. Basisdaten. Daten zur Mediensituation in Deutschland 2020. Frankfurt am Main 2021, S. 155 – 174. Abrufbar unter: https://www.ard-werbung.de (letzter Zugriff: 18.08.2021)

Luschan, F. von: Völker, Rassen, Sprachen. Berlin 1922

Office for National Statistics: Ethnic group, national identity and religion. Measuring equality: A guide for the collection and classification of ethnic groups, national identity and religion data in the UK. London 2016. Abrufbar unter: https://www.ons.gov.uk (letzter Zugriff: 26.08.2021)

Pickert, N./Tran, M. T.: Diversität in der Werbung gerne – aber bitte ernst gemeint!. In: Deutschlandfunk Nova, 10.07.2020. Abrufbar unter: https://www.deutschlandfunknova.de (letzter Zugriff: 02.06.2021)

Prommer, E./Linke, C.: Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in Film und Fernsehen in Deutschland. Rostock 2017

Rössler, P./Lücke, S./Linzmaier, V./Steinhilper, L. K./Willhöft, C.: Ernährung im Fernsehen. Darstellung und Wirkung: eine empirische Studie. München 2006

Romain, G.: „Ist alles so schön bunt hier!“. Blogbeitrag FU Berlin, 30.04.2020. Abrufbar unter: https://blogs.fu-berlin.de (letzter Zugriff: 18.08.2021)

Schnierer, T.: Soziologie der Werbung. Ein Überblick zum Forschungsstand einschließlich zentraler Aspekte der Werbepsychologie. Wiesbaden 1999

Statista Research Department: Bevölkerung Deutschlands nach relevanten Altersgruppen 2020, 08.09.2021. Abrufbar unter: https://de.statista.com (letzter Zugriff: 26.08.2021)

Luisa Liebau studierte Kommunikationswissenschaft und Anglistik/Amerikanistik an der Universität Erfurt. Derzeit absolviert sie ihren Master im Bereich „Medienmanagement“ an der Bauhaus-­Universität Weimar.

Lorena Schierer ist Absolventin der Universität Erfurt im Studienfach „Kommunikationswissenschaft und Management“ und ausgebildete Medienkauffrau.

Dr. Patrick Rössler ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Empirische Kommunikationsforschung/Methoden“ an der Universität Erfurt.